31. Juli 2006

Vorschau aufs Sängerfest, Rückschau auf BALTICA 2006

Wem das Warten aufs nächste große lettische Sängerfest zu lang wird, konnte sich dieses Jahr im Juli mit dem Folklorefest BALTICA 2006 in Lettland trösten. Eins haben beide lettische Kulturevents gemeinsam: eine Infoseite im Internet: Hier finden sich sowohl Fotos von der Veranstaltungen der BALTICA 2006, eine Liste der Teilnehmer/innen aus allen Landesteilen Lettlands, wie auch genauere Angaben zu den Veranstaltern. Allerdings sind im lettischsprachigen Teil erheblich mehr Infos zu finden - im englischsprachigen gibt es nur den Bereich "guests" (Gäste) - dafür aber auch schöne Fotos von allen hier aufgeführten Gruppen. Gäste aus Deutschland sind hier leider nicht vertreten.
Wer Lettland gern kennenlernen möchte, wird immer wieder auf die herausragenden Sängerfeste hingewiesen. Fans können schon jetzt die Wartezeit auf den Sommer 2008 mit Neuigkeiten aus dem Internet überbrücken. Leider nur in verkürzter Fassung in Englisch - allerdings auch schon mit einer detaillierten Liste aller einzelnen Feierlichkeiten im ganzen Land. Interessant auch der Bereich "History", der eine ausführliche Darstellung der Geschichte der lettischen Sängerfeste enthält (Englisch). Im lettischsprachigen Teil wird der Bereich "Konkursi" ergänzt, denn Chöre müssen sich natürlich für die Teilnahme erst noch bewerben! Für "Insider" interessant ist die Glückwunschliste (hier werden Jubilare beglückwünscht). Und für diejenigen, die selbst bei bekannten Chören anfragen möchten, ist vielleicht die Kontaktliste (Links) interessant.

Weitere Materialien sind leider nur in Lettisch hier zu finden. So zum Beispiel die gemeinsame Resolution Estlands, Lettlands und Litauens an die UNESCO, die Sängerfeste in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen (18.2.2005).

27. Juli 2006

Neue Einsichten, alte Ansichten

Eigentlich war ich auf der Suche nach Informationen über den unter Denkmalschutz stehenden Holzpavillon im Park Arkadija in Riga - der ist nämlich vor eingen Tagen ausgebrannt (TVNET, DIENA, Delfi.lv, NRA, Apollo.lv). Brandstiftung, mal wieder ein schönes Gebäude weniger in Riga. :-(
Abseits aller Prunkbauten auf der "guten Seite der Daugava", in der Rigaer Altstadt (die inzwischen von Banken und Edelrestaurants geradezu okkupiert ist). "Arkadija" liegt in "Pardaugava", also auf der anderen Seite des Flusses. "Arkadija" heißt der Park (gemäß den bekannten griechischen Mythen) seit 1910, und der bis vor kurzem noch bestehende Holzpavillon war zunächst Restaurant, dann beherberte er in der Sowjetzeit ein Kino. Jetzt gibt es Spekulationen, dass die zuständigen Behörden des Stadtrats und die mit ihnen oft "verquickten" neureichen Unternehmer schon lange darauf warteten, dass dieser Platz endlich "frei" wird für "lohnenswertere" Geschäfte ....

