19. Dezember 2005

Präsidentin, Frau, Europäerin, Persönlichkeit - ein lettischer Gast in Bremen

Es waren festliche Momente im Rathaus der Freien und Hansestadt Bremen, und ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit und Ehrung für lettische Belange: Präsidentin Vaira Vike-Freiberga empfing am 16.12.2005 "im Namen vieler Landsleute", wie sie selbst sagte, den Hannah-Arendt-Preis 2005.
Ralf Fücks (im Bild rechts) und Bremens neuer Bürgermeister Jens Böhrnsen zeigten sich beeindruckt von der Lebensleistung und dem Mut zu entschlossen demokratischem Handeln, für den Vike-Freiberga inzwischen auch international bekannt ist.

"Bisher war der Name Hannah Arendt in Lettland vielleicht nicht so bekannt. Das wird sich, nach dieser Veranstaltung hoffentlich ändern," so Vike-Freiberga selbst. Wie Hannah Arendt hatte auch Vike-Freiberga viele Jahre im politischen Exil leben müssen. Aus der Rahmenveranstaltung, einem zweistündigen Symposium im Bremer "Haus der Wissenschaft" am Nachmittag des gleichen Tages, wurde deutlich, dass sich Vike-Freiberga intensiv mit Leben und Werk verschiedener Denker und Philosophen auseinandergesetzt hat. Aber: "Es ist schon ein wenig paradox, dass ich gerade einen Preis für politisches Denken bekomme", sagte sie auch. "Einen großen Teil meines Lebens habe ich mich der Wissenschaft gewidmet, und nicht der Politik."

Neber der lettischen Präsidentin wirkten so manche anderen blass. Auch Prof. Wolfgang Eichwede, bekannt von seiner Arbeit bei der Bremer Forschungsstelle Osteuropa, ausdrücklich als "Russlandkenner" vorgestellt, brachte ausser allgemeinen abstrakten Theorien zu Europa trotz Nachfrage kein einziges Wort zur lettischen Rolle Lettlands in diesem europäischen Kontext über die Lippen. Europa sei das Europa verschiedener Identitäten - wurde der Präsidentin vorgehalten. Mit der Perspektive der lettischen Identitätsfindung hatten sich die Podiumsteilnehmer sichtbar wenig befasst.

Zwischen den verschiedenen Terminen war kurz Zeit gewesen für einen Besuch im Bremer Roselius Haus. Dort befinden sich seit 1987 Teile des historischen Silberschatzes der "Compagnie der Schwarzen Häupter aus Riga" als Dauerleihgabe. Darauf hingewiesen, dass sich die inzwischen im fortgeschrittenen Alter befindlichen Mitglieder dieser ehemals in Riga ansässigen deutschbaltischen Vereinigung auch heute noch, Jahr für Jahr, treffen und aus dem edlen Geschirr ein Schlückchen trinken, kam nur ein präsidial-höfliches "Ach ja, tatsächlich?" als Antwort. - Weniger höflich war die Reaktion der deutschbaltischen Altherren gewesen, als die Partnerstadt zur Feier des 800-jährigen Geburtstags die 34-teilige Geschirrsammlung für kurze Zeit auch einmal in Riga hatte ausstellen wollen. Ein kathegorisches und scheinbar kompromißloses "Nein" war damals den lettischen Kulturpartnern entgegengedonnert (siehe entsprechende Presseberichte).

Damit verglichen, ging es Frau Präsidentin in Bremen diesmal hervorragend. Im großen Festsaal des Rathauses drängten sich die Gäste, und die Gastgeber hielten kluge Lobreden auf die mutige Frau aus dem baltischen Land. Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, brachte Gedanken aus ostdeutscher Sicht ein, und lobte wie auch Ralf Fücks und Prof. Antonia Grunenberg die politische Weitsicht von Vike-Freiberga, entschlossen und nicht politisch einäugig für politische Selbstbestimmung auch gegenüber imperialen Großmächten zu streiten.

Wie spiegelte sich das Ereignis in der Presse?
Die TAZ nahm Vike-Freiberga als "unerschrockene Zwischenruferin" wahr, und streicht dabei heraus, dass der Pragmatismus, der für ihr Denken und Handeln charakteristisch ist, möglicherweise ja im Exil erworben wurde. Die regionale "Syker Kreiszeitung" stellt Lettlands Zielrichtung in der EU als "Projekt der Freiheit" heraus, und zitiert ansonsten einen Satz zum Haushaltsstreit in der EU: Die Solidarität der Etablierten mit den Neuen schmelze nun wie "Schnee in der Sonne."
In der lettischen Presse stellt DIENA kurz Leben und Werk von Hannah Arendt vor, und zitiert einen Teil der Juryentscheidung, nach der Vike-Freiberga "mutig schwierige Probleme des 20.Jahrhunderts angesprochen" habe. Die LATVIJAS AVIZE druckt sogar in ihrer Ausgabe vom 19.12. eine leicht gekürzte Fassung der Rede Vike-Freibergas vom 16.12. im Bremer Rathaus ab.

Die übrige deutsche Presse greift vorwiegend Vike-Freibergas erneute Bemerkungen zum deutsch-russischen Deal der Ostseepipeline - der Ex-Kanzler Schröder einen so hervorragenden neuen Posten brachte - auf. Auch nach ihrer Einstellung zur neuen deutschen Kanzlerin war Vike-Freiberga in Bremen häufig befragt worden. "Die Neo-Kanzlerin sammelt politischen Ruhm, der Ex-Kanzler verspielt ihn", so schreibt es DIE PRESSE. Was Schröder gemacht habe, widerspreche "allen demokratischen Standards", so zitiert auch N-TV die lettische Präsidentin. Die BERLINER ZEITUNG und der Bremer WESERKURIER warten mit kurzen Exklusivinterviews auf. "Ich war nicht überrascht", so wird Vike-Freiberga in der BERLINER ZEITUNG zitiert, "wenn man unter allen Routen ausgerechnet die mit Abstand teuerste wählt, dann ist das eine politische Entscheidung". - "Wir reden oft über die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik - sei es gegenüber Russland oder Iran. Diese kann nur in einem intensiven Dialog zwischen den EU-Mitgliedern geformt werden."

In der Sonntagsausgabe des WESERKURIER (18.12.) sind dann noch diese überraschend offenen Sätze zu lesen: "Es wird eine sehr viel sympathischere Haltung von Frau Merkel gegenüber den baltischen Staaten geben als unter der Schröder-Regierung. In den ersten Regierungsjahren war Schröder auch sehr freundlich, später aber ist er anders geworden . . . "

(Der Wortlaut der verschiedenen Reden, die Vaira Vike-Freiberga in Bremen aus Anlass der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises gehalten hat, ist übrigens auf den Seiten der Kanzlei der lettischen Präsidentin sowohl in deutscher wie in lettischer Fassung downloadbar.)

18. Dezember 2005

Verfassungsstreit um Gleichgeschlechtliches

Lettland in der Vorweihnachtszeit. Noch sind nicht alle politischen Fragen geklärt. Ein paar Tage - bis zum 20.Dezember - hat Präsidentin Vike-Freiberga noch Zeit, eine vom lettischen Parlament (Saeima) beschlossene Verfassungsänderung durchzusehen und eventuell erneut zur Überarbeitung an das Parlament zurückzuverweisen.

Turbulenzen um die "Homos"
Worum geht es? Wie schon vor einigen Monaten auf dieser Seite geschildert, erschütterte am 23.Juli 2005 eine "Schwulen- und Lesbendemo" die Haupstadt Riga. Skandalös war dabei eigentlich wenig - ähnliche Demonstrationen und Kundgebungen gibt es überall, es waren nur wenige Teilnehmer/innen angesagt. In Ländern wie etwa Polen werden solche Veranstaltungen regelmäßig verboten, in anderen, wie dem Nachbarland Estland, finden sie beinahe ohne öffentliches Aufsehen statt.
Das Thema wurde jedoch zum Zankapfel der lettischen Parteien. Der stellvertretende Bürgermeister Rigas, ein Mitglied der "Pirma Partija" / "Erste Partei" (der sogenannten "Priesterpartei"), trat später zurück, weil seine im Stadtrat mitregierungende Partei die Veranstaltung NICHT verhindern konnte. Ein Priester der anglikanischen Kirche, der sich als homosexuell outete, und der den Veranstaltern einen Gottesdienst in seiner Kirche erlaubt hatte, wurde aus der lettischen evangelischen Kirche entlassen (Meldung der Nachrichtenagentur LETA vom 16.11.05). Und weitere in Führungsämtern der lettischen evangelischen Kirche tätigen Priester scheuten sich weder, der lettischen rechtsradikalen Zeitung DDD ein Interview zu geben, noch dort dann die Isolierung aller Homosexuellen in speziellen Krankenhäusern zu fordern (DIENA vom 8.12.05).

Populistischer Wahlkampf
In Lettland bahnt sich langsam der Parlamentswahlkampf 2006 an. Erstaunlich, wie gewandt sich die politischen Stehaufmännchen in der "Pirma Partija" immer wieder neue Strategien der Macherhaltung ausdenken. Parteichef Slesers, vorwiegend durch Gelder norwegischer Industriekapitäne in Lettland zu Macht und Einfluß gepuscht, wird immer wieder als Möchtegern-Regierungschef gehandelt. Als zuletzt die Umfragewerte dramatisch sanken, zelebrierte man plötzlich eine Vereinigung mit der beinahe in der Versenkung verschwundenen "Latvijas Cels" ("Lettlands Weg" - LC), die in den 90er Jahren vielfach an Regierungen beteiligt, inzwischen aber nicht mehr allein über die 5%-Hürde gekommen war. Einige idealistische LC-Wähler wird es verschreckt haben, mit wem sich da die Parteioberen verständigt haben, aber lettischer Wahlkampf war seit 1991 schon oft eine Inszenierung des Machterhalts alt Bekannter unter scheinbar neuen Vorzeichen.

