27. März 2006

Rentner in Lettland - eine Frage des Überlebens

Am 22.März 2006 gab das lettische staatliche Statistikamt eine aktuelle Aufstellung zu den in Lettland bezogenen Renten heraus. Wer in Lettland Rentnerin oder Rentner ist, gehört wohl in der Regel zu einer "verlorenen Generation": aufgewachsen im Sowjetsystem, ohne Chance einer anderen Altersvorsorge als sich auf staatliche Maßnahmen zu verlassen. Nach dem politischen Umbruch dann der tiefe Fall: Zwar baut die junge lettische Republik inzwischen Stück für Stück eine Basis für die Alterssicherung der Zukunft auf, aber wer heute den kräftig steigenden Lebenskosten, Mieten, Kraftstoffpreisen und Anforderungen des Arbeitsmarktes ausgesetzt ist, der hat es als Rentner schwer. Auch die neuen Zahlen zeigen, dass allein von der Rente ein Überleben kaum möglich ist. Wäre in Lettland nicht der Familienzusammenhang von ungleich größerer Bedeutung als beispielsweise in Deutschland, würden die Sorgen wohl noch größer ausfallen. Und wer in den ländlichen Gebieten dem Wegzug der jungen Leute zusehen muss, der wird wohl auch nicht in Ruhe seinen Lebensabend genießen können.

In Zahlen:
Im Jahre 2005 gab es
588.767 Empfänger von Renten in Lettland. Ein leichter Rückgang, zugeschrieben der Heraufsetzung der Pensionsgrenze durch zwei Gesetzesänderungen 1996 und 1999 (auf 62 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen). 80,8% dieser Personen sind Empfänger von Altersrenten. Die zweitgrößte Gruppe sind Empfänger von Behinderten- oder Versehrtenrenten (73.600). Durchschnittlich empfängt jeder Rentner 77,95 Lat (54,56 Euro) monatlich. Das Statistikamt weist darauf hin, dass dieser Durchschnitt gegenüber dem Vorjahr um 13,3% angestiegen sei, obwohl sich die allgemeinen Lebenshaltungskosten nur um 6,7% erhöht hätten. Dennoch steht wohl außer Frage, dass bei den gegenwärtigen Kosten für Miete, Heizung und Lebensmitteln die Rente allein niemand zum Überleben reichen kann - wer in der Stadt wohnt, um so weniger.

Die meisten der Empfänger/innen von Altersrenten (42,3%) bekamen eine Rente zwischen 70 und 80 Lat. Weitere 20,8% bekamen zwischen 60 und 70 Lat monatlich. Nur 11,1% können auf eine Rente von über 100 Lat zählen. Das lettische Statistikamt wies in seinem Jahresbericht außerdem darauf hin, dass die Zahl der Empfänger von Kleinstrenten unter 40 Lat (=28 Euro) laufend zurückgeht.

24. März 2006

Die Reichen und die Armen - das ungleiche Lettland

15 Jahre ist es schon her, seit mit Unterstützung der Volksbewegung zur Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit auch der wirtschaftliche Umschwung eingeleitet wurde. Von den Staaten Westeuropas wurde Demokratisierung, Privatisierung und Marktwirtschaft vielfach gelobt. Heute läßt sich jedoch an vielen Faktoren nachvollziehen, dass der durch Wachstumsstatistiken propagierte "Aufschwung" nicht gleichmäßig bei der lettischen Gesellschaft ankommt.
Eine interessante Statistik wurde in der lettischen Presse kürzlich veröffentlicht. Wie zum Beispiel in der
Neatkarīgā Rīta Avīze am 22.März nachzulesen war, legt sich die lettische Hauptstadt Riga inzwischen eine Art "Speckgürtel" zu. "Die braven Steuerzahler verlassen Riga!", so die Schlagzeilen.

Beschrieben wird ein ziemlich eindeutiger Trend: Gleich 7,7 mal weniger Steuer- einnahmen pro Einwohner kann Lettlands ärmste Gemeinde einnehmen als Ķekava, ehemals nur durch eine Hähnchenproduktion im ganzen Land bekannt, heute offensichtlich der Lieblingssitz der Vermögensmillionäre. Damit liegt die ehemalige lettische "Hühnerhauptstadt" auch noch vor den so protzig auftretenden lettischen Monopolstädten Riga und Ventspils.