Weniger bekannt ist heute, dass es genau dieser Park war, wo sich zu den Glanzzeiten der lettischen Unabhängigkeitsbewegung die Demonstranten versammelten, wenn ihnen wieder mal von den Stadtoberen das Demonstrieren in der Altstadt verboten worden war. Slogans wie "Kein Ubahn-Bau in Riga!" oder Ähnliches hat der Park also vielfach gesehen. Und auch in der ersten "Nachwende"zeit hielt eine Initiativgruppe des lettischen Umweltverbands "Vides Aizsardzibas Klubs" (VAK) Haus und Park in Ordnung: zunächst waren es Austellungen von in Sojwetzeiten "unerwünschter" Malerei, dann Seminare zur Umwelterziehung, und schließlich auch Kulturfestivals wie Maskenball, Kinderfeste und Theater zum Selbermachen.
Aber der Stadtrat - das Gelände ist in staatlichem Besitz - weigerte sich jahrelang standhaft, das Gelände zu "privatisieren", also entweder zur privaten Nutzung per vertraglicher
Regelung langfristig freizugeben, oder zu verkaufen. Ende der 90er Jahre gaben die Bürgerinitiativen schließlich auf ... - das private Leben war inzwischen für sie auch zu teuer geworden, um sich mit dieser Arbeit, ohne Aussicht auf realistische Angebote des Stadtrats - rein ehrenamtlich herumzuschlagen. Als auch die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung, die zwischenzeitlich Seminare und einige Umbauarbeiten gefördert hatte, die Zusammenarbeit einstellte, war es mit dem bürgerschaftlichen Elan vorbei. Das Gebäude verfiel immer mehr.

Nun ist es also abgebrannt. Schon vor Jahren war eine kleine in der Nähe liegende Bühne niedergebrannt (als "Brandstifter" werden in den lokalen Medien meist "herumlungernde" Obdachlose vermutet). Anfang des Jahres brannte es in einem Anbau des Pavillons. Und nun also das Gebäude selbst. Was bleibt zu sagen?

Wie gesagt, "eigentlich" war ich auf der Suche nach Informationen dazu. Dann geriet ich auf eine Seite der lettischen Nationalbibliothek, die zunächst einen Ausblick von den ehemaligen Dünen des Arkadija-Parks auf die Rigaer Stadtsilhouette zeigt. Was aber hier sonst noch alles versammelt ist! Ein Klick nach Links oder Rechts, und schon wandern wir durchs alte Riga vor beinahe 100 Jahren!
Wollten Sie schon immer mal wissen, wie der Rigaer Pulverturm vor dem Umbau (der in den 30er Jahren vorgenommen wurde) aussah?
Oder wussten Sie schon, dass die großen Sängerfeste früher direkt im Stadtzentrum, auf einem großen Pletz (etwa dort, wo heute das Janis-Rainis-Denkmal in einem Park steht) veranstaltet wurden? Oder Sie möchten sich mal eine dramatische Darstellung des ehemaligen "Deutschen Theaters" (heute Rigaer Oper) ansehen?
Dank der Lettischen Nationalbibli
othek - die ja momentan sich auf einen Bilbliotheks-Neubau an der Daugava vorbereitet - müssen Sie für solche Einblicke kein Sammler alter Postkarten sein!
Dank diesem schönen Projekt können wir uns ganz leicht einmal das Wohnhaus von Richard Wagner (so wie es vor 100 Jahren aussah) ansehen, oder auch das ehemals an der Stelle des heutigen Unabhängigkeitsdenkmals befindliche
Reiterstandbild Peters des Großen (vor dem 1.Weltkrieg).

Auch Sozialgeschichtliches können wir durch bloße Ansicht dieser alten Postkarten dazulernen. Etwa vom "Tag der weißen Blumen", wenn hübsch geschmückte Wagen durch die Straßen fahren, um an diesem Tag für Spenden zugunsten Tuberkulosekranker zu werben.

Aber neue Einsichten aus alten Ansichten - können wir darauf hoffen? Werden die Rigaer Stadtväter jetzt - nach jahrelang gezeigtem Desinteresse - jetzt doch Sponsoren finden für einen Wiederaufbau des schönen Holzpavillons im Arkadija-Park? Oder werden wir in dieser bisher so erholsamen und unaufgeregten Ecke Rigas in Kürze eher ein teures Luxusrestaurant, oder gar einen kommerzorientierten Vergnügungspark wiederfinden?

