7. November 2016

Dann kannste über Skanste zum Friedhof

Mit Planungen zum Öffentlichen Nahverkehr in Riga müssen Bürgermeister vorsichtig sein - davon konnte schon Alfreds Rubiks erzählen, Rigas Bürgermeister von 1984 bis 1990. Rubiks plante Riga mit einem Netz von U-Bahnen auszustatten - was eine riesige Protestbewegung dagegen auf den Plan rief, trotz Schikanen und Einschränkungen des damaligen Sowjetsystems. Denkmalschützer sahen schon die Mauern Alt-Rigas einstürzen, falls eine Untergrundbahn gebaut werde, die lettische Umweltschutzbewegung feierte damals Höhepunkt auf Höhepunkt: die Sowjetfunktionäre mussten aufgeben oder wurden abgesetzt, Lettland erkämpfte seine Unabhängigkeit.

Solche Zeiten möchten einige der wenigen heute noch verbliebenen Umweltaktivisten gerne wieder aufleben lassen. Und auch heute ist wieder ein Thema des öffentlichen Nahverkehrs gefunden: die Planungen der Stadt zu einer neuen Straßenbahnlinie. Das Projekt wiederspreche "den ethischen Normen, so wie sie die Letten verstehen", meint Elita Kalniņa, Vizepräsidentin des "Vides Aizsardzības kluba VAK" (Umweltschutzklub), eine Aktivistin auch noch aus Rubiks Tagen.

Am 11.Oktober beschloss eine Mehrheit im Rigaer Stadtrat mit einer Mehrheit von 34 gegen 15 Stimmen ein Projektvorhaben zur Schaffung einer neuen Straßenbahnlinie, nach dem zu durchquerenden Ortsteil "Skanstes Linie" genannt (lsm) - dem ersten Erweiterungsvorhaben für die Straßenbahn seit 1984. Durchführen soll das Projekt "Rīgas satiksme”, das städtische Verkehrsunternehmen. Für die 3,6km langen Strecke, die zu bauen etwa 100 Millionen Euro kosten soll, sollen auch 12 neue Niederflurstraßenbahnen angeschafft werden. Einziges Manko: es fehlt bisher die detaillierte Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, also der Öffentlichkeit. Und: notwendig wird auch eine Verbreiterung der Senču iela um etwa 10 Meter. Symbolischer könnte der Name dieser Straße kaum sein: die "Straße der Vorfahren" führt nämlich durch das Areal des "Großen Friedhofs", der Hauptumstand, der Gegner auf den Plan ruft.

Schnell hatten sich im Internet die "Lielo-Kapi-draugi" (Freunde des Großen Friedhofs) zusammengeschlossen (Facebook), ein Protestschreiben an Regierung und Präsident wurden aufgesetzt, auf dem Abstimmungsportal "Mana Balss" (Meine Stimme) fand dieser Brief über 1600 Unterstützer gegen die "Friedhofs-Straßenbahn". Die Gegner zweifeln dabei die Behauptung der Planer an, die Totenruhe keines einzigen Grabes stören zu wollen, und bezeichnen das Gebiet als Ort an dem "viele Helden und große Geister Lettlands" beerdigt seien - also richte sich das Projekt gegen "Lettlands Identität und Geschichte". Am beeindruckendsten aber ist die Unterstützerliste der Gegner: Dainis Īvāns, Ex-Volksfront-Aktivist und Leitfigur der Unabhängigkeitsbewegung, Valters Nollendorfs, Leiter des Lettischen Okkupationsmuseums, weiterhin zahlreiche Schriftsteller, Journalisten, und Denkmalschützer; stolz wird auch die Unterschrift von Werner von Sengbusch vermeldet, als "Ur-Ur-Ur-Enkel eines Rigaer Bürgermeisters" gefeiert. Ja, neue "Atmoda-Identität", danach sehnen sich offenbar viele.

