31. Mai 2007

Das Jahr der Ärzte

Am Ende ging es ziemlich schnell: im Laufe von nicht mehr als einer Stunde wählten die Abgeordneten des lettischen Parlaments am 31.Mai einen Nachfolger für die nach zwei Amtszeiten ausscheidende Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga. Der Neue im Amt heißt Valdis Zatlers, ist 52 Jahre alt, ausgebildet als Arzt (Orthopäde) und seit 1994 Leiter eines Krankenhauses in Riga. Nach dem kürzlich neu gewählten Bürgermeister von Riga, Janis Birks, ist Zatlers nun schon der zweite Arzt, der in Lettland ein wichtiges politisches Amt einnimmt.

Überraschend schnelle Entscheidung
"Auch ich war einmal Kandidat" - das können in Lettland am Ende der monatelange Kandidatentombola viele von sich behaupten. Innenminister Godmanis erwähnt es in seinem Redebeitrag direkt vor der Kandidatenwahl (eine öffentliche - im Radio und Fernsehen direkt übertragene parlamentarische Diskussion gab es vor einer Präsidentenkür zum ersten Mal).
Als Kandidat gehandelt wurde fast jede/r im Rampenlicht stehende lettisch
e Politiker/in. Die "Schuhe" (oder "Fußstapfen") von der weltweites Ansehen genießenden Vaira Vīķe-Freiberga schienen allzu groß. und das Machtstreben der derzeitigen Regierungspolitiker inklusiver der hinter den Parteien stehenden Großfinanziers allzu offensichtlich.

Sandra Kalniete, ehemalige Außenministerin, Schriftstellerin und
inzwischen Mitglied der konservativen "Jaunais Laiks" (Neue Ära), hatte erst wenige Tage vor dem parlamentarischen Wahlgang ihre Kandidatur aufgegeben. Das Verfahren zur Wahl des Präsidenten war erst kürzlich gesetzlich neu geregelt worden - angeblich zugunsten der Transparenz der Wahlvorgänge. Erwartet worden war das schnelle und mit 58 zu 39 (der insgesamt anwesenden 98 Stimmberechtigten) recht klare Ergebnis dennoch nicht: allzu mißtrauisch beobachtet das Wahlvolk zur Zeit ihre Regierenden. Allzu deutlich hatte Aivars Endziņš, nach der Nominierung Zatlers als Kandidat von verschiedenen Oppositionsparteien aufgestellter Gegenkandidat in Umfragen eine deutliche Sympathiemehrheit für sich errungen. Und allzu oft haben sich lettische Parteien bei zurückliegenden Wahlen erst nach langen Grabenkämpfen auf neue Führungsfiguren einigen können.

Pressereaktionen: wo bleibt die Analyse?
Was kommentieren die Medien? Online sind auch einige Deutschsprachige schon am 31.März versorgt; allerdings mit sehr vereinfachenden Schlagzeilen. "Umstrittener Arzt zum Präsidenten gewählt" meint DIE ZEIT ONLINE, offensichtlich auf splitterartige Infos irgendwelcher Agent
ur-Agenten gestützt. Für die Schumann-Stiftung ist das von Zatlers bisher geleitete Haus gar ein "Trauma-Krankenhaus" (mißverstanden aus dem lettischen Wort für "Trauma"=Verletzung, Unfall - also ein Unfallkrankenhaus!).
Auch die FRANKFURTER RUNDSCHAU ist diesem Übersetzungsfehler aufgesessen, und bauscht ihn gar noch weiter auf: "Trauma-Experte als Präsident". Nun gut, der Korrespondent hat es vermutlich zunächst mal von seinem Arbeitssitz in Kopenhagen aus geschrieben.