In Riga selbst dagegen kommt in den vergangenen Jahren ein ständig deutlich werdender Trend zum Tragen: die Steuereinnahmen sinken kontinuierlich und verlagern sich in die unmittelbaren Nachbargemeinden. In Riga wurden 2004 219,6 Lat (1 Lat = 0,7 Euro) pro Einwohner als Steuereinahme gezählt, in der Hafenstadt Ventspils waren es 248,47 Lat. In
Ķekava sind es dagegen schon 269,89 Lat.
In diese Statistiken gehen durch die Gemeinden eingenommene Grund- wie auch Einkommenssteuern ein (Daten der zentralen Statistikverwaltung Lettlands). In Riga, das gegenwärtig eine Fläche von etwa 300 qkm umfasst (67 qkm davon bewohnt), werden jedes Jahr weniger Einwohner ausgewiesen. 1995 waren es noch 810.200, 2005 nur noch 731.800.
Ein Teil davon zieht in Randgemeinden wie Ķekava, und diese profitieren davon und können dann auch ihrerseits in bessere Infrastruktur investieren. Straßen und Häuser werden renoviert, neue Kindergärten werden gebaut. "Bei uns gibt es so gut wie keine Arbeitslosigkeit", sagt dann auch die Gemeinderatsvorsitzende Dzintra Maļinovska (NRA 22.3.). Alle bisher brachliegenden Grundstücke, ehemalige Wiesen oder verlassenes Gelände, werden nun so dicht gebaut, dass bereits jetzt die Einwohnerdichte in Ķekava höher liegt als in Riga (59,5 Personen pro qkm gegenüber 48 in Riga und 36 im lettischen Durchschnitt).

Die Statistiken weisen die kleine Gemeinde Piedruja im Bezirk
Krāslava als ärmste, gerechnet nach Steuereinnahmen aus. Der Südosten Lettland gilt als längst abgehängt gegenüber der dynamischen Entwicklung in der Hauptstadtregion. Jānis Purmalis, Ortsvorsteher in Piedruja, hat denn auch andere Sorgen. "Nicht einmal die laufenden Ausgaben, wie etwa die Reparatur von Wasserrohren, kann gewährleistet werden," sagt er. In Piedruja leben 769 Einwohner, mit einem Arbeitslosenanteil von 29,3% - dem höchsten im Bezirk Krāslava. "Es gibt eine Grundschule und einen Grenzkontrollpunkt," berichten die lettischen Medien nüchtern. Dazu kommen 27 landwirtschaftliche Kleinbetriebe, ein kleines Gästehaus, und ein zusammen mit den zwei Nachbarorten betriebener Laden. Kein Paradies, so als Lebensmittelpunkt gewählt - so unterschiedlich können die Entwicklungsperspektiven in Lettland sein.

15. März 2006

The same procedure as every year, oder: wer feiert den 16.März?

Zu einem der nervösesten Tage des Frühjahrs ist in den letzten Jahren ist in der lettischen Hauptstadt Riga der 16.März geworden. Mehr als 15 Jahre nach Wieder- erlangung ärgern sich die meisten Letten nur noch über die Art und Weise, wie dieser Tag von verschiedenen Gruppierungen jeweils für die eigenen Zwecke instrumentalisiert wird.
Wie ist es dazu gekommen? Zumindest läßt sich sagen, dass die junge Republik nicht sehr souverän sich den anstehenden Themen genähert hat. Wie zu besten Zeiten des "kalten Krieges" schien in den 90er Jahren zu gelten: wer eine andere Meinung hat als ich selbst, der muss wohl mein Feind sein.

Da kamen Kriegsveteranen auf die Idee, ihrem zwar nicht erfolgreichen, aber doch der eigenen Ansicht nach ehrenvollen Kampf am Ende des 2.Weltkriegs gedenken zu wollen. Dieses Gedenken ist beeinflußt vom Kriegsverlauf: Lettland wurde zunächst von Sowjetruppen okkupiert, Tausende wurden nach Sibirien deportiert - Unterstützer für ein solches Regime gab es nur wenige. Der angeblich "Beitritt" Lettlands zur Sowjetunion war mehr ein Fußtritt für die demokratisch gesinnten Kräfte. Die stillschweigenden Übereinkünfte, die Hitler und Stalin dabei erzielten, schockierten viele und betrafen die meisten in Lettland persönlich: durch die Zuschlagung Lettlands zum "russischen Interessengebiet" war das Schicksal eines unabhängigen Landes besiegelt.