24. Juli 2006

Ungewollte Attraktionen - Tumulte um Schwule und Lesben in Riga

Schon im Juli 2005 hatte das Stichwort "Rigas Praids" für erhebliche Turbulenzen in der lettischen Hauptstadt Riga gesorgt. Auch 2006 scheint das Thema wieder einerseits zum willkommenen Instrument rechtskonservativer lettischer Parteien im Wahlkampf zu werden, und andererseits zur Bühne der europäischen Schwulen- und Lesbenbewegung.

Worum geht es?
Mit-Initiatoren der ersten öffentlichen Demonstration der Schwulen- und Lesbenbewegung in Riga waren 2005 schwedische Veranstaltungspartner eines gleichnamigen Events gewesen ("Stockholm-Pride").
Schon damals waren nicht etwa Hunderte lettischer Schwulen und Lesben zu erwarten, die sich nun plötzlich auf den Straßen der Rigaer Altstadt "outen", sondern in erster Linie war es ein europaweiter Aufruf an Gleichgesinnte, die Gelegenheit zu nutzen um ihre Präsenz in Osteuropa zu demonstrieren - schließlich werden ähnliche Vorhaben von Behörden anderer osteuropäischer Länder regelmäßig untersagt, oder enden (wie im Mai 2006 in Moskau) regelmäßig gewalttätig - inklusive der polizeilichen Ankündigung, dass Demonstrationsteilnehmer/innen mit solcher Gewaltreaktion "rechnen" müssten und jeglichen Schutz ablehnen.

Offenbar gibt es genug lettische Lokalpolitiker, die "Rigas Praids", dieses angeblich der "lettischen Mentalität" so fremde Ereignis angesichts der hohen Prozentzahl von nur für diesen Zweck aus dem Ausland eingereister Demonstranten für eigene Zwecke instumentalisieren wollen - während weitsichtigere Amtsinhaber wie Staatspräsidentin Vīķe-Freiberga oder Aussenminister Pabriks sich von solchem durchsichtigen Populismus zu distanzieren wissen und sich für eine tolerante Praxis der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit aussprechen.
2005 war es der stellvertretende Rigaer Bürgermeister Lujāns, der angeblich wegen der damals von den Behörden genehmigten, aber von seiner "Ersten Partei" (Pirmā Partija) so vehement abgelehnten Veranstaltung aus seinem Amt zurücktrat (Kritiker spekulierten, er habe nur eine günstige Gelegenheit zum Sprung aus der ungeliebten Stadtrats-Regierungskoalition genutzt). Auch damals flogen schon Eier und Tomaten auf die Veranstaltungsteilnehmer/innen, ein von "Praids"-Sympathisanten durchgeführter Gottesdienst wurde massiv gestört. Die Polizei zeigte sich überrascht von solch heftigem öffentlichem Aufsehen und offenen Aufrufen zur Gewaltanwendung gegen Unterstützer von "Rigas Praids". .

Aus Erfahrungen nichts gelernt?
Diskussionen erzeugte die geplante Wiederholung des so aufsehenerregenden Events - das ja mitten in die touristische Hochsaison fällt - schon Monate im voraus. Als die beliebte Fernsehdiskussion "Kas Notiek Latvijā" (Was passiert in Lettland - wöchentlich im lettischen Fernsehen) das Thema im Mai aufnahm, zeigte es sich , dass viele der maßgeblichen lettischen Politiker/innen auf einen Kompromiss für 2006 hofften. Einige dachten wohl daran, dass die Organisatoren von "Rigas Praids" vielleicht sich mit einem Demonstrationszug außerhalb der Altstadt zufrieden geben könnten, und kritisierten das bisherige Konzept als "eindeutig rein provokativ". Ministerpräsident Kalvitis (Tautas Partija - "Volkspartei") hielt das Stadtzentrum oder die Altstadt Rigas für nicht geeignet für solche Veranstaltungen - und sorgte sich stattdessen öffentlich um die Erhaltung christlich-moralischer Werte.
Selbst Ilze Brands-Kehre, Leiterin des lettischen Zentrums für Menschenrechte und ethnische Studien, sprach sich gegen die Organsisation eines derartigen öffentlichen Marsches aus - das Anliegen sei lediglich "populistisch" anzusehen und könne nur negative Folgen haben (Delfi.lv).