Die FR spielt sich selbst auch die Bälle der "kritischen Berichterstattung" in die Hände. Zitiert wird eine Stellungnahme von Robert Putnis, Vorsitzender der Antikorruptions-NGO "Transparency International (TI)" (in Lettland ist das die Organisation DELNA), der sich gegen Zatlers ausspricht. Verschwiegen wird dabei allerdings, dass gerade DELNA Fernsehwerbespots für den Gegenkandidaten Zatlers, Aivars Endziņš, schaltete. Solcher Stil scheint auch einzigartig zu sein: wie kann eine angeblich unabhängige Organisation sich selbst zum Akteur im politischen Wettstreit küren? Gibt es Beispiele aus anderen Ländern? Ruft TI Deutschland etwa zur Wahl bestimmter politischer Kandidaten auf?

Kompromiskandidat Zatlers, Gegenkandidat nur getragen vom Populismus?
Wahr ist, da
ss Zatlers sicher kein idealer Kandidat war - als Kompromis geboren aus dem Zwang der gegenwärtigen Vier-Parteien-Regierungskoalition, sich bei der Präsidentenwahl einig zu zeigen. Die offensichtlich wenig rücksichtsvolle Art, wie die gegenwärtige Regierung ihre Interessen und Projekte mit ihrer parlamentarischen Mehrheit durchsetzt, hat bei vielen schon das dringende Bedürfnis nach Neuwahlen erzeugt - auch das kürzlich erfolgreiche Verfahren zur Volksabstimmung über die neuen lettischen Sicherheitsgesetze zeigt das.

Am Tag vor der Wahl hatte sich die bisherige Amtinhaberin Vīķe-Freiberga noch gleichermaßen kritisch über beide noch verbliebenen Kandidaten geäussert. Den angeblichen "Kandidaten des Volkes", Aivars Endziņš, unterschied vor allem seine berufliche Vergangenheit im Sowjetsystem vom politisch unbelasteten und erheblich jüngeren Konkurrenten Zatlers. Zitate aus Veröffentlichungen des in Moskau geschulten Sowjetjuristen Endziņš zeigten dessen damals (in den 70er, 80er Jahren) offensichtliche Ergebenheit gegenüber den staatlichen Dogmen: mehrfach bestätigte er die sowjetische Darstellung eines "freiwilligen" Beitritts Lettlands zur Sowjetunion, und bezeichnete alle Vorwürfe einer gewaltsamen Okkupation als "Erfindungen des bourgeousen Klassenfeindes."
Seine Meinung kann man ändern, so
Endziņš während einer Diskussion im lettischen Radio, nach seiner Einstellung dazu befragt. Lettland ist ein Land, in dem die Akten zu den Mitarbeitern des Geheimdienstes KGB (als Schlagwort von den "Čekas maisi" - den "Säcken der Tschecka" bekannt) bisher noch nicht geöffnet bzw öffentlich gemacht wurden. Wenn solche Dokumente öfffentlich wären, würde nicht ein in leitender Funktion gut geschulter Sowjetjurist dabei eine Rolle gespielt haben (müssen)? In seine Rolle als "Korruptionsbekämpfer" kam Endziņš erst ab 1996 in seiner Funktion als Vorsitzender des lettischen Verfassungsgerichts.

So mißintrepretiert auch die WIENER ZEITUNG
Endziņš als "linksgerichteten Rivalen" Zatlers. Auch das können nur oberflächliche Schlußfolgerungen gewesen daraus sein, dass diejenigen Parteien, die sich immer als Interessenvertreter der russischen Minderheiten ausgeben, laut eigener Aussage das "geringe von zwei Übeln" wählen wollten (und dann Endziņš die Stimmen gaben). Besonders hervorgetan mit dem Kandidaten Endziņš hatte sich aber die oppositionelle neokonservative Jaunais Laiks; vielleicht bestanden ja immer noch Hoffnungen, Uneinigkeit in der Regierung hervorrufen zu können, und sich dann als die bessere (weil konsequent konservativere) Regierungsalternative darstellen zu können. Gerade daher aber wohl die Einigkeit und Entschlossenheit auf Seiten der Regierungsbänke.