Es folgte dann die Besetzung durch die Truppen Nazideutschlands, die zwar im ersten Moment durch die Befreiung von den ungeliebten roten Machthabern ein Aufatmen hervorrief, aber bald ebensoviele Schrecken offenbarten. Die Teilnahme von einigen im Lande aktiven lettischen Rechtsradikalen bei der Judenverfolgung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Jahre in den Augen der meisten Letten Schreckensjahre waren. Zehntausende Juden wurden ermordet, und Regimegegner mussten entweder ausser Landes flüchten, oder wurden gnadenlos verfolgt. Die Letten erhielten unter den Nazis natürlich nicht die Selbstverwaltung zurück - sehr vertrauenswürdig können ihnen diese also nicht vorgekommen sein. Eigene lettische bewaffnete Einheiten waren nicht erlaubt - bis kurz vor Kriegsende, als Hitler meinte keine andere Wahl mehr zu haben. Wehrfähige Männer wurden dann zu SS einberufen - und diese Vergangenheit brandmarkt sie in den Augen der meisten europäischen Medien heute am meisten.

Tatsache ist aber auch, dass es nicht immer ehrenvolles Erinnern war, was "patriotisch gestimmte Kräfte" im Hochgefühl der Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit da jahraus, jahrein inszenierten. Das meist gehörte Argument war: "Wir sind ja damals in die SS gezwungen worden." Gut, möglich ist es, denn man kann sich ja vorstellen, was in der Nazi-Propaganda alles als "freiwillig" hingestellt wurde. Aber deshalb Jahr für Jahr sich ins Zentrum Rigas zu plazieren, und ausgerechnet diesen SS-Einheiten speziell zu gedenken - wer glaubt, dabei Pluspunkte für das Ansehen Lettlands zu erzielen, muss wohl blind sein. In einigen Jahren nahmen an diesen feierlichen Gedenkmärschen auch Amtspersonen aus Politik und Armee teil: aus Verpflichtung zum Wahlvolk, oder aus falsch verstandener Staatsräson.

Nach einigen Jahren gewohntem Ritual nahmen die starren Fronten schon nicht mehr ganz ernstzunehmende Formen an. Nationalistischen Russen, die nicht ganz einfache Integration der russischstämmigen Bevölkerung im unabhängigen Lettland ausnutzend, riefen nunmehr so laut sie konnten: Letten sind alle Faschisten! Ob Gegner der Schulreform, Arbeitslose, arme Rentner oder frisch rekrutierte 15-jährige Nachwuchsideologen: sie alle hatten eine dankbares Zielscheibe für ihre Sorgen. Sich selbst zum Antifaschisten auszurufen, gilt immerhin selten als unehrenhaft.

So wurde der 16.März zu einem echten "Event". Attraktiv nicht nur für alte Haudegen auf beiden Seiten, sondern auch für kreative Hardliner auf beiden Seiten. Wo etwas los ist, geht man doch gern hin! So gesellten sich auf der einen Seite die gewaltbereiten Nationalbolschewiken hinzu, auf der anderen Seite die bleichen Jünglinge der lettischen Nachwuchsnationalisten.
Erstaunlich die Zahlenverhältnisse: als ich im März 2005 vor Ort war, schien ein Drittel der anwesenden Menschen aus Polizeitruppen verschiedener Einheiten zu bestehen, und ein zweites Drittel aus dem pünktlich herbeibestellten Troß von Journalisten, meist auf russisch oder englisch eloquent eingewiesen und auf das folgende Schauspiel eingestimmt. Erstaunlich bei allen angeblichen Tumulten (so wie es die meisten Presseberichten darstellen) wirkt dabei die Erfurcht der verfeindeten Aktivistengruppen vor der Staatsmacht. Weder Steine noch Rauchbomben fliegen irgendwo, auch keine Wasserwerfer kommen zum Einsatz. Alles läuft wie eine gut geplante Inszenierung ab - und "Ordner" gehören in jedem Gedränge eben dazu. Bekommen die einen ihren "Umzug", und seien es auch nur die 800 Meter Wegstrecke vom Okkupationsmuseum zum Freiheitsdenkmal, so ist die Gegenpartei schnell zufrieden, wenn die mit Davidssternen und auffälliger Sträflingskleidung ausgestatteten Aktivisten zwei Minuten lang eine Straße blockieren können - direkt vor den Kameras und Mikrophonen der Presse natürlich.