In dieses Bild passt auch eine Parlamentsentscheidung zu einem neuen lettischen AntiDiskriminierungsgesetz vom Mai 2006: Das Gesetz schützt gegen Diskriminierung wegen Geschlecht, Alter, Behinderung, Religion, politischer Anschauung oder Nationalität - Die Worte "aufgrund sexueller Orientierung" wurden ersatzlos gestrichen (siehe auch: TAZ 24.6.06)
Innenminister Jaunkeižars - Mitglied ebenfalls der fundamentalistisch-christlichen "Pirma Partija" - entschied nun, die ihm unterstehenden lettischen Sicherheitskräfte sähen sich außerstande, die allgemeine Sicherheit rund um "Rigas Praids" zu garantieren - und legte den Gerichten nahe, die Veranstaltung gar nicht zuzulassen.
So geschah es auch, aber damit nicht genug. Dermaßen politisch ermutigt und siegessicher, starteten rechtsradikale Organisationen wie der "Klub 415" eine Unterschriftenkampagne gegen jegliche Aktivitäten der Schwulen- und Lesbenorganisationen am angesagten Aktionstag im Juli. Die Ablehungsfront zieht sich übrigens nicht parallel - wie sonst gewohnt - zwischen Letten und Russen, sondern eher im Gegenteil: der russische Botschafter Viktor Kalyuzhny war einer der ersten, der den Thesen des katholischen lettischen Erzbischofs Pujats davon, "Rigas Praids" würde die "Tugendhaftigkeit des Volkes" gefährden, öffentlich anschloß (siehe auch "Mosnews"). Rigas Einwohnerschaft besteht zu etwa 50% aus Russischstämmigen - aber im Haß auf "Homos und deresgleichen" und in der Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung ihrer Ziele stehen einzelne Russen ihren lettischen Gesinnungsgenossen offensichtlich in nichts nach.

Schon das Logo der "NoPride"-Aktivisten würde wohl anderwo in Europa als ehrverletzend angesehen werden - in Riga karikiert es nur den allgemeinen Strom des Populismus im Schatten der allgemeinen Enttäuschung über die Selbstverliebtheit der lettischen Parteien. Die Internetseite dieser national gestützten scheinbaren Moralisten präsentiert auf Videos anderer schwuler Aktionstage in Europa - angeblich "zur Abschreckung", und nicht ohne den Hinweis, dass Jugendliche unter 18 Jahren diese Videos bitte nicht ansehen mögen ...

Lettland undemokratisch?
Was ist das Ergebnis der erneuten Rangeleien um öffentliche Präsentationen schwulen und lesbischen Selbstbewußtseins in Riga?
Die "NoPride"-Aktivisten feiern einen Sieg: Eine öffentliche Demonstration blieb verboten, aber auch die "ersatzweise" auch für die eingereisten Gäste (wie die Abgeordnete des Europaparlaments aus Österreich Ulrike Lunacek) angebotenen Veranstaltungen konnten nur im angesichts einer versammelten Drohkulisse stattfinden, unter offensichtlicher Zurückhaltung der Polizei. Ein Gottesdienst endete mit einem "Faustkampf" (so lettische Presse und BALTIC TIMES) zwischen den verschiedenen Gruppen, eine Seminarveranstaltung der "Rigas Praids"-OrganisatorInnen konnte nur mit Hilfe des hoteleigenen Sicherheitspersonals stattfinden.
Dort, wo das Ereignis überhaupt in den europäischen Medien Aufmerksamkeit erregte, wurden vor allem die Reaktionen der ausländischen Gäste in Riga wiedergegeben ("Politiker schockiert" - der Standard), der lettische Außenminister Pabriks sieht sich zum wiederholten Mal veranlaßt, zu "mehr Toleranz" in der lettischen Gesellschaft aufzurufen.

