24. Juli 2006

Ungewollte Attraktionen - Tumulte um Schwule und Lesben in Riga

Schon im Juli 2005 hatte das Stichwort "Rigas Praids" für erhebliche Turbulenzen in der lettischen Hauptstadt Riga gesorgt. Auch 2006 scheint das Thema wieder einerseits zum willkommenen Instrument rechtskonservativer lettischer Parteien im Wahlkampf zu werden, und andererseits zur Bühne der europäischen Schwulen- und Lesbenbewegung.

Worum geht es?
Mit-Initiatoren der ersten öffentlichen Demonstration der Schwulen- und Lesbenbewegung in Riga waren 2005 schwedische Veranstaltungspartner eines gleichnamigen Events gewesen ("Stockholm-Pride").
Schon damals waren nicht etwa Hunderte lettischer Schwulen und Lesben zu erwarten, die sich nun plötzlich auf den Straßen der Rigaer Altstadt "outen", sondern in erster Linie war es ein europaweiter Aufruf an Gleichgesinnte, die Gelegenheit zu nutzen um ihre Präsenz in Osteuropa zu demonstrieren - schließlich werden ähnliche Vorhaben von Behörden anderer osteuropäischer Länder regelmäßig untersagt, oder enden (wie im Mai 2006 in Moskau) regelmäßig gewalttätig - inklusive der polizeilichen Ankündigung, dass Demonstrationsteilnehmer/innen mit solcher Gewaltreaktion "rechnen" müssten und jeglichen Schutz ablehnen.

Offenbar gibt es genug lettische Lokalpolitiker, die "Rigas Praids", dieses angeblich der "lettischen Mentalität" so fremde Ereignis angesichts der hohen Prozentzahl von nur für diesen Zweck aus dem Ausland eingereister Demonstranten für eigene Zwecke instumentalisieren wollen - während weitsichtigere Amtsinhaber wie Staatspräsidentin Vīķe-Freiberga oder Aussenminister Pabriks sich von solchem durchsichtigen Populismus zu distanzieren wissen und sich für eine tolerante Praxis der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit aussprechen.
2005 war es der stellvertretende Rigaer Bürgermeister Lujāns, der angeblich wegen der damals von den Behörden genehmigten, aber von seiner "Ersten Partei" (Pirmā Partija) so vehement abgelehnten Veranstaltung aus seinem Amt zurücktrat (Kritiker spekulierten, er habe nur eine günstige Gelegenheit zum Sprung aus der ungeliebten Stadtrats-Regierungskoalition genutzt). Auch damals flogen schon Eier und Tomaten auf die Veranstaltungsteilnehmer/innen, ein von "Praids"-Sympathisanten durchgeführter Gottesdienst wurde massiv gestört. Die Polizei zeigte sich überrascht von solch heftigem öffentlichem Aufsehen und offenen Aufrufen zur Gewaltanwendung gegen Unterstützer von "Rigas Praids". .

Aus Erfahrungen nichts gelernt?
Diskussionen erzeugte die geplante Wiederholung des so aufsehenerregenden Events - das ja mitten in die touristische Hochsaison fällt - schon Monate im voraus. Als die beliebte Fernsehdiskussion "Kas Notiek Latvijā" (Was passiert in Lettland - wöchentlich im lettischen Fernsehen) das Thema im Mai aufnahm, zeigte es sich , dass viele der maßgeblichen lettischen Politiker/innen auf einen Kompromiss für 2006 hofften. Einige dachten wohl daran, dass die Organisatoren von "Rigas Praids" vielleicht sich mit einem Demonstrationszug außerhalb der Altstadt zufrieden geben könnten, und kritisierten das bisherige Konzept als "eindeutig rein provokativ". Ministerpräsident Kalvitis (Tautas Partija - "Volkspartei") hielt das Stadtzentrum oder die Altstadt Rigas für nicht geeignet für solche Veranstaltungen - und sorgte sich stattdessen öffentlich um die Erhaltung christlich-moralischer Werte.
Selbst Ilze Brands-Kehre, Leiterin des lettischen Zentrums für Menschenrechte und ethnische Studien, sprach sich gegen die Organsisation eines derartigen öffentlichen Marsches aus - das Anliegen sei lediglich "populistisch" anzusehen und könne nur negative Folgen haben (Delfi.lv).