In diesem Jahr scheint die lettische Regierung nunmehr dem ganzen Theater überdrüssig geworden zu sein. Im Herbst 2006 stehen Parlamentswahlen an in Lettland, und so denkt so manche politische Gruppierung zeitig über die richtige Strategie nach. Schon am 16.Januar titelte die "Latvijas Avize": "Wieder wartet der 16.März." Aufmerksam wurde da registriert, dass beide Seiten sich neu zu formieren begannen. Lettlands Rechtsradkale, bisher im "Klub 415" lose organisert, schlossen sich zu einer neuen politischen Partei zusammen, die auch zu den Wahlen anzutreten beabsichtigt. Die lettische Regierung sah sich veranlaßt bekanntzugeben, die Durchführung von "pseudo-patriotischen Veranstaltungen" doch bitte am 16.März zu unterlassen (BALTIC TIMES 16.2.06). Man überlegte auch, ob lange geplante Renovierungsarbeiten am Freiheitsdenkmal nicht so gelegt werden könnten, dass ein direkter Zugang in den Tagen um den 16.März unmöglich werden würde.
Auch die Nationalradikalen auf der russischen
Seite hatten diesmal eine spezielle "Geheimwaffe". Ein Filmteam brachte einen reißerischen Schinken auf den Markt unter dem Titel "die Faschisten des Baltikums", der nun genau am Abend des 16.März 2006 in einem russischen Fernsehkanal gezeigt wird. Der russisch-lettischen Freunschaft jedenfalls wird es wenig dienlich sein.

Am 13.März nun, also vor wenigen Tagen, entschieden sich die zuständigen Behörden der Stadt Riga, keinerlei öffentliche Demonstrationen am 16.März zuzulassen (NRA, LETA). Wen kann das überraschen? Die eifernden Aktivisten beider Seiten wird es enttäuschen.
Die alternden ehemaligen Legionäre werden sich auf dem Friedhof des kleinen kurländischen Ortes Lestene treffen, wo viele der Gefallenen begraben liegen, und auch ein Ehrenmal errichtet wurde.

Die russischen Fernsehzuschauer werden einen Fernsehfilm sehen, der sie hoffentlich nicht dazu verleiten läßt, von Letten pauschal Schlechteres zu erwarten als von anderen Völkern.
Viele lettische Stimmen empfehlen sowieso, den Kämpfern für Lettlands Freiheit (die es ja bei vielen Gelegenheiten gab, dazu braucht man das SS-Gedenken nicht) zusammen mit dem Gedenken an die Soldaten am 11.November zu begehen (Lacplesis-Tag). "Es darf nicht zugelassen werden, dass Verteidiger Lettlands und des lettischen Volkes einfach gleichgesetzt werden mit Radikalen, Extremisten, und Anhängern totalitärer Ideologien," schreibt nun auch LATVIJAS AVIZE. Ob damit aber Ruhe einkehrt? Ob den somit zwangsabgerüsteten Aktivisten nicht "langweilig" werden wird?

"Die Dänen dürfen Karikaturen veröffentlichen, warum dürfen wir nicht am 16.März unserer Legionäre gedenken?" so fragt etwas ketzerisch Atis Lejins, seines Zeichens Leiter des lettischen aussenpolitischen Instituts, in einem Zeitungskommentar (DIENA). Er schreibt die heftigen Proteste in erster Linie denen zu, die sich immer noch nicht damit abfinden können, dass Lettland heute ein unabhängiges Land sei.
Lejins weist aber auch darauf hin, dass in Estland der damalige estnische Aussenminister und heutige Abgeordnete des Europaparlament, Henrik Ilves, es geschaffte habe, die estnischen ehemaligen SS-Legionäre von einem öffentlichen Gedenkmarsch abzuhalten. Soviel Staatstreue war selbst dort vorhanden, und sie hätten verstanden, dass sie mit einem allzu lauten Beharren auf pompöse und gestenreiche Gedenkfeiern ihrem eigenen Staat schaden. In Estland sei es inzwischen so, dass potentielle Provokateure nur noch alte Männer zum Gottesdienst und wieder nach Hause gehen sehen können.

14. März 2006

Lettlands neue Atomjünger - was verursacht die neue "baltische Einheit"?

Die bewegte Vergangenheit
Wie romantisch wirken doch die Bilder von den Menschenketten und Protesten gegen sowjetischen Größenwahn aus den 80er Jahren: das überdimensionierte, auf unsicherem Untergrund gebaute und in der Bauweise höchst unsichere Atomkraftwerk Ignalina bei Visaginas in Litauen wurde zum Symbol nicht nur der litauischen Bewegung zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Endlich wieder selbst bestimmen, und unabhängig von ignoranten und menschenfeindlichen Planungen irgendwelcher Funktionäre Apparatschiks in Moskau sein!