Lettland befindet sich offensichtlich einmal mehr auf dem Scheideweg. Mit der "NoPride"-Bewegung erneut hochgespült an die Öffentlichkeit wird der offene Haß einiger politischer Aktivisten, die sich durch den Umbruch im politischen System Lettlands benachteiligt fühlten (Schlagworte vom "Ausverkauf des eigenen Landes" und der "Diktatur Europas").
Ein Popsänger wie Kaspars Dimiters ist sich nicht zu schade, Schwulen und Lesben die Gleichberechtigung abzustreiten und dagegen auf die Gründung einer "nationalen Front" zu hoffen. Und eine Tageszeitung wie die "Neatkarīga Rīta Avīze" (NRA) ist sich nicht zu schade, die journalistische Unabhängigkeit aufzugeben und sich zur "Stimme des Volkes" zu machen: Artikel wie "wieder fordert die schwule Bewegung Unruhen in Riga herauf", oder "Schwule zeigen sich überrascht von logischen Gerichtsbeschlüssen" sollten wohl am ehesten erstmal die Auflage steigern. Die eigentlich als konservativ bekannte "Latvijas Avize" (LA) zeigt sich seltsam gespalten, und will offensichtlich eher durch extrem unterschiedliche Beiträge die Diskussion wiederzuspieglen, ohne sich selbst zu disqualifizieren. Am 22.Juli beleuchtet LA in einem Beitrag über Eltern von sieben Kindern das Thema ("Meine Wahl - die traditionelle Familie"), zitiert am auch in einem Kommentar vom gleichen Tage ("Pārdomas par lepnuma parādi") den Philosophen Voltaire: "Ich stimme eurer Meinung nicht zu, aber ich werde bis zu meinem Tode euer Recht verteidigen, eure Meinung zu äussern."

Am deutlichesten werden aber liberalere Meinungsäusserungen in Lettlands führender Tageszeitung DIENA. "Warum muss ich lettischen notorischen Alkoholikern positiver gegenübertreten als Menschen, die lesbisch oder schwul sind?" kommentiert Inga Spriņģe am Vortag der hektischen Ereignisse. Viestarts Gailītis zitiert am 22.Juli Linda Freimane, selbst in Schweden aufgewachsen, und eine der Mitorganisatorinnen von "Riga Praids" mit den Worten: "die Pirma Partija hat doch kein Monopol auf die moralischen Vorstellungen; wir sind der Überzeugung, das jeder Mensch für sich einen Eigenwert hat, und nicht nach sexueller Orientierung qualifiziert werden kann." Und in der gleichen Ausgabe wird ein Aufruf von lettischen Intellektuellen und Künstlern von DIENA veröffentlicht, der sich besorgt zeigt über eine "Welle des Hasses", die Lettland überschwemmen könnte. Und ein weiterer Beitrag warnt, dass die Verbotsentscheidung der lettischen Gerichte sehr bald Thema beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sein könnte.

Schaden für das Ansehen Lettlands
Die Ereignisse, auch das Umgehen lettischer Politiker damit - tragen wahrlich nicht zu einem besseren internationalen Image Lettlands bei - da dürften sich die meisten einig sein. MOSAIKA - die lettische Vereinigung der "Schwulen & Lesben und deren Freunde" fordert nun den Rücktritt des lettischen Innenministers Dzintars Jaundzeikars - bis zum 25.Juli hatten diesen in Lettisch, Englisch veröffentlichten Appell über 750 UnterzeichnerInnen aus dem In- und Ausland unterschrieben. Die Tatsache allerdings, dass auch Politiker/innen anderer Staaten dieses augenscheinlich innenpolitische Ziel mit unterschrieben haben, wird ihnen in Lettland allerdings auch wenig neue Freunde schaffen.
Das lettische Portal GAY.LV sammelt die Schlagzeilen aus aller Welt, vornehmlich den nordischen Nachbarstaaten. Stellungnahmen gibt es auch von Human Rights Watch und Amnesty International. Einigen Äusserungen der Schwulen und Lesben zufolge waren in Riga "christliche Fundamentalisten und Faschisten" als gewalttätige Angreifer gegen friedliche Demonstranten am Werk (US Gay News). Hier hat auch der Satz "das ist ja schlimmer als in Moskau" seinen Ursprung - gerne übernommen von der gern sich postsozialistisch, aber durchweg wenig "Balten-freundlich" gebenden "Jungen Welt".