In dieses Bild passt auch eine Parlamentsentscheidung zu einem neuen lettischen AntiDiskriminierungsgesetz vom Mai 2006: Das Gesetz schützt gegen Diskriminierung wegen Geschlecht, Alter, Behinderung, Religion, politischer Anschauung oder Nationalität - Die Worte "aufgrund sexueller Orientierung" wurden ersatzlos gestrichen (siehe auch: TAZ 24.6.06)
Innenminister Jaunkeižars - Mitglied ebenfalls der fundamentalistisch-christlichen "Pirma Partija" - entschied nun, die ihm unterstehenden lettischen Sicherheitskräfte sähen sich außerstande, die allgemeine Sicherheit rund um "Rigas Praids" zu garantieren - und legte den Gerichten nahe, die Veranstaltung gar nicht zuzulassen.
So geschah es auch, aber damit nicht genug. Dermaßen politisch ermutigt und siegessicher, starteten rechtsradikale Organisationen wie der "Klub 415" eine Unterschriftenkampagne gegen jegliche Aktivitäten der Schwulen- und Lesbenorganisationen am angesagten Aktionstag im Juli. Die Ablehungsfront zieht sich übrigens nicht parallel - wie sonst gewohnt - zwischen Letten und Russen, sondern eher im Gegenteil: der russische Botschafter Viktor Kalyuzhny war einer der ersten, der den Thesen des katholischen lettischen Erzbischofs Pujats davon, "Rigas Praids" würde die "Tugendhaftigkeit des Volkes" gefährden, öffentlich anschloß (siehe auch "Mosnews"). Rigas Einwohnerschaft besteht zu etwa 50% aus Russischstämmigen - aber im Haß auf "Homos und deresgleichen" und in der Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung ihrer Ziele stehen einzelne Russen ihren lettischen Gesinnungsgenossen offensichtlich in nichts nach.

Schon das Logo der "NoPride"-Aktivisten würde wohl anderwo in Europa als ehrverletzend angesehen werden - in Riga karikiert es nur den allgemeinen Strom des Populismus im Schatten der allgemeinen Enttäuschung über die Selbstverliebtheit der lettischen Parteien. Die Internetseite dieser national gestützten scheinbaren Moralisten präsentiert auf Videos anderer schwuler Aktionstage in Europa - angeblich "zur Abschreckung", und nicht ohne den Hinweis, dass Jugendliche unter 18 Jahren diese Videos bitte nicht ansehen mögen ...

Lettland undemokratisch?
Was ist das Ergebnis der erneuten Rangeleien um öffentliche Präsentationen schwulen und lesbischen Selbstbewußtseins in Riga?
Die "NoPride"-Aktivisten feiern einen Sieg: Eine öffentliche Demonstration blieb verboten, aber auch die "ersatzweise" auch für die eingereisten Gäste (wie die Abgeordnete des Europaparlaments aus Österreich Ulrike Lunacek) angebotenen Veranstaltungen konnten nur im angesichts einer versammelten Drohkulisse stattfinden, unter offensichtlicher Zurückhaltung der Polizei. Ein Gottesdienst endete mit einem "Faustkampf" (so lettische Presse und BALTIC TIMES) zwischen den verschiedenen Gruppen, eine Seminarveranstaltung der "Rigas Praids"-OrganisatorInnen konnte nur mit Hilfe des hoteleigenen Sicherheitspersonals stattfinden.
Dort, wo das Ereignis überhaupt in den europäischen Medien Aufmerksamkeit erregte, wurden vor allem die Reaktionen der ausländischen Gäste in Riga wiedergegeben ("Politiker schockiert" - der Standard), der lettische Außenminister Pabriks sieht sich zum wiederholten Mal veranlaßt, zu "mehr Toleranz" in der lettischen Gesellschaft aufzurufen.

Lettland befindet sich offensichtlich einmal mehr auf dem Scheideweg. Mit der "NoPride"-Bewegung erneut hochgespült an die Öffentlichkeit wird der offene Haß einiger politischer Aktivisten, die sich durch den Umbruch im politischen System Lettlands benachteiligt fühlten (Schlagworte vom "Ausverkauf des eigenen Landes" und der "Diktatur Europas").
Ein Popsänger wie Kaspars Dimiters ist sich nicht zu schade, Schwulen und Lesben die Gleichberechtigung abzustreiten und dagegen auf die Gründung einer "nationalen Front" zu hoffen. Und eine Tageszeitung wie die "Neatkarīga Rīta Avīze" (NRA) ist sich nicht zu schade, die journalistische Unabhängigkeit aufzugeben und sich zur "Stimme des Volkes" zu machen: Artikel wie "wieder fordert die schwule Bewegung Unruhen in Riga herauf", oder "Schwule zeigen sich überrascht von logischen Gerichtsbeschlüssen" sollten wohl am ehesten erstmal die Auflage steigern. Die eigentlich als konservativ bekannte "Latvijas Avize" (LA) zeigt sich seltsam gespalten, und will offensichtlich eher durch extrem unterschiedliche Beiträge die Diskussion wiederzuspieglen, ohne sich selbst zu disqualifizieren. Am 22.Juli beleuchtet LA in einem Beitrag über Eltern von sieben Kindern das Thema ("Meine Wahl - die traditionelle Familie"), zitiert am auch in einem Kommentar vom gleichen Tage ("Pārdomas par lepnuma parādi") den Philosophen Voltaire: "Ich stimme eurer Meinung nicht zu, aber ich werde bis zu meinem Tode euer Recht verteidigen, eure Meinung zu äussern."