So klangen zumindest die Parolen. Und es gab Erfolge: einige der im Bau befindlichen Blöcke des AKW Ignalina wurden erst gar nicht fertig gestellt, und in den 90er Jahren wurde der in Betrieb genommene Teil durch westeuropäische Sicherheitstechnik so weit wie möglich nachgerüstet, so dass Hoffnung bestand, wenigestens bis zur Abschaltung ohne Umweltkatastrophen davonzukommen. Lettland unterhielt nur einen kleinen Forschungsreaktor bei Salaspils, und auch der wurde in den 90er Jahren mit internationaler Hilfe ausser Betrieb gesetzt.

Dann kamen die EU-Beitrittsverhandlungen. Verstimmung kam bei einigen Litauern auf, dass die EU konkrete Beschlüsse zur Abschaltung des AKW Ignalina zur Vorbedingung für den Beitritt machte. Besonders die Bewohner des östlichen Landesteils Litauens sahen sich unnötig in die Defensive gezwungen, denn in den "modernen Zeiten" der Marktwirtschaft wurde der riesige Energieüberschuß, über den Litauen durch den Betrieb des AKW verfügte, zur willkommenen Einnahmequelle. Mit der Abschaltung bis 2009 sieht eine ganze Region den endgültigen Niedergang voraus, denn die meisten Auslandsinvestitionen gehen in die Hauptstadt Vilnius oder ni das auch bei West-Touristen leichter zugängliche West-Litauen. Litauische Lokalpolitiker machten schon lange Wahlkampf mit dem "Mit- mir-nicht"-Slogan und machten ihren Mitbürgern glauben, das Thema AKW-Schließung komme wie gerufen, um die Eigenständigkeit gegenüber der EU klarzustellen - obwohl gerade die EU bereits Milliarden von Euro allein in die Sicherung des AKW Ignalina investiert hatte.

Auslöser für strahlende Träume: die Ostsee-Pipeline
Endgültig die Wende an der Meinungsfront hat nun der geräuschvolle Abgang des deutschen Ex-Kanzlers Schröder und sein Vorsorgungposten bei der russischen
GAZPROM geschaffen. Während seine Partei-Kollegen bisher noch den Atomausstieg durch die schwarz-rote Koalition retten wollen, sorgen die Schlagzeilen um die ohne Beteiligung der baltischen Länder geplante Ostseepipeline für neue Hoffnung bei Atom-Jüngern.
Für ein kleines Land wie Litauen hatte ein Neubau eines AKW bisher immer für zu teuer und nicht lohnend gegolten. Nun steigen die Öl- und Gaspreise, das Verhalten der europäischen Großmächte kommt hinzu, und schon gibt es neue atomare Freunde.
Ķārlis Miķelsons, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender bei der lettischen LATVENERGO, sagte bereits am 25.Januar 2006 in einem Interview mit der Zeitung "Latvijas Avize": "Wir arbeiten an der Sicherung der Energieversorgung für unser Land. ... Die Frage ist nur, zu welchem Preis, und ob die Gesellschaft bereit ist, dafür zu bezahlen." Ausserhalb der für Lettland begrenzten Möglichkeiten der Wasserkraft habe man zwei Alternativen, neue Kraftwerke zu bauen: Kohle oder Atomkraft. Eine "politische Entscheidung" müsse her, so Miķelsons, denn den bereit stehenden Investoren reiche der gegenwärtige Marktpreis für Energie nicht aus. Dann sei LATVENERGO auch bereit, zum Aktionär eines "baltischen AKWs" zu werden, dass dann in Litauen zu bauen sei.

Alles hat seinen Preis - Atomlobby Schritt für Schritt
Also die Preise erhöhen, und dafür noch ein AKW vor der Nase stehen haben? Wem könnte diese Möglichkeit verlockend erscheinen?
"EU-Energiekommissar Andris Piebalgs sitzt wieder einmal zwischen zwei Stühlen," so beschrieb es noch am 4.Januar DER STANDARD aus Österreich. Piebalgs habe Physik studiert und sei erklärter AKW-Befürworter, so eine Pressestimme aus einem Land, das mehrheitlich sehr atom-kritisch eingestellt ist und gegenwärtig die EU-Präsidentschaft einnimmt.
"Balten wollen neues Atomkraftwerk" titelte dann aber schon am 5.Februar der TAGESSPIEGEL, und zitierte dabei ebenfalls vornehmlich lettische Quellen - Aussenminister Pabriks. Dieser wiederum bringt dann erstmals auch litauische Unterstützer ins Spiel: Präsident Valdas Adamkus habe sich bereits für das Vorhaben stark gemacht. "Angesichts der Debatte um Europas Energieversorgung, die durch den Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine ausgelöst worden war, erhoffen sich die Balten nun mehr Verständnis für ihr Projekt," heißt es da ebenso schlicht wie durchschlagend.