In diesem Herbst ist in Lettland Parlamentswahlkampf. Das Internetportal POLITIKA.LV hat Aussagen verschiedener lettischer Parteien gesammelt. Da ist nachzulesen, dass etwa die lettische Bauernvereinigung, die im Parlament eine per Listenvereinigung mit den lettischen Grünen zusammengeht, den "sexuellen Minderheiten" (so der im Lettischen für Schwule und Lesben gebrauchte Begriff) selbst die Schuld für die Unnachsichtigkeit der Gesellschaft zuschreiben. "In der öffentlichen Austragung und Präsentation ihrer unterschiedlichen sexuellen Orientierung werde das Fehlen die fehlende Toleranz bei vielen Menschen eher noch gefördert", meinen die "grünen Bauern" Lettlands. Nur "mehr Informationen über Toleranz und über Homophobie" könne die Situation verbessern - jeder Mensch müsse aber auch nicht nur seine eigene individuelle sexuelle Orientierung in den Vordergrund stellen, sondern auch seine Mitmenschen und sein soziales Umfeld berücksichtigen - lettische Parteien auf der Suche nach dem Mehrheitsgeschmack bei den Wählern?

Trittbrettfahrer - in die eine oder andere Richtung - werden nun eine Weile Hochkonjunktur haben. Und Lettland bleibt, wie es scheint, noch auf Jahre hinaus ein "Sommerlochthema" erhalten ...

12. Juli 2006

Trau, schau wem - Letten vertrauen weder Europa, noch den eigenen Politikern

Von Europa-Enthusiasten wie von EU-Kritikern werden die Ergebnisse vergleichender Umfragen in den EU-Staaten immer wieder mit Interesse gelesen. Auch beim Eurobarometer, einer von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen regelmäßigen Befragung, werden die angeblich so nüchternen Zahlen von den Medien der unterschiedlichen Länder aus unterschiedlich interpretiert.

Aus deutscher Sicht: Unkenntnis weit verbreitet
"Erweiterung wird vorwiegend positiv gesehen", so war es zum Beispiel am 30.5. in der deutschen FAZ zu lesen. Wiedergegen wird dort immerhin auch, dass 52% der Deutschen, aber nur 40% der Österreicher die Erweiterung positiv sehen. Aus Sicht der Deutschen sind die möglichen Folgen der Globaliserung das am meisten Besorgnis erregende: 59% stimmen dem zu.
In der "Berliner Zeitung" vom 12.7. führten Eurobarometer-Statistiken noch zu krasseren Aussagen: "Für die Menschen in Ostdeutschland ist die EU wie ein Raumschiff, das irgendwo über Europa schwebt, ohne Verbindung zu ihnen. Es ist für sie sogar so weit weg, dass die meisten der Ostdeutschen nicht einmal mitkriegen, wenn Nachbar Polen der EU beitritt." Bezug genommen wurde dabei auf Umfrageergebnisse, nach denen die Ostdeutschen immer noch zu 48% glauben, die EU hätte weiterhin nur 15 Mitgliedsstaaten - und mit diesem Mangel an Wissen noch hinter Rumänien und Bulgarien zurücklagen. Auch die Leipziger Volkszeitung merkt dazu an: "Statt die EU von innen her zu reformieren, sie bürgernaher zu gestalten und auf die Sorgen der Menschen
einzugehen, wird munter über Erweiterungen debattiert." Und aus Österreich meldet "die Presse": "69% der Österreicher fürchten, wegen der europäischen Integration und der Erweiterung ihren Job zu verlieren."