Unmoralische Priester?
Gibt es Priester, die nicht allen Menschen gleiche Rechte einräumen wollen - obwohl diese doch laut Bibel "vor Gott gleich" gelten sollten? Wenn ja, dann gehen sie wohl in Lettland in die Politik. Die "Pirma Partija" macht mit dem Thema "Rettung der christlichen Ehe" Wahlkampf. Stolz präsentierte man 12.000 Unterschriften für eine im Parlament eingebrachte Verfassungsänderung. Den Eingang von zwei Protestbriefen, einer davon von der lettischen Vereinigung der Schwulen und Lesben ILGA LATVIJA, präsentierte man ebenfalls öffentlich, und erhoffte sich dadurch wohl ebenfalls eher zusätzliche Bestätigung beim eigenen Klientel.

Bisher lautete der Absatz 110 der lettischen Verfassung: "Valsts aizsargā un atbalsta laulību, ģimeni, vecāku un bērna tiesības." (der Staat schützt und unterstützt die Ehe, die Familie, die Eltern und die Rechte der Kinder). Am Donnerstag, den 15.12.2005, wurde dieser Absatz mit 73 von 100 Stimmen vom lettischen Parlament wiefolgt geändert: "Valsts aizsargā un atbalsta laulību - savienību starp vīrieti un sievieti, ģimeni, vecāku un bērnu tiesības." (der Staat schützt und unterstützt die Ehe - die Vereinigung zwischen Mann und Frau -, die Familie, die Eltern und die Rechte der Kinder.)
"Lettland verbietet Homo-Ehe" titelte eilfertig einen Tag später DIE WELT. Streng juristisch stimmt das nicht ganz: gesagt wird nur, dass der Staat etwas anderes als die traditioneller Ehe weder schützt noch unterstützt. Jedoch auch Gegner des Gesetzentwurfs sagen selbst, dass nach Artikel 35.2 des lettischen Zivilrechts gleichgeschlechtliche Ehen auch bisher schon unzulässig sind. Dennoch hat man sich nun in aller Eile zusammengeschlossen, um die lettische Präsidentin zur Ablehnung des Gesetzes zu bewegen: "Gegen Homophobie in Lettland" heisst nun der Slogan dieser Initiative.

Hin und Her im Parlament
Die Tageszeitung DIENA schildert in ihrer Ausgabe am 16.12. die Abstimmungsvorgänge im Parlament anders: "Abgeordnete hatten Angst vor gleichgeschlechtlichen Ehen". Zitiert werden dort auch die Bedenken nicht nur von Staatspräsidentin Vike-Freiberga, sondern auch von Regierungschef Kalvitis, Justizministerin Aboltina und der Vorsitzenden der Menschenrechtskommission des Parlaments, Ingrida Circene. Dennoch wagten es nur sechs der Abgeordneten in der entscheidenden Abstimmung, gegen den Änderungsvorschlag zu stimmen. Darunter habe sich auch der Abgeordnete Andris Kaposts von der "Fraktion der Grünen und Bauern" (ZZS) befunden, der aber später erklärte, er habe bei der Abstimmung "die Knöpfe verwechselt". ZZS-Fraktionschef Brigmanis zitiert DIENA doch wirklich mit dem Satz: "Kaposts ist ein Mann vom Lande, der ist weit von Cesis gefahren, da macht er schon mal Fehler." (!)
Neun Abgeordnete enthielten sich, und acht erschienen lieber erst gar nicht zur Abstimmung - werden doch in Lettland oft auch alle Namen der Pro- oder Contra-Stimmenden schon mal in den Zeitungen veröffentlicht. Lieber abtauchen, als gegen den populistischen Strom schwimmen, scheint hier das Motto.


Ob der ganze Wirbel, der nun auch international mit dem Vorgang bereits erzeugt wurde, wirklich nur den Zielen nützt, den die Verfassungs-Änderer im Sinn hatten? Ein wenig scheint es, dass auch die Schwulen und Lesben Lettlands - obwohl an Zahl und Einfluß bisher kaum bemerkbar - noch eine Weile in der Diskussion bleiben werden. Ein paar Monate wird noch Wahlkampf sein. Auch am 23.Juli 2006.

8. Dezember 2005

Gestatten, Frau Präsidentin, Ihr Preis ...

Lettlands Parteienlandschaft hat keinen guten Ruf. Heillos zerstritten, selbstsüchtig, ohne große Bindung an ideelle Ziele. Hinzu kommt, dass westeuropäische Politologen und Journalisten in der Regel den sogenannten "ehemaligen Sowjetstaaten" nicht sehr viel zutrauen, was eigenständiges Denken angeht. So gelten auch die Lettinnen und Letten als entweder "von der Sowjetzeit verformt" oder als "naiv dem kapitalistischen Konsumrausch verfallen". - Vor diesem Hintergrund fällt es besonders auf, wenn eine in einer politischen Funktion befindliche Lettin geehrt wird - vor allem für ihre eigenständigen, zutiefst demokratischen Positionen und Gedanken, eintretend ausdrücklich für eine selbstbewußte Neupositionierung Lettlands auch in Europa.

Am Freitag, den 16.Dezember 2005 bekommt Vaira Vike-Freiberga, seit 1999 im Amt befindliche Präsidentin der Republik Lettland, im Bremer Rathaus den Hannah-Arendt-Preis verliehen. Aus der Presseankündigung der Veranstalter ist zu entnehmen, dass damit "eine Stimme und Position" geehrt wird, "die oft genug im Chor der dominierenden Mächte Europas untergeht." Vielleicht würde Vike-Freiberga gerne antworten: "So schnell wird Lettland nicht untergehen!" In vielen Reden hat sie im eigenen Land immer wieder versucht, Mut zuzusprechen, und gegen das teilweise weit verbreitete lettische Selbstmitleid anzureden, das angesichts des über die Jahrhunderte scheinbar dauerhaft schwierigen Schicksals des kleinen lettischen Volkes wenig Entwicklungschancen offen läßt - die dann den direkt Beteiligten oft nur wie sehr kleine, geduldige Schritte vorkommen mögen.

Doch nur selten gibt es auch für die oberste Repräsentantin dieses kleinen baltischen Landes die Chance der großen Medienaufmerksamkeit. Selten hören auch diejenigen mit der genügenden Aufmerksamkeit zu, die wenig über Lettland wissen. Gerade in Deutschland fielen eher die kumpeligen Männerfreundschaften Kohl-Gorbatschow oder Schröder-Putin auf, verbunden mit politischen Vorgehensweisen nach Gutsherrenart. Lettische Randbemerkungen, dass es gegenüber einem demokratischen Entwicklungsland wie Russland nicht reiche, diesem "schöne blaue Augen" zu machen, und auf politisches Wohlwollen zu hoffen, werden unbeachtet gelassen und manchmal sogar belächelt oder pauschal mit "Russen-Feindlichkeit" gleichgesetzt. Direkt am Rande des russischen Riesenreiches lebt es sich eben anders - mit eifernden nationalrussischen Funktionären im eigenen Land, die immer noch lauthals alle Letten pauschal als "Faschisten" verunglimpfen, ganz im Sinne der sowjetisch ideologisch zurechtgebogenen Geschichtsschreibung.

Auch unabhängig von der konkreten Lebensgeschichte von Hannah Arendt, wird doch der seit 1995 verliehene Preis vor allem mit dem Einsatz gegen totalitäre Regime, und mit eigenständiger, kluger, ein wenig eigenwilliger Denkweise gleichgesetzt. Da trifft es mit Vaira Vike-Freiberga sicherlich die Richtige. Schade nur, dass für die Stadt Bremen (mit Städtepartnerschaft zu Riga!!) und auch die beteiligte Heinrich-Böll-Stiftung der feierliche Anlaß nicht auch Gelegenheit ist, sich selbst wieder einmal mehr mit der lettischen Republik zu beschäftigen.

Die Zeiten, wo "Westler" den "armen Brüdern und Schwestern" auf der anderen Seite der Ostsee sagen mussten, wo es demokratisch lang geht, sind ja wohl (wenn sie jemals angebracht waren) vorbei. Für Lettland wichtige Zukunftsprojekte werden kaum mit deutschen Partnern entwickelt. Selbst bei Kooperationen von Firmen lagen lange Jahre eher die finnischen, schwedischen, asiatischen oder US-amerikanischen Firmen vorn. Auch die Bremer Forschungsstelle Osteuropa forscht lieber nicht über ganz Osteuropa, wie der Namen vermuten ließe. Man konzentriert sich lieber auf zwei, drei ausgewählte Themen und lässt Lettland dabei lieber als Partner aussen vor.
Auch die BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung hat sich schon seit Jahren aus konkreten Projekten mit möglicherweise gleichgesinnten Partnern in Lettland zurückgezogen.
Ob solche Zustände wohl beim geplanten, nur zwei Stunden kurzen Symposium am 16.12., kurz vor der Preisverleihung, überhaupt zur Sprache kommen werden?

Wesentlich bekannter ist in der deutschen Medienöffentlichkeit die hervorgehobene Stellung Vike-Freiberga's als Frau in einem höchsten Staatsamt. Als erste Frau in Osteuropa überhaupt, und heute noch als eine der ganz wenigen Frauen in Europa in politischen Führungspositionen (die auch seit 6 Jahren bereits im Amt ist und 2003 unumstritten wiedergewählt wurde!), wird ihr Name inzwischen in einer Reihe mit den bekanntesten Persönlichkeiten der ganzen Welt genannt. Einerseits aus Gründen, die bei vielen Frauenkarrieren eher charakteristisch sind, andererseits aber in ihrem Fall auch in dieser Hinsicht einzigartig: Sie zog zwei Kinder groß (siehe das Foto rechts, aus ihrer Zeit in Kanada - entnommen aus dem 2001 erschienenen Buch von Ausma Cimdina), sie schaffte gleichzeitig eine beachtenswerte wissenschaftliche Karriere, meisterte gemeinsam mit ihrem Mann eine langjährige Ehe, lernte mit Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch mehrere Sprachen fließend, und musste sich schon als junges Mädchen mit den Eltern in mehreren fremden Ländern durchschlagen.