Die gemeinsame Abschlußerklärung eines am 26./27.Januar 2006 in Vilnius durchgeführten gemeinsamen estnisch-lettisch-litauischen Seminars zur Sicherung der Energieversorgung aller drei Länder sagt Ähnliches aus. Dort stellen die Vertreter aller drei Länder fest, dass die Energieversorgung unter den gegenwärtigen Umständen spätestens nach 2015 unsicher sei.

Die Schlußfolgerung der drei Baltenstaaten ist dabei nicht nur, dass die eigenen Länder eines neuen Energieversorgungskonzepts bedürfen. Schließlich hat man mit dem Letten Piebalgs erstens einen EU-Kommissar, und zweitens einen Atomjünger in den eigenen Reihen. Bei den internationalen Begrifflichkeiten ist man sich ebenso sicher, und so wird denn eine "Road map" der nachhaltigen und ausgewogenen Energieversorgung gefordert, die einen guten "Energiemix" enthalten müsse.

Litauen: Atommacht mit Erfahrung?
Nunmehr ist nur noch davon die Rede, dass Litauen ja Erfahrung habe mit dem Betrieb und der Sicherung von atomaren Anlagen. Soviel Lob vom lettischen Nachbarn? Auf eines kann zumindest die litauische Regierung bauen: die Bewohner der Region Ignalina werden wohl kaum auf die Barrikaden gehen, sollte ein AKW-Neubau in Angriff genommen werden. Und welche andere Region kann das schon von sich behaupten?
Die Regierung des Nachbarlandes Lettland zum Beispiel nicht. Kaum, dass die drei Ministerpräsidenten Kalvitis, Ansip und Brazauskas am 27.Februar 2006 höchstselbst verkündeten, den Bau eines neuen AKW im östlichen Litauen nun gemeinsam zu planen (LETA, TVNET, NRA, DIENA, DEUTSCHE WELLE, BBC,. BALTIC TIMES), regte sich im lettischen Daugavpils Protest.
"Wir verstehen nicht, warum Bürgermeister und Bezirks-Vorsitzende nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Das ist ein großer Bezirk, in dem 60.000 Menschen leben. Ich gehe davon aus, dass es in der Stadt heftigen Protest geben wird," wird etwa die Bürgermeisterin von Daugavpils, Rita Strode, von der DEUTSCHEN WELLE zitiert. Man habe eine Anfrage an die lettische Regierung in Riga gerichtet, wie solch ein Beschluß zustande gekommen sei.

Proteste kalkulierbar?
Aber werden solche Stimmen überhaupt ernst genommen?
Schließlich gilt Daugavpils als Randregion Lettlands, die von der lettischen Regierung wegen des hohen Anteils an russischstämmiger Bevölkerung auch nicht gerade mit einer bevorzugten Behandlung beglückt wird. In Estland waren bisher nur leise Proteste von der PRO PATRIA UNION zu hören (BALTIC TIMES 28.2.06), die sich gegenwärtig in der Oposition befindet, und die auch nur kritisert, dass über die gemeinsame Erklärung der drei Regierungschefs vom 27.2. in Estland nicht vorher diskutiert worden sei.
Auch die lettische Umweltbewegung protestiert. "Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv", so kramt man einen alten Spruch hervor. Gegenwärtig nutze die lettische Regierung nur 10% des von internationalen Wirtschaftsexperten diagnostizierten Potentials an Windenergie aus, so eine Presseerklärung des Umweltschutzklubs VAK. Zudem sei die zweitgrößte lettische Stadt Daugavpils eben nur 25km vom zukünftigen Bauplatz entfernt. Aber schon bei dem Bemühen um fachliche Kompetenz werden die Schwächen erkennbar: VAK muss in derselben Erklärung tschechische Fachleute und Expertisen zitieren - aus Mangel an eigenen Experten?
Wer die lettische Umweltbewegung in den letzten Jahren beobachtet hat, wird ohne große Mühe gleich mehrere Schwächen erkennen.
Trotz gegenteiliger Beteuerungen und Berufungen auf ideele und kulturelle Beweggründe ist der gesamte politische Teil der Umweltbewegung von der Unterstützung aus Kreisen der lettischen Ölindustrie abhängig. Im gerade aufkommenden Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Herbst 2006 wird der "Ölkönig von Lettland", Aivars Lembergs (Bürgermeister von Ventspils), offen als Spitzenkandidat und Regierungschef gehandelt, unterstützt durch die Partei der Grünen und Bauern, deren Wahlkampf er seit Jahren bereits finanziert. Und Mitglied der Regierung Kalvitis, die jetzt so v
ollmundig den Atomkurs verkündete, ist auch der Grüne Raimonds Vejonis, seines Zeichens Umweltminister. Ein Regierungsbeschluß, der offenen die Atomkraft unterstützt, ist aber offensichtlich ebenso für die Grünen Lettlands kein Grund, aus der Regierung auszutreten. Lieber beschäftigt man sich auf Parteikongressen mit Bemühungen, wie bekannte rechtsnationale Kräfte noch stärker an die Partei gebunden werden können - wie die liberale DIENA jüngst süffisant in einem Kommentar bemerkte.