Am deutlichesten werden aber liberalere Meinungsäusserungen in Lettlands führender Tageszeitung DIENA. "Warum muss ich lettischen notorischen Alkoholikern positiver gegenübertreten als Menschen, die lesbisch oder schwul sind?" kommentiert Inga Spriņģe am Vortag der hektischen Ereignisse. Viestarts Gailītis zitiert am 22.Juli Linda Freimane, selbst in Schweden aufgewachsen, und eine der Mitorganisatorinnen von "Riga Praids" mit den Worten: "die Pirma Partija hat doch kein Monopol auf die moralischen Vorstellungen; wir sind der Überzeugung, das jeder Mensch für sich einen Eigenwert hat, und nicht nach sexueller Orientierung qualifiziert werden kann." Und in der gleichen Ausgabe wird ein Aufruf von lettischen Intellektuellen und Künstlern von DIENA veröffentlicht, der sich besorgt zeigt über eine "Welle des Hasses", die Lettland überschwemmen könnte. Und ein weiterer Beitrag warnt, dass die Verbotsentscheidung der lettischen Gerichte sehr bald Thema beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sein könnte.

Schaden für das Ansehen Lettlands
Die Ereignisse, auch das Umgehen lettischer Politiker damit - tragen wahrlich nicht zu einem besseren internationalen Image Lettlands bei - da dürften sich die meisten einig sein. MOSAIKA - die lettische Vereinigung der "Schwulen & Lesben und deren Freunde" fordert nun den Rücktritt des lettischen Innenministers Dzintars Jaundzeikars - bis zum 25.Juli hatten diesen in Lettisch, Englisch veröffentlichten Appell über 750 UnterzeichnerInnen aus dem In- und Ausland unterschrieben. Die Tatsache allerdings, dass auch Politiker/innen anderer Staaten dieses augenscheinlich innenpolitische Ziel mit unterschrieben haben, wird ihnen in Lettland allerdings auch wenig neue Freunde schaffen.
Das lettische Portal GAY.LV sammelt die Schlagzeilen aus aller Welt, vornehmlich den nordischen Nachbarstaaten. Stellungnahmen gibt es auch von Human Rights Watch und Amnesty International. Einigen Äusserungen der Schwulen und Lesben zufolge waren in Riga "christliche Fundamentalisten und Faschisten" als gewalttätige Angreifer gegen friedliche Demonstranten am Werk (US Gay News). Hier hat auch der Satz "das ist ja schlimmer als in Moskau" seinen Ursprung - gerne übernommen von der gern sich postsozialistisch, aber durchweg wenig "Balten-freundlich" gebenden "Jungen Welt".

In diesem Herbst ist in Lettland Parlamentswahlkampf. Das Internetportal POLITIKA.LV hat Aussagen verschiedener lettischer Parteien gesammelt. Da ist nachzulesen, dass etwa die lettische Bauernvereinigung, die im Parlament eine per Listenvereinigung mit den lettischen Grünen zusammengeht, den "sexuellen Minderheiten" (so der im Lettischen für Schwule und Lesben gebrauchte Begriff) selbst die Schuld für die Unnachsichtigkeit der Gesellschaft zuschreiben. "In der öffentlichen Austragung und Präsentation ihrer unterschiedlichen sexuellen Orientierung werde das Fehlen die fehlende Toleranz bei vielen Menschen eher noch gefördert", meinen die "grünen Bauern" Lettlands. Nur "mehr Informationen über Toleranz und über Homophobie" könne die Situation verbessern - jeder Mensch müsse aber auch nicht nur seine eigene individuelle sexuelle Orientierung in den Vordergrund stellen, sondern auch seine Mitmenschen und sein soziales Umfeld berücksichtigen - lettische Parteien auf der Suche nach dem Mehrheitsgeschmack bei den Wählern?

Trittbrettfahrer - in die eine oder andere Richtung - werden nun eine Weile Hochkonjunktur haben. Und Lettland bleibt, wie es scheint, noch auf Jahre hinaus ein "Sommerlochthema" erhalten ...

Keine Kommentare: