4. Dezember 2016

Ķirsons überwintert

Als im Mai zwei Filialen des lettischen Unternehmers Gunārs Ķirsons in Berlin eröffnet wurden (siehe Blogbeitrag), schauten auch Lettinnen und Letten skeptisch: würde es möglich sein, die Erfolgsgeschichte des lettischen LIDO auch in Deutschland fortzusetzen? Denn der gute Ruf des 65-jährigen Letten, Sohn eines ehemals nach Sibirien Verbannten, hat bereits etwas gelitten: sein Aufstieg wurde durch die Wirtschaftskrise 2009/2010 arg gebremst, er musste Eigentum verkaufen, und manche sahen auch die LIDO-Kette kurz vor der Pleite. 2010 musste die Zahlungsunfähigkeit erklärt werden; der Umsatz sank von 900.000 im Jahr 2011 auf 240.000 Euro 2012 (delfi) - auch die Sanktionen der EU gegen Russland trafen die LIDO-Kette. Erst 2015 galt Ķirsons als wieder einigermaßen stabilisiert, das Unternehmen war jetzt auch bereits an zwei Orten in Tallinn präsent.

Also zumindest ist Stillstand nicht Ķirsons Art: 2014 startete er die Eishockey-Schule "LIDO Latvija", nur sieben Monate (!) nach deren Gründung wurde die Jugendmannschaft "LIDO Latvija" bereits lettischer Meister. Schon seit 2005 bestand der Judo-Klub "Lido". Denn Ķirsons ist auch Sportler: im Sambo, einer dem Judo ähnlichen Kampfsportart, deren Tradionen zu Sowjetzeiten gelegt wurden, ist Ķirsons dreifacher lettischer Meister, da ist fast logisch, dass er auch Träger des schwarzen Gürtels im Judo ist. Auch in der Leichtatlethik übte er sich, im Speerwerfen versuchte er sich zu Zeiten als Jānis Lūsis Vorbild für alle war. Aber als Sportler sah Ķirsons für sich keine Möglichkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: zunächst wurde er Schweinezüchter, dann als Kellner und Barkeeper. Während der Olympischen Spiele, deren Segelwettbewerbe 1980 in Tallinn ausgetragen wurden, soll Ķirsons dort die Gäste mit Cocktails erfreut haben (sporto). Auch in Riga, im damaligen Restaurant "Ščecina" ("Stettin"), arbeitet der umtriebige Lette noch als Barkeeper, und ist besonders stolz auf seine Gin-Tonic-Rezepte (damals das Modegetränk in Riga). Der Versuch des Wechsels zur Kunsthochschule (die Lebensgefährtin war Malerin) scheiterte noch an der Aufnahmeprüfung, aber 1987 eröffnet er in der Lāčplēša ielā in Riga die Bar "LIDO". 1991 wird Ķirsons zum Eigentümer, und kann die heute noch bestehende Kette von Schnellrestaurants eröffnen: deftiges, frisch zubereitetes Essen in leicht folkloristisch angehauchter Atmosphäre - in den 1990igern war LIDO in Riga so beliebt, dass selbst die Konkurrenz von "MacDonalds" oder KFC nicht gefürchtet werden brauchte.

Politikern wie Ex-Premier Valdis Dombrovskis bezeugt Ķirsons heute seine Hochachtung, den Staat ruhig durch die Krise gebracht zu haben (Delfi). Das LIDO-Erfolgsrezept im Heimatland Lettland beruht auch auf der Erkenntnis, dass Lettinnen und Letten durchschnittlich eher konservativ essen, was die Auswahl betrifft: eher traditionelle Gerichte.

Ob das auch fürs deutsche Publikum gilt? Das Konzept der beiden Berliner "Ķirsons" läßt ein wenig darauf hindeuten: Suppe, Hauptgericht, Nachtisch (oder Kuchen). Satt werden soll der Kunde, ohne von allzuviel lettischen Experimenten belästigt zu werden. Aber: viele frische Säfte. 3 Millionen Euro investierte Ķirsons (nach eigenen Angaben) in Berlin (mit Hilfe der DNB-Bank) in 721 qm Restaurantfläche, gestaltet von Tochter Evija Ķirsone. Arbeitsplätze auch für insgesamt 62 Lettinnen und Letten.

Gegenwärtig gleicht zumindest das Lokal nahe der Jannowitzbrücke einer Ruhe-Oase. Draußen tobt der sogenannte "Wintertraum am Alexa", der mit seinen Geisterbahnen, Schreckenskammern und blinkend hupenden Karussels eher einem Alptraum gleicht - jedenfalls für diejenigen, die Weihnachten mit Christi Geburt oder einer Zeit der Besinnlichkeit identifizieren. Draußen haben sogar die Esten sich unter den Trubel gemischt und verteilen im blau-weiß-schwarzen Elchkostüm ihren Wodka. "Aprés Ski Feeling" wird hier beworben, und "Halloween" oder "Chaos Airport" weisen den Weg: in Ruhe einkehren bei Ķirsons. Vielleicht hat es mit dem "Schlachtenlärm" draußen zu tun, wenn auch der Lette sich überraschend einseitig männlich gibt: "der Weg zum Herzen eines Mannes geht durch den Magen", so der neue Werbespruch. Wie, stehen bei Ķirsons etwa nur die Frauen am Herd? Keineswegs, das ist offenbar.
Noch 100 weitere Restaurants möchte Ķirsons in Deutschland eröffnen, so verkündete es die Firma vor der lettischen Presse. Wir warten gespannt - vorerst ist es ein erster Schritt, dass Ķirsons in Berlin überwintert.

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