Gemeinsam bemüht um Einfluß am Rad der Globalisierung
"Wenn EU-Energiekommissar Piebalgs sich vor fünf Jahren für die Nutzung von Atomkraft ausgesprochen hätte, wäre er politisch tot gewesen", so sieht es LAVENERGO-Chef Miķelsons. Müssen die Atom-Profiteure also nur auf den richtigen Moment warten?
Auf der einen Seite sind es baltische Ängste - von Deutschen und Russen kräftig geschürt - bei den Verhandlungen um die (wirtschaftliche) Zukunft Europas aussen vorgelassen zu werden. Zu Hause wird das Feld den ausländischen Investoren überlassen, während die einheimischen Arbeitskräfte nach Irland reisen, um dort für einige Monate u:m so ziemlich jeden Preis einen Billigjob anzunehmen.

Drei Milliarden Euro soll der Neubau eines AKW in Litauen kosten - so die ersten Schätzungen (Presseberichten zufolge: LETA, TVNET, NRA, DIENA), und wenn sie von AKW-Jüngern kommen, dann kann man gewöhnlich darauf vertrauen, dass sie beträchtlich höher liegen werden. Diese Kosten können auch von den drei baltischen Energieversorgern EESTI ENERGIA, LATVENERGO und LIETUVOS ENERGIA nicht zusammen aufgebracht werden.
Einen prominenten Unterstützer hat man bereits gewonnen: Mohamed El Baradei, seines Zeichens Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur IAEA, lobte das baltische Atomprojekt bereits als "Musterbeispiel regionaler Zusammenarbeit" - das verkündete das lettische Aussenministerium gleich lieber selbst stolz in einer Presseerklärung am 7.März. Und nur einen Tag später wurde ebenfalls in der lettischen Presse bekannt (TVNET), die drei baltischen Regierungen hätten nunmehr mittels eines gemeinsamen Memorandums eine Machbarkeitsuntersuchung eines AKW-Baus in Litauen beschlossen.

Strahlende Zukunft für die "baltischen Tiger"?
In der "Neatkariga Rita Avize" (NRA) waren am 25.Januar Äusserungen von Aigars Meļko nachzulesen, der dort als Vizepräsident von LATVENERGO zitiert wird.
"Zu Anfang könnten wir uns an einem AKW-Bau in Ignalina beteiligen," so Melko, "so um 2025 bis 2030 könnten wir dann ein eigenes AKW in Lettland bauen."
Verrückte Träume eines unbeirrbaren Atomjüngers, der nun mal mit dem Verkauf von Energie sein Geld verdient? Im gleichen Artikel stehen aber interessante Einzelheiten. Bereits zu sowjetlettischen Zeiten in den 80er Jahren habe man konkret den Bau eines AKW im Küstendörfchen Pāvilosta vorgehabt, erzählt Melķo. Heute aber müsse man in erster Linie drei Faktoren im Auge behalten: die reale Sicherheit einer Anlage, die Möglichkeit Geld von Investoren in Lettland einzusetzen, und die öffentliche Meinung. Der Einschätzung von Uģis Sarma, Leiter der Abteilung Energiewirtschaft im lettischen Wirtschaftsministerium zufolge, ist in Lettland vorläufig aber keine Einigung absehbar, an welchem Ort ein neues lettischen AKW stehen könne. Natürlich müsse man auch für die "Abfallsicherung" selbst sorgen, und auch dafür sei kurzfristig keine Lösung in Sicht (ausserdem ein feiner Hinweis darauf, dass man Litauen mit der Abfallentsorgung für ein neues AKW wohl ebenfalls am liebsten allein lassen möchte!).