Dann kam - seit dem 17.Juni 1999 (dem 59.Jahrestag der Besetzung der Republik Lettland durch die Rote Armee) - das Leben als lettische Präsidentin. Ist Lettland schlicht das Land der "starken Frauen"?? Wie anerkannt ist Vaira Vike-Freiberga im eigenen Land? Ist die Sicht von aussen (mit deutschen Augen) identisch mit der Sicht, die Lettinnen auf ihre Präsidentin haben? Wie geht es Frauen in Lettland in anderen Tätigkeitsfeldern, in der Wirtschaft, in der Kirche, in der Politik? Wie sieht es mit Frauen- und Männerrollen aus? Warum haben Frauen in Lettland eine so viel höhere Lebenserwartung als Männer?

Diese und andere Fragen möchte der Verein INFOBALT in Bremen zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung diskutieren. Aus Anlaß des Besuchs von Frau Dr. Vike-Freiberga in Bremen, aber leider - wegen ihres Termindrucks - ohne sie. Dennoch werden eine Reihe lettischer Frauen zusammenkommen, die selbst aus eigener Perspektive und Erfahrung erzählen können. Eingangs werden Filme gezeigt über Vaira Vike-Freiberga und über Frauen in Riga. Alle interessierten Gäste sind herzlich eingeladen.

Donnerstag, 15.Dezember 2005, ab 18.00 Uhr, im Haus der Bremer Landeszentrale für politische Bildung, Osterdeich 6, 28203 Bremen. Telefon dort im Haus am Veranstaltungstag: 0421 361-2507, Email: Guenther.Feldhaus@lzpb.bremen.de. Kontakt für weitere Fragen und Infos: post@infobalt.de oder Tel. 0162-9339191.

6. Dezember 2005

Im Ausland arbeiten, zu Hause explodieren die Preise

Lettland ist stolz auf seine Statistiken. Mit momentan 11,6% Wirtschaftswachstum nimmt Lettland im Moment den Spitzenplatz in der Europäischen Union ein - das melden Fachmagazine wie das Wirtschaftsblatt (8.11.2005) Dasselbe Magazin beschreibt aber auch eine Inflationsrate von 7,2% - ebenfalls europaweit ein Höchstwert. Wo kommen diese Probleme her? Gefährdet diese Entwicklung die 2007/2008 geplante Einführung des Euro?

Wirtschaftswachstum - aber nicht zu Gunsten aller Beteiligten
"Die alten EU-Länder werden neidisch", hatte noch im Mai 2005 die Deutsche Welle angesichts der beeindruckenden Zahlen zum Wirtschaftswachstum in Lettland berichtet. Inzwischen mischen sich andere Stimmen in diesen Chor. Jungle World zitiert einen Slogan von einer Demonstaration lettischer Gewerkschaften in Riga: "Im Vergleich zu den übrigen EU-Staaten ist unsere soziale und wirtschaftliche Lage düster: die höchste Inflation, die geringsten Gehälter und Renten und das am schnellsten aussterbende Land."

Nur 320 Euro beträgt der lettische Durchschnittslohn. Der Mehrwertsteuersatz von 18 Prozent gilt auch für Lebensmittel. Gerade Geringverdiener leiden unter dem stetigen Preisanstieg. Und die Einkommenssteuerrate von 25% gilt auch für Kleinverdiener - nur Summen unter 40 Lat Verdienst bleiben verschont. Arbeitssuchende verlassen zu Tausenden das Land - um in Ländern wie Irland, wo Arbeitskräfte gesucht werden, kurzfristig ihr Glück zu suchen.

Gut ausgebildete Fachkräfte - bereits auf der Flucht?
In Lettland selbst priesen ausländische Investoren noch bis vor kurzem das "hochqualifizierte und motiviertes Personal" (Deutsche Welle 19.5.05) Die neue Konjunkturumfrage 2005 der Deutsch-Baltischen Handelskammer bringt bereits einige neue Tendenzen. Gute Gesamtkonjunkturlage, Steigerungen des Umsatzes gegenüber 2004 bis zu 20% scheinen positiv - aber bereits die Hälfte der Befragten sieht durch Abwanderung von Arbeitskräften (als Nachteil der EU-Osterweiterung) mittelfristig einen Mangel an Fachkräften in Lettland voraus.
Gefragt nach den Motiven für Investitionen in Lettland geben 65% der deutschen Firmen gegenwärtig noch das "gute Ausbildungsniveau" als Grund an (niedrige Arbeitskosten übrigens nur 44,2%). An der Ausbildung liegt es also weniger - aber die Leute suchen sich den Mehrverdienst gegebenenfalls in anderen Ländern, wo sie Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dennoch scheinen Abwehrreaktionen großer EU-Staaten übertrieben - die Probleme für Lettland selbst sind die weitaus entscheidenderen.

Auswärts arbeiten gehen löst zu Hause die Sorgen nicht
Das Geld, was Letten im Ausland verdienen, facht die Inflation im eigenen Land an - diese Schlagzeile brachte LETA am 6.12.05. Auf mindestens 20 Millionen Lat jeden Monat (ca. 30 Millionen Euro) schätzt LETA die Summe Geldes, das auf diesem Wege nach Lettland fließt. Die lettische Nachrichtenagentur vergleicht den ökonomischen Effekt, den diese Arbeitsemigranten im eigenen Landes auslösen, mit dem Einfluß von Touristen aus reichen Ländern: eine bestimmte Schicht von Kunden kann sich eben steigende Preise leisten. Zitiert wird die Chefanalystin Liene Kule von "Hansabanka", deren Worten zufolge eben solche Effekte zum "Konsumboom" in Lettland - und damit zur Inflation - beitragen. Ein großer Teil des ins Land fließenden Geldes wird eben nicht investiert, sondern für Konsumwaren ausgegeben.
LETA zitiert aber auch andere Stimmen, wie den lettischen Ökonomen Janis Aboltins. Dieser hofft, dass die "heimkehrenden Letten eben Häuser bauen, Dienstleistungen brauchen, und damit auch den einheimischen Markt beleben." "Aber," so gibt auch er zu, "der lettische Markt ist klein, und durch fehlenden Wettbewerb bleiben eben in manchen Bereichen die Preise auf hohem Niveau."

Auf der Suche nach Gründen
Europäische Wirtschaftsfachleute, wie zum, Beispiel das European Business Network, schoben bisher den Preisanstieg in der Europäischen Union bisher eher die gestiegenen Energiepreise. Auch in Lettland brachten die Medien einige Wochen ständig neue Meldungen über klagende Autobesitzer. Schon überlegten Sparsame, sich Billigbenzin aus Weißrussland auf dem illegalen Markt zu besorgen.

Blair ohne Verständnis und Interesse für die baltische Perspektive
Nun kommt noch "Onkel Blair", in seiner Funktion der EU-Präsidentschaft daher und schlägt mal eben eine drastische Kürzungen der Gelder aus Brüssel vor (für Lettland würde es minus 8% bedeuten). Das würde vor allem die Regionalentwicklungsprogramme in Lettland stark treffen.
Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) im Europaparlament, äussert im Deutschlandfunk Verständnis für die ablehnende Haltung der baltischen Staaten zu solchen Vorschlägen. "Unakzeptabel für Lettland" - mit dieser klaren gegenüber LNT geäusserten Stellungnahme weiss sich auch der lettische Regierungschef Kalvitis einig mit seinen Amtskollegen von Estland bis Polen.

So zeigen sich in Lettland - trotz positiver Wirtschaftsentwicklung - gegenwärtig immer noch zwei Seiten (der Medaille). Es gibt sogar Gerüchte, dass einige Firmen in Lettland billige Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern Osteuropas oder Asien ins Land holen wollen. Falls nichts dafür getan wird, dass gut ausgebildete lettische Fachleute auch angemessen bezahlte Arbeit im eigenen Lande finden - eine gruselige Persektive.

1. Dezember 2005

Letten lieben Irland - nun ist es genug, sagen die Iren

Der Traum von der grünen Insel
Eigentlich sind die Iren ja stolz darauf, dass so viele Menschen aus allen Teilen Europas ihre "grüne Insel" als Urlaubsland lieben. In den zurückliegenden Jahren brachte zunächst die EU-Erweiterung vielen Iren Arbeit, auch im europäischen Ausland. Nun aber kommen immer mehr Arbeiter aus den neuen EU-Ländern nach Irland - auch aus Lettland. Und die Iren sind sauer.

Neuerdings sind in Zeitungen und Fernsehen Lettlands nicht mehr die Werbeanzeigen für Arbeit in England und Irland zu sehen. "Das Märchen von der Arbeit in Irland ist zu Ende", titelt der staatliche Fernsehsender LNT. Die Tageszeitung DIENA macht auf mit Fotos (siehe oben) von protestierenden irischen Arbeitern. Was ist passiert?

Dramatische Szenen in irischen Häfen
Im Hafen des irischen Pembroke hatten sich Mitte November vier Schiffsoffiziere an Bord des Fährschiffs "Isle of Innis Moore" verbarrikadiert. Auch ihre Kollegen auf der "Ulysses" im Hafen von Holyhead verweigern die Arbeit. Am 30.11. stimmten auch die Hafenarbeiter in Dublin dafür, die Schiffe der privaten Linie "Irish Ferries" bis auf weiteres nicht mehr abzufertigen, berichtet "Irish News", und zitiert einen Sprecher der irischen Industrie-, Dienstleistungs- und Transportgewerkschaft SIPTU.
Die Reederei will irisches Personal durch billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland ersetzen, und um dies zu ermöglichen, sollen die Schiffe unter fremder Flagge fahren, berichtet EURONEWS. Mitte September war die Entlassung von 543 irischen Arbeitskräften mit dieser Begründung angekündigt worden. Das irische Newsportal ONLINE.IE benennt speziell die Absicht der Fährbetreiber, Arbeiter aus Lettland anheuern zu wollen.
Die "Ulysses", die größte Autofähre der Welt, pendelt zweimal täglich von Irland nach England. Auf insgesamt zwölf Decks bietet die Fähre Platz für 2.000 Passagiere, über 1.300 Pkw oder 240 Lkw. Gut vorstellbar, was passiert, wenn solche Linienverbindungen tagelang bestreikt werden.