Lettische Sorgen: Europa könnte den Aufschwung bremsen
Wie sieht die Stimmung aus lettischer Sicht aus? "Letten trauen Europa mehr als den Institutionen im eigenen Lande" meldete am 11.Juli die Nachrichtenagentur LETA. Ja, aber das auf sehr niedrigem Niveau, möchte man hinzufügen. Folgende Zahlen stecken dahinter (NRA 12.7.06):
- 37% der befragten Letten halten die EU für eine gute Sache
- 55% sehen die größten durch die EU verursachten Proleme in Steuererhöhung und Inflation
Dies alles trotz der Tatsache, dass Lettland im Jahr 2005 mit 10,2% Steigerung des Bruttoinlandproduktes Platz eins der EU-Länder einnahm.

Die EU-Nachbarn sollten aber über diese Umfrageergebnisse nicht lange traurig sein. Denn interessant ist der Vergleich, was die Letten von ihren eigenen landeseigenen Institutionen halten:
- nur 25% vertrauen der eigenen Regierung,
- 21% vertrauen dem lettischen Parlament
- und nur 6% (!) sagen dasselbe von den lettischen Parteien (im übrigen Europa sind es durchschnittlich 22%). Lettland steht im Herbst 2006 vor Parlamentswahlen - kein glanzvolles Zeugnis für alle, die gewählt worden sind oder dies jetzt anstreben. Das sei auch keine kurzfristige, sondern eine jetzt sich schon länger herausbildende Überzeugung, kommentiert die Neatkariga Rita Avize (NRA). Es fehle bei den Menschen auch der Glaube, dass die Parteien irgendwie versuchen würden, ihr schlechtes Image irgendwie zu verbessern. In der lettischen Presse wird Aija Cālīte-Dulevska, die Herausgeberin der auf Lettland bezogenen Daten des Eurobarometer, mit Aussagen zitiert, dass bei den Wahlen im Herbst einige Überraschungen zu erwarten seien: "in einigen Landesteilen wie etwa Kurland liegt das Vertrauen in die Parteien bei nur noch 2%."

Euro wenig gefragt

In einem weiteren Zeitungsbeitrag (NRA) wird die Einstellung der Letten zur Einführung des Euro beleuchtet. Dem Nachbarland Litauen hatten die EU-Institutionen gerade erst, wegen nur 0,1% Abweichung bei der Inflationsrate, den Beitritt zur Eurozone verweigert. In Lettland sehen es momentan, den Umfragen des Eurobarometer zufolge, 59% als unangenehme Begleiterscheinung im Zuge des EU-Beitritts an, dass sie ihre eigene nationale Währung, den Lat, verlieren werden (NRA 12.7.).
Im wirtschaftlich eher benachteiligten östlichen Landesteil Latgale hoffen dagegen noch 53% auf positive Effekte durch die Einführung des Euro.
Das Wirtschaftswachstum ist im übrigen Europa niedriger als in Lettland. Und so fürchten denn die Letten, dass eine Einführung des Euros dies auch im eigenen Lande bremsen könnte, und - so unglaublich das für westeuroopäische Ohren klingen mag - wirtschaftliche Probleme mit sich bringen könnte. Gegenwärtig weist Lettland ja bereits eine der höchsten Inflationsraten in Europa auf - und so nennen denn auch 55% der Befragten dies als wichtiges Problem.
Die von den Letten meist genannten Vorteile der EU sind momentan die Reise- und Bildungsmöglichkeiten im übrigen Europa.
Dass viele Letten sich gegenwärtig durch Jobs in Ländern wie Irland über Wasser halten müssen, also Lettland für eine Weile ganz verlassen müssen - es wird dem Vertrauen darin, dass die eigenen Politiker auch dem Wohle ihrer Wählerinnen und Wähler dienen können, vermutlich nicht gerade zu Gute kommen.