Allerdings muss wohl gesagt werden, dass 1600 Protestunterschriften noch nicht besonders viel sind: auf "Mana balss" bekamen andere Initiativen, wie etwa für kostenloses Mittagessen in Kindergärten, für steuerfreie Renten, die Direktwahl des Präsidenten, oder häufigere technische Überprüfungen bei PKWs jeweils mehr als das sechsfache davon.

Und auch die Straßenbahn-Ausbaufans machen mobil. Der Ortsteil Skanste bekam gleich so etwas wie eine neue "korporative Identität" verpasst: neues Logo, schicke neue Webseite.
Mit eigenen Karten und Zeichnungen versucht man aufzuzeigen, wie wenig die Straßenbahn die lettischen Helden stören wird: George Armitstead, auch ein früherer Bürgermeister, "liegt" noch am nächsten dran: 36,5 Meter. Zu den Gedenkstätten von Krišjānis Valdemārs und Krišjānis Barons seien es aber mehr als 400 Meter Entfernung (siehe Riga.lv). Die Proteste bezeichnen die Befürworter als "lettischen Halloween-Spuk". Bereits 2012 seien die Planungen für das Projekt angelaufen, mit öffentlichen Anhörungen 2013, im Rahmen der Entwicklung der nachhaltigen Strategie "Riga2030". 574 Eingaben habe es damals gegeben, 277 davon seien in die endgültige Planversion aufgenommen worden. 

Rigas "Lieli Kapi" heute: fast wie ein Wald, mit
Spuren und Resten von Gräbern hier und dort
Doch die Diskussion ist noch nicht zu Ende, ob es nun einer weiteren umfangreichen Beteiligung der Öffentlichkeit bedarf oder nicht. Politiker/innen wie Europa-Parlamentarierin Sandra Kalniete versuchen sich inzwischen an die Sache dranzuhängen, um sich auf jeden Fall als "auf der richtigen Seite stehend" vorzuzeigen. Rigas Ratsmehrheit möchte sich 70 Millionen Euro finanzielle Unterstützung aus EU-Fördertöpfen sichern, und die gäbe es angeblich nur, wenn es zügig umgesetzt wird. Nationalkonservative Politiker, wie der Staatssekretär im Umweltministerium Jānis Eglīts fordern ein öffentliches Anhörungsverfahren in dieser Sache. Dem wiederspricht Emīls Jakrins, Vorsitzender des Verkehrsdezernats der Stadt: ein Planungsverfahren für den Stadtteil habe es ja bereits gegeben, und nur für die folgenden Einzelmaßnahmen sei das nicht erneut nötig (lsm). Und inzwischen hat Rigas Bürgermeister Nils Užakovs, ermutlich auch aufgrund der für manche überraschend plötzlich erhöhten Aufmerksamkeit für das Straßenbahnprojekt, einen Ideenwettbewerb zur Entwicklung des "Großen Friedhofs" als denkmalgeschützes Kulturareal ausgerufen; an einem ersten Gespräch zu diesem Thema nahmen teil Kulturminsterin Dace Melbārde, der Sekretär der lettischen ev.-luth. Kirche Romāns Ganiņš, und Juris Dambis, Leiter der staatlichen Inspektion zum Schutz der Kulturdenkmäler.

Weht nun auch in Riga - neben dem heftigen Schneefall, der inzwischen niederging - auch der leichte Hauch des postfaktischen Zeitalters? Manche mögen es so sehen. Es gibt auch kritische Bürgergruppen, die sich um einen Vergleich der Argumente beider Seiten bemühen (siehe "pilsēta cilvēkiem"). Für andere ist es nur einer von vielen Versuchen, dem russischstämmigen Bürgermeister und den ihn stützende Parteien - die im lettischen Parlament Teil der Opposition sind - endlich und endgültig eine schlechte Amtsführung nachweisen zu können: für den 3.Juni 2017 sind die nächsten Stadtratswahlen angesagt.

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