Nationaler Protesttag in Dublin angekündigt
Der Streit ist schon weit gediehen: IRISH FERRIES sah sich in einer Pressemitteilung genötigt, die Absicht der Gebrauchs von Tränengas zur Auflösung des Streiks dementieren zu müssen. Vor den Häfen stauen sich die LKW mit Frischware, unter anderem Lachs und Lammfleisch.
Die Betreibergesellschaft wehrt sich gegen die Argumente der irischen Gewerkschaften, die Fährlinien würden erhebliche Gewinne abwerfen. 171 Millionen britische Pfund an Verlusten habe man bei Übernahme der staatlichen B&I ausgleichen müssen. Angesichts der Konkurrenz der Billigflieger und der steigenden Treibstoffpreise sei man zum Handeln gezwungen, so eine Stellungnahme vom 29.November. Die irischen Seefähren würden immer noch 50-60% teurer betrieben als vergleichbare andere Linien, verteidigt sich "Irish Ferries".
Die Gewerkschaften dagegen haben zu einem "nationalen Protesttag" am 9.Dezember in Dublin aufgerufen.

Diskussionen in der lettischen Presse
Solchen Turbulenzen erregen nun auch in Lettland Aufmerksamkeit. Die Nachrichtenagentur LETA zitiert Jazeps Spridzans, Direktor des lettischen Seefahrerregisters, mit der Aussage, gegenwärtig würden 70 Arbeiter aus Lettland auf irischen Fähren Beschäftigung finden. Spridzans dementierte aber, dass lettische Arbeitssuchende irgend etwas mit Niedriglöhnen von angeblich nur.3,60 Euro pro Stunde zu tun haben könnten. "Kein Lette, geschweige denn irgendwelche Philipinos, würden für solch einen Lohn arbeiten," behauptet er, und legte gleichzeitig Vergleichszahlen vor. LETA hatte in einer Meldung aber genau dies bestätigt. Angeheuert würden die lettischen Bewerber von "Dobsona kugniecibas agentura".
Der von der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft ITF empfohlene Mindestlohn sei 1,450 US Dollar pro Monat, so dagegen Spridans, aber ein lettischer Seemann in Irland würde mit 1,700 Dollar entlohnt, Bootsmänner mit USD 2,000 und Stewardessen mit USD 1,558. Inbegriffen in diese in der Regel etwa 2-monatigen Arbeitsverträge seien eine vom Arbeitsgeber gestellte Uniform, freie Verpflegung, sowie Hin- und Rückfahrt nach von Lettland aus. Gegenwärtig läge eine Anfrage nach 110 weiteren Seeleuten aus Lettland vor. Eigentlich müsse der Arbeitskräftebedarf mit Arbeitssuchenden aus der EU gedeckt werden, die lettischen Seeleute täten also nichts Illegales, verteidigte Spridzans das lettische Verhalten. Irish Ferries stünde nun aber vielleicht wegen der Streikaktionen vor erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, prognostizierte er. Karlis Svilpis, Personalmanager von "Baltic Shipmanagement Ltd." in Riga, erwähnte gegenüber LETA auch Anfragen einer Kreuzfahrtgesellschaft, die 150 Seeleute anforderte. "Das konnten wir gar nicht befriedigen," sagte er.

Der lettische Wohlfühlfaktor in Irland
Die irischen Fährschiffgesellschaften könnten nun in schwerer Krise geraten, bedauert auch der lettische Fernsehsender LNT, und zitiert die stellvertretende irische Premierministerin Mary Harney: "Das letzte, was ich sehen will, sind Arbeiter, die ihre Arbeit verlieren, eine Firma, der ihr Geschäft verloren geht, und ein Staat, der auch dabei verliert. Aber genau das passiert jetzt."

"Der Streit um die Fähren könnte die Iren gegen Lettland aufbringen", spekuliert DIENA. Zitiert wird auch das Erfolgsrezept des "keltischen Tigers" Irland, das eben bisher auf einer jährlichen Übereinkunft zwischen Regierung und Gewerkschaften beruhe, so DIENA. Auf See habe aber weder die EU noch die Regierung entsprechenden Einfluß. Eine Lösung des laufenden Konflikts könne aber Modellcharakter für andere Firmen in Irland haben, zitiert DIENA irische Politiker.

Irland ist eines derjenigen EU-Länder, die Arbeitern aus den neuen EU-Staaten ohne Begrenzungen Arbeitserlaubnisse erteilt. DIENA schätzt die Zahl der gegenwärtig in Irland arbeitenden Letten auf 30.000-40.000. Die Tageszeitung "Neatkariga Rita Avize" (NRA) vermutet gar bis zu 100.000 lettische Arbeiter in Großbritannien und Irland. Offiziell seien beim irischen Sozialregister 13 984 Letten verzeichnet, zitiert NRA Angaben der lettischen Botschaft in Dublin. Geschätzt wird aber, dass sich nur etwa jeder Dritte auch offiziell registrieren lässt. Die große Zahl an Letten, die in Irland leben und arbeiten, könne inzwischen auch bereits an den in Irland geborenen Kindern mit lettischer Staatsbürgerschaft abgelesen werden: 2004 seien es noch 30, in den ersten neun Monaten 2005 bereits 107 Kinder.
Die irische Radio- und Fernsehstation RTE zitierte Statistiken, dass die Zahl der Beschäftigten in Irland in den ersten 9 Monaten des Jahres 2005 um 5% (oder 96.200) angestiegen sei. Nach diesen Statistiken arbeiten gegenwärtig 160.000 Menschen in Irland, die aus anderen Ländern kommen. 40.000 seien 2005 neu dazugekommen.

Wie geht es weiter?
Lettische Politiker wie Aussenminister Pabriks rechnen mit weiteren, ähnlichen Auseinandersetzungen auch in anderen Ländern Europas. Aber nicht alle Letten begrüßen die massenweise Arbeitsemigration ins Ausland. Viele machen sich Sorgen um die internationale Konkurrenzfähigkeit Lettlands und die Perpektiven im eigenen Land, wenn so viele Fachkräfte weggehen. "Bald können wir in Irland das lettische Sängerfest veranstalten", meinten Diskutanten in einem Internetforum. Oder sollte man es sehen wie die lettische Politologin Žaneta Ozolina? Sie sagt:: "Europa ist eine soziale Titanic."

27. November 2005

Fortsetzung der Dokumentarfilmtradition

Auch zu sowjet-lettischen Zeiten galt der Dokumentarfilm in Riga schon etwas. Im Rigaer "Kinostudio" hatte das dokumentarische Handwerk eine Hochburg. Bei der Aufzählung der besten lettischen Doku-Filmer braucht man nicht bei Sergej Eisenstein stehen zu bleiben: Herz Frank gehört dazu, genauso wie der 1991 bei den Januarunruhen in Riga umgekommene Andris Slapins, oder der 1992 auf tragische Weise ums Leben gekommene Juris Podnieks.
Der Regisseur, Autor, Kameramann und Produzent Romualds Pipars schreibt jetzt ein neues Kapitel dieser filmischen Tradition.
Sein bereits 2003 fertig gestellter 39 Minuten langer Film "Par visu manu dzivi" (engl. Titel: "For all my life") rief internationale Anerkennung hervor, und lenkt gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf ein fast unsensationelles Thema: an einigen Orten in Kurland leben Letten und Roma heute wie selbstverständlich miteinander.

Der thematische Hintergrund des Films war dramatisch: im Sommer 1941, als Nazi-Deutschland Lettland besetzte, versammelten SS-Truppen, nachdem bereits alle Juden ermordet waren, auch die in dem kleinen Ort Sabile lebenden Roma im lettischen Kurland. Sie befahlen ihnen, ihre eigenen Gräber zu schaufeln. Sie reihten sich an diesen Löchern auf, bereit, erschossen zu werden. Martins Berzins, der Ortsbürgermeister, schaltete sich ein: "Das sind alles meine Mitbürger. Wenn ihr sie ermordet, dann müsst ihr mich auch ermorden." Mit seinem mutigen Einsatz konnte er damals 200 Leben retten.
Der Film thematisiert das Leben der Roma in Sabile heute.
Bis heute leben Roma in Sabile, gehen in der örtlichen Schule in eine spezielle Klasse, erhalten Unterricht in ihrer eigenen Sprache, und Extra-Musikunterricht.
Am 9.August 2000 trafen sich lettische Roma im Wald bei Sabile, wo immer noch die Löcher zu erkennen sind, die genau 60 Jahre zuvor ausgehoben worden waren.

In den zwei Jahren seit seiner Fertigstellung ist der Film von Romualds Pipars inzwischen auch international viel beachtet. Als am 10.Oktober 2005 der lettische Minister für Integrationsfragen Ainars Latkovskis dem Regisseur einen Ehrenpreis überreicht, ist dies auch ein Rückblick auf das bisher geleistete. Die größere Zeremonie hatte bereits am 28.September 2005 im Europäischen Parlament in Straßbourg stattgefunden: dort wurden die ARD-Medienpreise (CIVIS) im Rahmen einer festlichen Zeremonie verliehen. "For all my Life" erhielt dabei den erst 2005 neu geschaffenen und mit 6.000 Euro dotierten Europäischen Roma Fernsehpreis. "Der Film zeigt das einträchtige Zusammenleben von Roma und Letten in der lettischen Stadt Sabile und erinnert an die Geschichte des gegenseitigen Verständnisses während des Zweiten Weltkrieges", schreibt der WDR über den Film. "Es gibt Armut in Sabiles, aber keinen erkennbaren Antiziganismus. Eine beeindruckende Darstellung gelungener Integration", befand die Jury.

In einem Interview mit der lettischen Zeitschrift "Izglitiba un kultura" sagt Pipars zu seinem Filmschaffen, das inzwischen mehr als 100 Dokumentarfilme umfasst, er sei "immer ein wenig auf der Suche nach der Wahrheit" gewesen. "Diejenigen Menschen, die es schwer im Leben haben - so meine Eltern auch - können meist selbst nichts davon überschauen. Ich habe viel davon erlebt, und so verarbeite ich es in meinen Filmen".