Der Engergieverbrauch in den baltischen Staaten steigt momentan parallel zum beständigen Wirtschaftsaufschwung. Dennoch habe man noch sehr wenig über Einsparmöglichkeiten nachgedacht, geben politische Kommentatoren wie Pēteris Strautiņš in der DIENA zu bedenken. Da sei es eben einfacher, wenn Politiker sich überdimensionierten "Riesenspielzeugen" wie den atomaren Großprojekten widmeten, mahnt er. "Was wäre billiger - an jede Familie 20 Energiesparglühbirnen zu verschenken, oder neue Kraftwerke zu bauen?" Schon diese Überlegung sei es wert, über die angebliche Unverzichtbarkeit jeder neuen Großinvestition gründlich nachzudenken, mahnt er.
Solche ketzerischen Fragen finden aber offensichtlich in der baltischen Wirtschaftspolitik momentan kein Gehör.

2. März 2006

Kulturschock in Lettland?

Ein lesenswerter erster Eindruck einer deutschen Schulpraktikantin in Lettland. In ihrem Blog "Kein Kakao im Osten" der Eintrag vom 21. Februar: "Kulturschock".
Ein kleiner Auszug daraus:
...
Das einzige, was aber wirklich so richtig schlimm ist, ist das Essen. Wenn ich doch nur wuesste, was es hier im Supermarkt gibt... aber es scheinen fast alles lettische Spezialitaeten zu sein, sodass ich nicht mal anhand der Bilder erkennen kann, was es gibt. Also esse ich das, was ich erkennen kann: Muesli. Und das seit drei Tagen. Richtigen Hunger habe ich auch ueberhaupt nicht, mal sehen, wie sich das mit dem Essen in den naechsten Tagen so entwickelt. Obwohl, fuer eine Hawaiipizza wuerde ich auf jeden Fall jemanden umbringen

...
wer auch noch die Beiträge am Ende dieses Lettland-Aufenthalts lesen möchte (Mitte März 2006), klickt sich HIER ein.

1. März 2006

Erneute Niederlage gegen Lettland - die Fußball-WM kann kommen!

Nicht unbedingt ausführlich wird die Berichterstattung vermutlich zum Spiel der deutschen U21-Fußballnationalmannschaft gegen das A-Team von Lettland ausfallen. "Eine Partie von ernormer Bedeutung" - so wurde U21-Nationaltrainer Dieter Eilts noch vor dem Spiel in der Presse zitiert (Sport1). Im norddeutschen Wolfsburger Karnevals-Exil setzte es am Faschingsdienstag eine 1:2 Niederlage, wobei der lettische Torwart erst in der 90.Minute bezwungen werden konnte. In 14 aufeinanderfolgenden Spielen war Eilts als Nachwuchstrainer mit seinem Team ungeschlagen geblieben - und nun: erneut Lettland!

"U21 will sich im Spiel gegen Lettland Selbstvertrauen holen", war im HANDELSBLATT zu lesen. Vor Maris Verpakovskis hatte Eilts gewarnt - es nützte nichts. Zusammen mit Imants Bleidelis zählte Verpakovskis auch diesmal wieder zu den Torschützen.
"Mit zwei Borussen gegen Lettland" hatte auch die Homepage von Borussia Mönchengladbach vor dem Spiel verkündet, kürte den Gegner aber auch zum "harten Brocken". Seit dem trostlosen 0:0 der deutschen A-Nationalmannschaft bei der EM in Portugal ist das wohl so. Doch mit einer "zweiten Mannschaft" können die Deutschen offensichtlich nicht mal im eigenen Stadion (also "zu Hause") gewinnen! Es waren allerdings auch nur 2150 Zuschauer da.
Das Deutsche Sportfernsehen DSF übertrug die Partei live (leider nicht nach Lettland).

Was bleibt den Deutschen? Nur das sportliche Philosophieren. "Sport1" schreibt: "
Obwohl die in der WM-Qualifikation deutlich gescheiterten Letten die Partie durchaus ernst nahmen, waren die DFB-Junioren ein mehr als gleichwertiger Gegner." Noch Fragen?
Dazu kann man wohl nur sagen, dass in Lettland momentan gar keine Saison ist - die beginnt erst in etwa einem Monat. Von einer "besser eingespielten Mannschaft" kann also auch keine Rede sein.

Ein ausführlicher Spielbericht ist auf der Homepage des VFL Wolfsburg zu lesen. In der lettischen Sportpresse (TVNet, LETA, Delfi) werden die Tore gegen die "deutschen Jungs" hervorgehoben - denn schließlich stand ein Torwart vom "Weltklub" Bayern München im Kasten.
Eine Webseite der UEFA sagt es so: "Germany learn from Latvia!"