24. März 2006

Die Reichen und die Armen - das ungleiche Lettland

15 Jahre ist es schon her, seit mit Unterstützung der Volksbewegung zur Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit auch der wirtschaftliche Umschwung eingeleitet wurde. Von den Staaten Westeuropas wurde Demokratisierung, Privatisierung und Marktwirtschaft vielfach gelobt. Heute läßt sich jedoch an vielen Faktoren nachvollziehen, dass der durch Wachstumsstatistiken propagierte "Aufschwung" nicht gleichmäßig bei der lettischen Gesellschaft ankommt.
Eine interessante Statistik wurde in der lettischen Presse kürzlich veröffentlicht. Wie zum Beispiel in der
Neatkarīgā Rīta Avīze am 22.März nachzulesen war, legt sich die lettische Hauptstadt Riga inzwischen eine Art "Speckgürtel" zu. "Die braven Steuerzahler verlassen Riga!", so die Schlagzeilen.

Beschrieben wird ein ziemlich eindeutiger Trend: Gleich 7,7 mal weniger Steuer- einnahmen pro Einwohner kann Lettlands ärmste Gemeinde einnehmen als Ķekava, ehemals nur durch eine Hähnchenproduktion im ganzen Land bekannt, heute offensichtlich der Lieblingssitz der Vermögensmillionäre. Damit liegt die ehemalige lettische "Hühnerhauptstadt" auch noch vor den so protzig auftretenden lettischen Monopolstädten Riga und Ventspils.

In Riga selbst dagegen kommt in den vergangenen Jahren ein ständig deutlich werdender Trend zum Tragen: die Steuereinnahmen sinken kontinuierlich und verlagern sich in die unmittelbaren Nachbargemeinden. In Riga wurden 2004 219,6 Lat (1 Lat = 0,7 Euro) pro Einwohner als Steuereinahme gezählt, in der Hafenstadt Ventspils waren es 248,47 Lat. In
Ķekava sind es dagegen schon 269,89 Lat.
In diese Statistiken gehen durch die Gemeinden eingenommene Grund- wie auch Einkommenssteuern ein (Daten der zentralen Statistikverwaltung Lettlands). In Riga, das gegenwärtig eine Fläche von etwa 300 qkm umfasst (67 qkm davon bewohnt), werden jedes Jahr weniger Einwohner ausgewiesen. 1995 waren es noch 810.200, 2005 nur noch 731.800.
Ein Teil davon zieht in Randgemeinden wie Ķekava, und diese profitieren davon und können dann auch ihrerseits in bessere Infrastruktur investieren. Straßen und Häuser werden renoviert, neue Kindergärten werden gebaut. "Bei uns gibt es so gut wie keine Arbeitslosigkeit", sagt dann auch die Gemeinderatsvorsitzende Dzintra Maļinovska (NRA 22.3.). Alle bisher brachliegenden Grundstücke, ehemalige Wiesen oder verlassenes Gelände, werden nun so dicht gebaut, dass bereits jetzt die Einwohnerdichte in Ķekava höher liegt als in Riga (59,5 Personen pro qkm gegenüber 48 in Riga und 36 im lettischen Durchschnitt).

Die Statistiken weisen die kleine Gemeinde Piedruja im Bezirk
Krāslava als ärmste, gerechnet nach Steuereinnahmen aus. Der Südosten Lettland gilt als längst abgehängt gegenüber der dynamischen Entwicklung in der Hauptstadtregion. Jānis Purmalis, Ortsvorsteher in Piedruja, hat denn auch andere Sorgen. "Nicht einmal die laufenden Ausgaben, wie etwa die Reparatur von Wasserrohren, kann gewährleistet werden," sagt er. In Piedruja leben 769 Einwohner, mit einem Arbeitslosenanteil von 29,3% - dem höchsten im Bezirk Krāslava. "Es gibt eine Grundschule und einen Grenzkontrollpunkt," berichten die lettischen Medien nüchtern. Dazu kommen 27 landwirtschaftliche Kleinbetriebe, ein kleines Gästehaus, und ein zusammen mit den zwei Nachbarorten betriebener Laden. Kein Paradies, so als Lebensmittelpunkt gewählt - so unterschiedlich können die Entwicklungsperspektiven in Lettland sein.

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