Fast ebenso spannend wie der Film selbst liest sich Pipars' Erzählung von seiner Reise zur Preisverleihung nach Straßbourg, die nicht ganz undramatisch verlief (beim Portal TVnet ist sie für Lettisch-Kundige noch nachzulesen). Hier kann man lernen, dass es offensichtlich schwierig ist, in Frankfurt Bustickets zu kaufen, und französischen Taxifahrern das Fahrziel "Haus des Europaparlaments" zu erklären. Bei der Preisverleihung sei das Publikum wohl glücklich gewesen, dass er nicht wie viele andere erst mal bei der "Oma und ihrer Katze" angefangen habe zu erzählen, weil ja allen zu danken sei, sondern einfach nur zwei Worte sagte: "Thank you!"

Der Filmverlag bietet eine VHS-Version des Films inzwischen auch zum Kauf an. Es bleibt zu hoffen, dass "For all my life" entweder im deutschen Fernsehen oder /und auch in den deutschen Kinos einmal zu sehen sein wird.

25. November 2005

Mehr Besucher, Run auf Billigflieger, Krise der Fährlinien

Die touristische Saison 2005 hat einige Fragezeichen hinterlassen. Konnte der "Run" auf die neuen EU-Mitgliedsländer, der im Sommer 2004 deutlich spürbar war, wiederholt oder sogar gesteigert werden?
Es gibt unterschiedliche Aussagen dazu. Einige touristische Dienstleister berichten auch von Rückgängen, andere von andauernden Verbesserungen.

In Lettland veröffentlichte das staatliche Statistikamt den Überblick über Reisen von und nach Lettland im dritten Quartal 2005 (Juli, August, September). In der Hauptreisezeit 2005 verzeichnete Lettland mit 1,324 Millionen ca. 20% mehr Besucher aus dem Ausland als im gleichen Zeitraum des Jahres 2004 (1,104 Mill).
Besucher aus den direkten Nachbarländern dominieren immer noch die absoluten Zahlen: 33% der Gäste kamen aus Estland, 23% aus Litauen. 9% kamen aus Deutschland, 6% aus Russland, 5% aus Polen und je 4% aus Finnland und Schweden. Interessant dabei, dass laut Statistik die Gäste aus Russland in Lettland das meiste Geld ausgeben - noch vor den Deutschen und den Schweden. Dieser Tabelle zufolge sind Litauer und vor allem die Finnen am sparsamsten.
Lettland ist ein kleines Land: nur 31% der Gäste hielten sich länger als 24 Stunden im Lande auf. Von diesen waren 40% "Neulinge": zum ersten mal in Lettland.
78% aller Gäste kamen über die Straßen, 12% per Flug, 7% mit dem Schiff und 3% mit dem Zug.

Die Liebhaber schöner Schiffsreisen werden es 2006 schwerer haben. Zunächst machte die Kunde vom Verkauf der Finnjet in die USA die Runde - eine Linie, die zwischen Rostock und Tallinn erfolgreich verkehrte, und sicher viele Menschen durch eine schnelle und sichere Überfahrt mit dieser Region in Verbindung brachte.
Nun erschüttert auch der Skandal um die Pleite der Fährlinie Riga-Stockholm die lettische Hauptstadt. Anfang November lag die "BALTIC KRISTINA" noch immer im Hafen von Riga, die Crew im Streik. Am 15.Oktober hatte die Reederei "Rigas Juras linija's" (RJL), an der auch die Stadt Riga einen Anteil von 35,48% hielt, plötzlich den Betrieb eingestellt, sich vor Gericht für insolvent erklärt, und hatte offensichtlich auch kein Geld mehr, um die Mannschaft zu bezahlen. Das Thema wurde zur heissen Diskussion in lettischen Medien. Hatte doch der frühere Rigaer Bürgermeister Bojars es sich vor Jahren zum persönlichen Anliegen gemacht, wieder eine Fähre nach Stockholm in den Hafen von Riga zu holen - nun zeigte es sich, dass trotz hoher staatlicher Subventionen das Geschäft nicht wirtschaftlich zu betreiben war: 7 Millionen US-Dollar an Schulden waren gegenüber der PAREX-Bank aufgelaufen, so meldete die Nachrichtenagentur LETA am 14.Oktober. Als Konsequenz hatte der Freihafen Riga das Schiff, dessen Wert von verschiedener Seite auf zwischen 3,8 bis 4,6 Millionen Euro geschätzt wird, als "Pfand" im Hafen festgehalten.

Anfang August hatte die Betreiberfirma noch neue Rekorde gemeldet: auch im vierten Jahr des Betriebs sei die Passagierzahl wieder erheblich gestiegen - 11610 Passagiere seien allein im Juli 2005 befördert worden, eine Steigerung von 33,4% gegenüber 2004. Nun kommt es anders: Am 21.Dezember soll die 32 Jahre alte "Baltic Kristina" auf einer Zwangsauktion versteigert werden (so meldet es ein norwegisches Schiffahrtsportal im Internet, ebenso verschiedene lettische Quellen). Bis Mitte November waren seitens der Besatzung 300.000 Lat als ausstehende Lohnforderung aufgelaufen, meldet die lettische Tageszeitung "Neatkariga Rita Avize" (NRA). Es besteht kaum Hoffnung, dass die Betroffenen diese Zahlungen noch vor Weihnachten erhalten werden.

Soweit zum lettischen Wachstum in der Tourismusbranche - das offensichtlich trotz aller Statistiken auf wackeligen Füssen steht. Der Flughafen Riga verzeichnete übrigens 1,375 Millionen Passagierankünfte in den ersten 9 Monaten des Jahres 2005, das ist fast eine Verdopplung gegenüber 2004. Während dabei die Nutzung von lettischen Airlines nur um 39,4% anstieg, war es bei ausländischen Fluglinien ein Anstieg um das 2,5fache. 286.700 Menschen kamen von deutschen Flughäfen, vor allem dank der Billigflieger zwischen Berlin und Riga ein starker Anstieg. Laut BALTIC TIMES verkündete der lettische Verkehrsminister Ainars Slesers kürzlich lauthals, bis zum Jahr 2015 werde sich der Fluggastaufkommen noch einmal gegenüber heute verfünffachen.
Was bleibt solchen Optimisten zu wünschen? Allzeit gute Reise, und wenig Abstürze!

7. November 2005

Rekordprämie für Überraschungssieg in New York













Einen Überraschungssieg landete Jelena Prokopcuka aus Jurmala in Lettland ausgerechnet beim berühmten New York Marathon: nach 42,195 km, vorbei an den beindruckenden Sehenswürdigkeiten der US-Metropole, konnte sie ausser dem Siegerkranz für die Marathonsiegerin 2005 auch die Rekord-Siegprämie von 130.000 Dollar entgegennehmen. Die Siegerzeit. 2 Stunden, 24 Minuten und 41 Sekunden.
Ausnahmsweise sind die Blechkarawanen der PKWs anläßlich dieses Top-Sportereignisses einmal von den Straßen verbandt, und so konnten die über 35.000 Läuferinnen und Läufer die Strecke ganz "unter sich" genießen. Der New-York-Marathon wird seit 1970 in New York veranstaltet und führt durch alle fünf Stadtteile von Staten Island über Brooklyn, Queens, die Bronx und endet im Central Park in Manhattan. Bei den Männern gewann der Kenianer Paul Tergat.

(Foto unten: die beiden Marathon-Sieger. Foto: Reuters)
Über 35.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 100 Ländern waren am Start, 125 Fernsehstationen übertrugen das Ereignis in alle Welt, 2,5 Millionen Menschen sollen am Straßenrand für Stimmung gesorgt haben: für jede Läuferin ein ganz besonderes Erlebnis, hier zu siegen. Der Sieg von Jelena Prokopcuka stand dabei erst im Finish fest: kurz vor Schluß hatte noch die Kenianerin Susan Chepkemei geführt, bekam dann aber Magenkrämpfe, so dass Prokopcuka sie noch überholen konnte.


Nun diskutieren die lettischen Sportfans in Internetportalen wie "TVnet-Sport" diesen sensationellen Erfolg. Die Äusserungen gehen dabei von Lobpreisungen bis hin zur Hoffnung, die Siegprämie könne auch anderen lettischen Sportlern helfen: "da kann sie doch jetzt mal einiges spenden für unsere Sportklubs", so die dort geäusserten Hoffnungen. Andere sorgen sich auch um das Geld, denn nach lettischen Gesetzen müsse die Sportlerin wohl entweder 25% oder 15% ihrer Siegprämie in Lettland an Steuern zahlen, anteilig von ihrer Gewinnsumme. "Unseren dickbäuchigen Funktionären und verrückten Politikern ist alles zuzutrauen", spekulieren die Internet-User. "Aber das war doch ausserhalb der EU, da soll sie das doch mal nach US-Gesetzen regeln", meinen andere.

"Das ist ein gewaltiger Sieg für ein kleines Land wie Lettland", so äusserte sich Prokopcuka, die bereits 2004 auf dem 5.Platz gelandet war, der lettischen Nachrichtenagentur LETA zufolge. "Nun könnte ich auf den Geschmack kommen, und auch die Marathons von Chicago, Boston oder London gewinnen wollen", sagte sie lächelnd. Die Geldprämie könne sie gut gebrauchen, denn sie plane, sich in Jurmala ein Haus zu bauen - und gerade dort ist Baugrund teuer ...

31. Oktober 2005

Lettisch-polnische Einigkeit gegen deutsch-russische Alleingänge

Die deutsche Aussen- und Wirtschaftspolitik muss sich wohl daran gewöhnen, dass frühere Sprechblasen von "Deutschland, dem Anwalt der Balten" (Aussenminister Kinkel in den 90er Jahren) sich in ihrer Schlicht- und Bedeutungslosigkeit nicht mehr so leicht wiederholen lassen.

Heute setzt Lettland aussenpolitische Akzente selbst. Aussenminister Pabriks ist mit einer deutschen Frau verheiratet - aber das hindert nicht an selbstbewußter Positionsbestimmung.

Mit dem schnell eingefädelten und überraschend ohne Abstimmung mit den nordosteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten bekannt gegebenem Deal einer deutsch-russischen Gaspipeline durch die Ostsee schockierte Noch-Kanzler Gerhard Schröder nicht nur Lettland. Vor allem in Polen war man "not amused" über dieses Projekt, das von Ökonomen keineswegs als "preisgünstige Lösung" eingeschätzt wird. Vor allem die Verfahrensweise Deutschlands, die den Anschein hat, als wolle man wider einmal Sondervereinbarungen mit Russland an allen anderen Gepflogenheiten vorbei anstreben, erregte neues Misstrauen. Jetzt wartet man unverhohhlen darauf, dass eine neue deutsche Kanzlerin die Lage klären kann.

Derweil üben sich Lettland und Polen im Schulterschluß. Nach einem Treffen mit Maciej Klimczak, neuer polnischer Botshafter in Lettland, äusserte Aussenminister Pabriks im Rahmen einer Presseerklärung Verständnis für Russlands Interessenlage an dem Pipeline-Projekt mitten durch die Ostsee. Dagegen sei die Haltung des deutschen Kanzlers Schröder "unerklärlich", so Pabriks. "Im Unterschied zu Russland ist Deutschland unser Partner in der Europäischen Union", so die Aussage der gemeinsamen lettischen-polnischen Presserklärung, "und wir erwarten von unseren Partnern, dass sie sich beraten mit uns und anderen Interessenvertretern." Daher könne Lettland die eigenmächtige Entscheidung Deutschlands nicht unterstützen.

Pabriks polnischer Diplomatenkollege Klimczak ergänzte, dass eine klare gemeinsame Haltung in dieser Frage für die baltischen Staaten und Polen wichtig sei. Es seien ganz einfach "politische Standards der Europäischen Union zu beachten", so Klimczak. In Zukunft dürfe sich so etwas nicht wiederholen.
Nun ja, - mal sehen, mit welcher Strategie die zukünftige Bundesregierung dies wieder kitten will....



26. Oktober 2005

Lernen Sie Livisch!

Nicht verwechseln: Livisch ist für Letten eine Fremdsprache
Einst war es Imants Freibergs, der IT-Experte und Ehemann der heutigen lettischen Präsidentin Vike-Freiberga, der schon in den 60er Jahren daran ging, die lettischen Dainas elektronisch aufzubereiten und zu systematisieren. Spätestens mit der Wahl seiner Frau, die bekannt war und ist für ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der lettischen Kultur und besonders den Dainas, haben es diese durch die Jahrhunderte mühsam erhaltenen Zeugnisse lettischer Kultur auch heute wieder zu Anerkennung und Ehre gebracht.

Bei der Kultur der Liven ist das noch nicht ganz so. Selten weht die livische Flagge irgendwo (siehe oben), und als finno-ugrischer Sprachstamm weicht das Livische sehr stark auch vom Lettischen ab. Auch die alte Bezeichnung "Livland", geprägt von den Deutschbalten, der an die damals von Liven geprägte Gebiete des nördlichen Lettland und südlichen Estand erinnert, weist auf livische Kultur hin. Nur noch eine Handvoll Menschen bezeichnen sich heute noch als direkte Nachkommen der Liven, eine kleine Gruppe lebt heute noch im Bezirk um Ventspils. Zwar erkennen auch die Esten und Finnen ihre Beziehung zu den Liven auch heute an - Staatsbesuche aus Estland oder Finnland beziehen auch gern schon mal ein livisches Kulturfest ein - aber ansonsten führt diese Kultur und Sprache doch eher ein Schattendasein, international beachtet meist nur von Linguisten und Ethnologen.

Livisch im Netz
Mit einer Pressemeldung gab nun das lettische Aussenministerium nicht ohne Stolz bekannt, dass auch für die Öffentlichkeit nun eine neue Möglichkeit geschaffen wurde, sich mit der livischen Sprache auseinanderzusetzen. Auf einer neuen Webseite ist mit Unterstützung der lettischen Kulturkapital-Stiftng ein Livisch-Lettisch-Englisches Wörtberbuch entstanden, auf das kostenfrei zugegriffen werden kann. Die beiden Wissenschaftlerinnen Ieva Ernstreite und Valda Suvcane haben in mehrjähriger Arbeit ein 68-seitiges Heft geschaffen, was sehr ausführlich in die livische Sprache einführt und ausser einer allgemeinen Einführung in die livische Kultur auch eine große Zahl Satzbeispiele enthält. Anhand von Themenbereichen wie "zu Besuch", "Wetter, Jahreszeiten", oder "die Familie" kann Einblick gewonnen werden in die inzwischen selten gewordene Welt des Livischen - für Deutschsprachíge wenigstens mit Hilfe des Englischen. Das gesamte Heft ist online downloadbar.

Noch nicht ganz vergessen
Immerhin war auch bisher bereits das Livische im Internet nicht ganz vergessen. Die unter Web-Insidern berühmte Wikepeda-Enziklopädie pflegt eine eigene Seite, Die Seite "Vitual Livonia" (livisch/englisch) wird von Uldis Balodis gepflegt und enthält eine ganze Reihe weiterer Verknüpfungen mit interessanten Seiten. Ähnlich ist die Seite von Roberts Freimuts ausgelegt, ebenfalls Livisch / Englisch. Einige interessante Infos, und schöne Fotos, hat auch Heinz Wilhelm Pfeiffer auf seiner Webseite aufbereitet. Auch er bietet eine (sogar bebilderte!) Literaturliste an. Die Beschäftigung mit dem Livischen zumindest wird noch nicht so bald aussterben - Geschichte und kulturelle Eigenarten mehr zu erforschen: wer hier Gleichgesinnte sucht, wird im Internet einiges finden. Doch Vorsicht vor Generalisten - gerade im virtuellen Netz steht so einiges geschrieben, dessen Quellen und Wahrheitsgehalt unklar sind. Beispiel: Auf einer mit "finnourgische Sprachen" überschriebenen, und sachlich aussehenden Seite ist zum Beispiel zu lesen: "Livisch ist inzwischen ausgestorben,"..... "Der Begriff 'Livisch' wird bisweilen auf einen der Dialekte der lettischen Sprache angewandt." Um solche Missverständnisse zu vermeiden, ist vielleicht doch die neue bei ERAKSTI zu findende Infoseite sehr nützlich.



19. Oktober 2005

Männer leben gefährlich

Männer leben in Lettland wesentlich risikoreicher als Frauen - das bringen neue Zahlen des lettischen Statistikamtes in Riga zu Tage. Zwar sind sowohl bei den Verkehrsunfällen (Abb. unten, blaue Linie), bei Kriminaldelikten (grüne Linie) wie auch bei der Selbstmordrate (rote Linie) die absoluten Zahlen der Todesfälle rückläufig, aber immerhin sterben Männer in Lettland 5mal so häufig als Frauen an Selbstmord, 2,1mal mehr im Zusammenhang mit Verbrechen, 3,9mal mehr durch die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums, und 3mal mehr durch Verkehrsunfälle. Ilze Naumova, Verfasserin des Untersuchungsberichts der Abteilung für soziale Statistik, schreibt auch, dass etwa mit dem Alter von 33 Jahren sich das bis dahin bestehende Gleichgewicht der Geschlechter zu ungunsten der lettischen Männer zu verschieben beginnt. Die Gesamtzahl der männlichen Einwohner Lettlands hat sich seit 1990, als 1240,5 Tausend Männer registriert waren, bis 2005 auf 1062,9 Tausend Männer verringert - also um 14,3%. Interessant ist auch ein Vergleich der einzelnen Landesteile. Bis zu einem Alter von 19 Jahren gilt zum Beispiel noch, dass in einer eher ärmeren Region wie Latgale im Osten Lettlands prozentual die meisten Söhne/Männer leben (19,1% aller Männer sind in Latgale jünger als 15 Jahre, demgegenüber in der Region Riga nur 14,5%). Bei der Altersgruppe der über 60 Jährigen liegt dann Latgale wieder hinter allen anderen Regionen zurück.

Mit jedem Jahr vermindert sich auch die Anzahl der frühen Heiraten, so die neue Statistik. Von allen im Jahre 2004 geschlossenen Ehen waren nur 1,2% der Männer jünger als 19 Jahre alt. Im Jahre 2000 waren dies noch 2,4%, und im Jahr 1990 sogar 7,5%. Insgesamt gaben 2005 53% der Männer an, verheiratet zu sein. 32% waren nicht verheiratet und 11,8% geschieden.

17. Oktober 2005

Ventspils wird Lettlands neuer Fährschiff-Knotenpunkt

Der ostseeweite Fährschiff-Linienverkehr kommt wieder einmal in Bewegung: nach dem Verkauf der FINNJET, bisher beliebte Verbindung zwischen den Häfen Rostock und dem estnischen Tallinn (früher auch Travemünde-Tallinn) ordnet sich der Linenverkehr neu. Viele der ehemaligen FINNJET-Kunden werden 2006 nach Alternativen suchen.

Wie das Aussenministerium Lettlands kürzlich in einer Pressemeldung bekanntgab, nehmen gleich zwei neue Fährlinien ab Oktober 2005 ihre Dienste auf: Neben einer Verbindung nach Karlshamn in Schweden wird auch eine Schiffsverbindung mit Rostock aufgenommen (Verlegung der Linie Rostock-Liepaja). Viermal die Woche sollen sich die "URD" und die "ASK" auf der Fahrt zwischen Ventspils und Rostock abwechseln. Dienstags, mittwochs, freitags und samstags je 19 Uhr ab Rostock, ab Ventspils ist jeweils morgens um 4.00 Uhr in der Früh (dienstags, donnerstags, freitags & sonntags) Abfahrt. Fahrzeit ist jeweils 27 Stunden.
Für Menschen ohne eigenes Fahrzeug wird die Überfahrt vor allem für die Fahrt nach Deutschland interessant sein - die Ankunft in Rostock liegt morgens um 7.00 Uhr. In Ventspils dagegen muss wohl schon gut vorgeplant haben, wer dort abends um 22.00 Uhr (wenn die Schiffe pünktlich sind!) ankommt. Dieser Fahrplan soll zunächst bis Ende des Jahres 2005 gelten.

Ebenfalls von Ventspils aus gibt es bereits eine Verbindung nach Lübeck (1x wöchentlich), sowie jetzt nach Karlshamn, Schweden (3x wöchentl.) und Nynäshamn, Schweden (5x wöchentl.).
Bereits Anfang der Saison 2005 hatte Ventspils für Aufsehen unter Reiselustigen und -veranstaltern gesorgt, als erfolgreich eine sommerliche Fährverbindung zwischen Ventspils und der estnischen Insel Saaremaa eingeführt worden war. Der Schiffsverkehr soll hier im Mai 2006 wieder aufgenommen werden.

13. Oktober 2005

Deutscher Demokratieexport nach Osten?

Ein "Programmfenster für Belarus" wolle man eröffnen, so kündigte die DEUTSCHE WELLE ihre neuen Sendungen an, die mit Finanzierung der Europäischen Union ab sofort Richtung Weissrussland ausgestrahlt werden. Der deutsche Sender hatte sich dabei, Meldungen von Fachmedien zufolge, mit seiner Bewerbung gegen den BBC World Service und den Fernsehsender Euronews durchgesetzt. Die EU fördert das neue Programmfenster mit 138.000 Euro.

Auch bei den baltischen Nachbarn der Belorussen erregt diese neue EU-Medienpolitik Aufsehen. Allerdings weniger deshalb, weil den Deutschen diese Aufgabe überlassen wurde, sondern vor allem daher, dass sämtliche Sendungen nur in Russisch ausgestrahlt werden. "Das ist letztendlich doch Diskriminierung!" erregt sich Askolds Rodins, Kommentator der lettischen Tageszeitung DIENA. Wenn die europäischen Staaten helfen wollten, Weißrussland von dem "letzten Diktator Europas" (Alexander Lukashenko) zu befreien, dann sei das ehrenwert, so Rodins. Das Land leide aber schon viel länger unter der Russifizierung als zum Beispiel Lettland. Die gesamte Intelligenz Belorusslands sei schon in den 20er Jahren ausgerottet und vernichtet worden, und ein freies Wort in Weißrussisch zu erheben, sei seither nicht mehr möglich.

Ganz andere Reaktionen ernten die neuen Sendungen, die 15 Minuten jeden Tag ausgestrahlt werden, in jenen Ländern, wo Russisch ausdrücklich verstanden wird. Der Kreml in Moskau meldete sich laut FAZ noch vor Programmstart zu Wort: "Was die Deutsche Welle sende, gehöre, sagte Sergej Jastrschembski, Berater des russischen Präsidenten Putin der Zeitung 'Nesawissimaja Gazeta', zu den Mitteln aus dem Arsenal des Kalten Krieges. Der Entschluß, das Programm zu starten, erhöhe Nervosität, Mißtrauen und Unzufriedenheit, die zwischen Minsk und der Europäischen Union herrschten, sagte der für die Beziehungen zur EU zuständige Kreml-Berater."
Foto: Blick auf Minsk. Quelle: Belarusnews

















Die Verantwortlichen der EU argumentieren anders: "Wir führen den Menschen vor Augen, was in anderen Ländern passiert, wie es eigentlich sein sollte, welche Möglichkeiten sie haben sollten zur freien Meinungsäußerung", so zitiert DEUTSCHE WELLE RADIO die EU-Aussenkommissarin Benita Ferrero-Waldner.
Die gleiche Quelle zitiert auch Wladimir Dorochow, den neuen verantwortlichen Redakteur des Weißrussland-Programmfensters: "Nur sieben Prozent benutzen Weißrussisch", meint er, und im Internet würden ja die Programminformationen auch in weißrussischer Sprache verbreitet, rechtfertigt er sich.
Die FAZ dagegen zitiert Cornelia Rabitz, Leiterin des Russland-Programms der DEUTSCHEN WELLE. "Offenkundig befürchte der Putin-Berater Jastrschembski, dass die für Weißrussland produzierten Sendungen der Deutschen Welle auch in Rußland gehört werden, wo die Medien vom Kreml gegängelt werden". so Rabitz.

Aber auch die kritische Perspektive aus Sicht der baltischen Staaten wird teilweise von deutschen Medien geteilt. "Ausgerechnet in der Besatzersprache Russisch" sende die DEUTSCHE WELLE, so Barbara Oertel in der TAZ. Oertel zitiert unter anderem Litauens Ex-Staatspräsident Vytautas Landsbergis mit der Aussage, dass man sich mit einer derart konzipierten Sendung "zu Russlands Komplizen bei der Russifizierung seiner Nachbarn" mache.

Der lettische Polit-Kommentator Rodins dagegen hofft, dass die Förderung der Demokratie in Belorussland Erfolg haben werden. "Dennoch hätte man auch die gegenwärtig funktionierenden Radiostationen in der Nähe einbbinden können - Litauen, Polen oder Lettland. Das wäre sicher noch effektiver gewesen." - Da hätte man ihm die Lektüre der TAZ empfehlen können, die aufführt, warum das wohl nicht möglich war. So hätten die Sendeanstalten "einen jährlichen Mindestumsatz von drei Millionen Euro" nachweisen müssen - das schließe die Bewerber aus Lettland, Litauen oder Polen von vornherein aus. Wer zahlt, bestellt eben auch die Musik.

23. September 2005

Schröders Vorbild: Aigars Kalvitis?

Die Tageszeitung DIE WELT stellt in ihrer Ausgabe vom 22. September 2005 eine interessante These auf (unterst�tzt von Informationen der Nachrichtenagentur AFP): in allen drei baltischen Staaten wird das praktiziert, was Kanzler Schr�der sich in seinem allgemein als "anma�end" empfundenen Fernsehauftritt nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses in Deutschland gew�nscht hatte. Auch der Lette Aigars Kalvitis ist Regierungschef, obwohl seine Partei nicht die st�rkste Partei oder Fraktion im Parlament ist.

Zitat DIE WELT: "In Lettland f�hrt der Chef der konservativen Volkspartei, Aigars Kalvitis, seit Dezember 2004 eine Mehrparteien-Koalition, obwohl seine Partei mit 21 Sitzen nicht die st�rkste Kraft im Parlament ist. Doch sein wichtigster Koalitionspartner, die rechtsliberale Neue Zeit, scheiterte zuvor trotz ihrer 26 Sitze an der Bildung einer Regierung. Zum Regierungsb�ndnis geh�ren au�erdem die christdemokratische Erste Partei und die Gr�nen/Bauernunion. Letztere hatten zuvor gemeinsam mit der konservativen Volkspartei eine Minderheitsregierung gebildet, wobei die Gr�nen zum ersten Mal in Europa den Regierungschef gestellt hatten. Die Regierung hielt allerdings nur acht Monate."

Das von vielen Politologen als "chaotisch" und instabil beschriebene Parteienwirrwarr Lettlands als Vorbild f�r Schr�der? Es wirkt ein wenig bizarr, beinhaltet aber doch �berraschende Parallelen. Immerhin gelingt es Kalvitis derzeit, den "Citplanietis" ("Ausserirdischen") und Hauptegomanen der lettischen Politik, Einars Repse, soweit im Zaum zu halten, dass dessen Partei inzwischen nicht mehr unangefochten als Nr.1 im Lande gilt. Siehe Foto unten. Also: Auf zur Dienstreise, Herr Schr�der!

Foto: Kalvitis (oben), muss seine Exzentriker in den "befreundeten Parteien" immer im Auge behalten ...

22. September 2005

Letten sichern schwedische Sozialleistungen - und ernten heftigen Protest
Der schwedische Wohlfahrtsstaat ist f�r seine hohen Steuern, aber auch f�r seine weitgehenden Sozialleistungen bekannt. So ist in der deutschsprachigen Fassung der Infobrosch�re "Service f�r �ltere" der schwedischen Hauptstadt Stockholm zu lesen: "Die Stadt Stockholm hat die Ambition, f�r alle �lteren in Stockholm ein Kontaktnetz von Sicherheit, F�rsorge und Service bereitzuhalten, f�r das u.a. die Altersf�rsorge der Stadtteilverwaltungen verantwortlich ist. Das Ziel der Altersf�rsorge ist es, jedem, der auf eigenen Wunsch in seiner gew�hnlichen Umgebung wohnen bleiben m�chte, dieses zu erm�glichen und dort den f�r das t�gliche Leben notwendigen Service und andere Hilfeleistungen anzubieten."

Dies sind bei weitem nicht die einzige Dienstleistungm, die Stockholm seinen �lteren B�rger/innen anbieten. Laut dem schwedischen Gesetz �ber Sozialleistungsdienst hat jeder, der sich in einer Gemeinde aufh�lt, ein Recht auf Sozialhilfe f�r seine Versorgung und sonstige Lebensf�hrung. Das schlie�t das Recht f�r �ltere ein, beim Sozialamt finanzielle Hilfe daf�r zu beantragen.

F�r �rger und Aufsehen sorgte jetzt die Regelgung, auch einen Fahrdienst in Anspruch nehmen zu k�nnen. Den Informationen der zust�ndigen Beh�rde zufolge kann jeder, der "aufgrund von k�rperlichen Behinderungen Schwierigkeiten bei der Benutzung von �ffentlichen Verkehrsmitteln hat", ein Recht auf Fahrdienst haben und die M�glichkeit haben, in einem Taxi oder Spezialauto zu niedrigen Kosten bef�rdert zu werden. Der Provinziallandtag tr�gt die Verantwortung f�r den Fahrdienst im Regierungsbezirk Stockholm.
Laut einem Bericht der lettischen Tageszeitung DIENA vom 21.September 2005 zufolge verlegte jetzt eine der f�r die Bef�rderung der �lteren Leute in Stockholm zust�ndige Firma ihre Telefonzentrale ins lettische Riga. Ab dem 16.Oktober sollen Anfragende von Lettland aus betreut werden. 20 lettische Angestellte, die in Stockholm geschult werden und auch eine Sprachpr�fung in Schwedisch absolvieren m�ssen, sollen Anfragen aus 28 schwedischen Kommunen bedienen.

W�hrend der schwedische Taxiunternehmer bekannte Argumente auff�hrt ("wenn ich die hohen Personalkosten nicht abbaue, m�sste ich 25 Angestellte entlassen"), erntet die Ma�nahme vor allem Protest bei den schwedischen Rentnerverb�nden. "Das ist doch absoluter Wahnsinn! Wie sollen sich denn diese Leute in Stockholm orientieren k�nnen?" So wird Anita Mikus, Ombudsfrau beim schwedischen Rentnerverband in der DIENA zitiert. "Wir haben nichts mit dieser Firma zu tun, aber wir m�ssen die Interessen unserer Mitglieder sch�tzen", so Mikus. "Viele rufen uns an und bef�rchten, das die Qualit�t der Dienstleistung sich verschlechtert, oder komplizierter wird. Viele Rentner haben ausserdem auch selbst Sprech- oder H�rprobleme, und der lettische Akzent ist Ihnen ungewohnt, und schwer zu verstehen."

Die zust�ndige Stadtverwaltung in Stockholm dagegen hat keine Einw�nde gegen diese angesrebte Neuordnung des Fahrdienstes. Die gewohnte Telefonnummer bleibe unver�ndert, und viele der Betroffenen w�rden gar nicht bemerken, dass sie von ausserhalb Stockholms bedient w�rden, so ein Sprecher der Stadtverwaltung in der DIENA. Schlie�lich k�nne man auch auf die Erfahrungen einer anderen schwedischen Firma in diesem Gewerbe bauen, das seine Telefonzentrale nach Tallinn verlegt habe. Angeblich seien die Erfahrungen durchweg positiv gewwesen.

17. September 2005

Warten auf Merkel
Am Tage vor der Bundestagswahl in Deutschland gibt es f�r die lettische Presse nur einen Aufmacher: Merkel ist bereit zum Regieren. "Mit dem Wechsel in der deutschen Regierung wird es eine neue deutsche Aussenpolitik geben", so titelt die Tageszeitung DIENA am 17.September. Im gleichen Beitrag werden Aussagen der BBC zitiert, nachdem ungleich zur letzten Wahl, als die aussenpolitischen Programme der beiden gro�en Parteien weitgehend gleich gewesen seien, k�nne sich diesmal Deutschlands Rolle in der Welt �ndern. Vor allem in den Beziehungen Deutschlands zu Russland, zu den USA und zur T�rkei erwartet die lettische Presse �nderungen.

"Wir werden gr��ere Aufmerksamkeit auch auf die Interessen der kleineren Staaten in Europa legen", so wird Wolfgang Sch�uble, in Merkels Schattenkabinett zust�ndig f�r Aussenpolitik, aus einem Interview in "DIE WELT" zitiert. Ebenfalls Sch�uble werden Aussagen zugeschrieben, nach denen er die Pl�ne Russlands und Deutschlands zum Bau einer Gaspipeline kritisiert, denn die baltischen Staaten und Polen seien �bergangen worden.

DIENA zitiert ausserdem drei Stimmen zur Wahl in Deutschland.
"Schr�der ist mehr orientiert an den Gespr�chen zwischen den Gro�m�chten, um ein Gegengewicht zu den USA zu schaffen. Merkel dagegen will auch die kleinen Staaten einbeziehen. Aus der lettischen Perspektive gesehen, w�re ein Sieg Merkels positiv. In den Beziehungen zu Russland wird Merkel auch die schwierigen Fragen, wie zum Beispiel zum Thema Tschetschenien, mit ansprechen. Nach Merkels Sieg wird man nicht mehr von der Achse Deutschland-Frankreich sprechen k�nnen, welche die Weiterentwicklung Europas aufh�lt. Sie respektiert mehr den europ�ischen Stabilit�tspakt. W�hrend Schr�ders innenpolitische Reformen mehr kosmetischer Art waren, wird Merkel es grundlegender angehen." Toms Rostoks, Politologe

"Alles wird davon abh�ngig sein, ob der Sieg Merkels ein �berzeugender Sieg sein wird. Wenn wir uns die Aussenpolitik unter Kohl oder unter Schr�der ansehen, gab es meiner Ansicht keinen gro�en Bruch. Es k�nnte nun nat�rlich eine Verbesserung des Verh�ltnisses zu den USA geben, und Merkel k�nnte enge Beziehungen zu dem vielleicht kommenden Pr�sidenten in Frankreich aufbauen, Nikolas Sarkozy aufbauen. Es k�nnte auch sein, dass beide die Rolle Frankreichs und Deutschlands im zuk�nftigen Europa neu definieren. Merkel k�nnte auch bestrebt sein, die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU wieder zu beleben. Die Beziehungen zu Russland k�nnten sich ver�ndern, und k�nftig w�rde nicht mehr, so wie bei Schr�der, �ber die K�pfe der Polen hinweg entschieden." Ojars Skudra, Doktor der Geschichte und Universit�tsdozent.

"Von Deutschland ist auch der Erfolg Eurropas abh�ngig, und Merkels Angebote scheinen besser. Jedoch zweifle ich daran, ob es nach der Wahl gro�e Ver�nderungen gibt. Positiv zu werten ist nat�rlich der Wunsch von Merkel, die Interessen Osteuropas ernster zu nehmen. Sie will auch die Beziehungen mit Russland ver�ndern - das zeigt auch das k�rzliche Treffen mit Putin, als sie das Gespr�ch zun�chst in Russisch f�hrte. F�r Merkel wird die Europapolitik wichtiger sein, als sie es f�r Schr�der war. Meiner Meinung nach wird man sich in Deutschland mehr der klassischen Werte bewu�t werden, mit denen die gegenw�rtige Regierung gebrochen hat. Dennoch wird sich wohl in den Beziehungen zwischen Deutschland und Lettland nichts wesentliches �ndern."
Andris Gobins, Pr�sident der lettischen europ�ischen Bewegung.

Mein Kommentar:
Auf den ersten Blick scheinen sich in Lettland viele Menschen von einer Kanzlerin Merkel einiges zu versprechen. Aber ist dies nicht eher der fehlenden Deutschlandkenntnis der lettischen Journalisten zuzuschreiben, wie auch einer gewissen grunds�tzlichen Sympathie mit den Konservativen? Die f�hrende lettische Machtelite ist stolz auf die guten Beziehungen zu den USA, die ihnen erst k�rzlich im Mai 2005 mit dem exklusiven Besuch des US-Pr�sidenten Bush den R�cken gegen�ber russischen Anspr�chen st�rkte. Also: Meines Freundes Freundin ist auch meine bevorzugte Gespr�chspartnerin, k�nnte das Motto lauten.
Ausser der DIENA �ussern sich andere lettischen Zeitungen, wie etwa "Neatkariga Rita", auch zur�ckhaltender. Und in manchen Zeitungen, wie die "Latvijas Avize", scheint die Wahl in Deutschland gar keine so gro�e Rolle zu spielen. Allerdings wird ein nicht unbedeutender Faktor nahezu von allen lettischen Kommentatoren vergessen: Pr�gend f�r die Aussenpolitik unter Kohl war vor allem immer ein FDP-Aussenminister. Und was die so im Parteiprogramm f�r die aussenpolitische Zukunft stehen haben, das hat sich wohl niemand richtig angesehen. Ob die Versprechungen von Merkel und Sch�uble gegen�ber den "kleineren Staaten" in Europa wohl �berhaupt zum Tragen kommen, wenn sich letztendlich doch das "Business as usual" der Wirtschafts- und Neoliberalen durchsetzt? Denn wie wir es gewohnt sind, regiert dort auch eher der Grundsatz: Nur es nicht verderben mit denjenigen, mit denen man Gesch�fte machen kann. Also w�re dann auch mit einer CDU-FDP-Regierung wieder "alles beim Alten", und die Balten, die selbst h�chstens als Bauland f�r westlich dominierte Supermarktketten taugen, aussen vor.

14. September 2005

Frau Ministerin offensiv

In einem Interview für die das Schweizer Komittee der Europäischen Kulturstiftung äussert die lettische Kulturministerin Helena Demakova Erstaunliches:
"Die Schweiz ist das langweiligste Land der Welt" provoziert sie ihre Diskussionspartner - an dieser Stelle verzeichnet die schriftliche Fassung des Gespr�chs noch ein Lachen (es ist nicht nachzuvollziehen, ob es ironisch gemeint war). Befragt danach, wie sie der Angst vieler Schweizer vor einem Zustrom von Osteurop�ern (also auch Letten) begegnet, wird Demakova noch deutlicher: "Städte wie Berlin oder Rom sind doch wesentlich anziehender. Ich habe noch nie einen jungen Letten kennengelernt, der davon tr�umte, (bei Ihnen) in der Schweiz zu leben!"

Auch zur Frage der Perspektiven für Europa nimmt die lettische Kulturministerin kein Blatt vor den Mund: "Was die Europäer im Grunde am stärksten bedroht, ist ihre wirtschaftliche Schw�che aufgrund ihrer mangelnden Flexibilität."
Sie nennt auch Beispiele: "Ich glaube aber, dass beispielsweise die Lage der von der Union subventionierten französischen Bauern kein Mindeststandard ist. Sie leben wie im Paradies! Einen solchen Lebensstandard wird man niemals allen Bauern des Kontinents gewährleisten. Und wenn ich daran denke, dass genau diese Bauern gegen die Europäische Verfassung gestimmt haben, begreife ich überhaupt nichts mehr. Eine ziemliche Dreistigkeit!"

Oho, Frau Ministerin! Das wird die Franzosen nicht freuen, und klingt nach Parteinahme für die Konzepte von Tony Blair.
Aber auch bezüglich der Situation des eigenen Landes, bleibt die Lettin selbstbewußt: "Ich kann mit Stolz sagen, dass es sehr einfach ist, Lette zu werden. Viel einfacher, als zum Beispiel die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten."
Demakova ergänzt: "Tatsache ist, dass Russland keine demokratische Macht ist. Es sucht aus innenpolitischen Gründen Streit mit uns. Doch zugleich unterhalten wir mit Russland intensive, insbesondere wirtschaftliche Beziehungen, die dadurch erleichtert werden, dass in Lettland viele Menschen fließend russisch sprechen."


Das vollständige Interwiev, mit Datum vom 24.August 2005, ist zu lesen auf den Seiten des Schweizer Komitees der Europ�ischen Kulturstiftung, die hiermit eine Diskussionsveranstaltung ank�ndigen wollte, die am 9.September 2005 unter dem Motto "der Osten hat das Wort" in Bern stattfand. Diskutanten waren hier unter anderem auch Borislaw Geremek und Tomasz Kowakowskiaus aus Polen, Tereza Brdeckova aus der Tschechischen Republik und Laszlo Rajk aus Ungarn.