Noch größere Mißverständnisse erzeugt "Vorarlberg online" mit Behauptungen, Endziņš habe sich nur der Stimmen "seines linksgerichteten Harmonie-Zentrums" sicher sein können. Da kann ich nur sagen: liebe Kollegen aus Österreich, Sie haben leider die Parlamentsdebatte vor der Wahl verschlafen!
Ähnliche Probleme bei der sonst so konservativen WELT. Auch hier wird
Endziņš als "linksliberal" bezeichnet - und damit die Rolle der ihn als Kandidaten benennenden Partei völlig überschätzt, gleichzeitig die Schwächen des Kandidaten Endziņš verschwiegen. Noch mal zur Erinnerung: es gab keine Möglichkeit zur Enthaltung bei der Abstimmung!

Keine leichte Wahl also. Gegen beide verbliebenen Kandidaten gestimmt zu haben, das verkündete nach dem Wahlgang nur
Karina Pētersone (LPP/LC), selbst vor kurzem noch Kandidatin. Die ungewöhnliche Abstimmungsform ließ das zu: auf einem Zettel standen beiden Namen, und jeder Abstimmende musste zu beiden ein "pro" oder "contra"-Votum abgeben. Vom Vorgang her möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, war eine Stimmenzahl von mehr als 50% für beide Kandidaten. Das hätte sicherlich einen rechtlichen Streitfall ausgelöst, denn gemäß dem Wahlgesetz ist derjenige Präsident, der über 50% der Stimmen auf sich vereinigt ...

Lettland hofft auf zukünftige bessere Profilierung Zatlers
Vielleicht ist also am ehesten dem zu folgen, was sich in verschiedenen Internet-Diskussionsforen nun wiederspiegelt. "Gut, Zatlers wird an seinen Taten gemessen werden müssen," so mehrere Diskutanten. Wieder einmal regiert vor allem eines: das Prinzip Hoffnung. Auf eine optimierte Schlauheit im Amt. Vorerst sind dem Kandidaten wie dem Präsidenten Zatlers die Zustände in seinem Berufsstands mehr als eine Bürde: während zum Beispiel Lehrern in Lettland streng verboten ist, irgendwelche Geschenke für ihre Arbeit anzunehmen (und gerade die chronisch schlecht bezahlten Lehrer haben es in Lettland nicht leicht), ist es bei Ärzten immer noch "üblich": sich nach erfolgreicher Operation oder Krankenbehandlung irgendwie materiell zu bedanken, ist weit verbreitet. "Wie sollen wir denn das versteuern, wenn wir einen Kasten Pralinen oder eine Flasche Schnaps bekommen?" So klagt der Ärztestand. Was bei Lehrern geht, soll bei Ärzten schwierig sein? Wie gerade die ärmeren (und kranken) Menschen in Lettland wissen, geht es hier nicht um Gefälligkeiten, sondern eher um "Umschläge", die überreicht werden.

In Lettland sitzt gegenwärtig mit Aivars Lembergs einer der bisher einflußreichsten Politiker und Industriemagnaten (in Lettland gerne "Oligarchen" genannt) wegen Verdacht auf umfassende Korruptionsaktivitäten im Gefängnis. Wenn der neue lettische Präsident nicht ständig an eigene Nachlässigkeiten auf diesem Gebiet erinnert werden will, muss wahrscheinlich gerade er auch entscheidende Anstöße auf diesem Gebiet geben. Vielleicht gerade auch zum Unmut seiner Ärztekollegen, die seine Wahl massiv unterstützt haben.

Zum Schluß noch die witzige Idee eines Letten mit dem verwechselbaren Namen Indulis Berziņš, entnommen aus der Seite der lettischen Jugendorganisation ELJA bzw. www.latviesi.com: auf dass das Erbe der bisherigen Präsidentin Vīķe-Freiberga nicht vergessen werde, wird dem frisch gewählten Zatlers kurzerhand deren Frisur verpasst ...
Hier drückt sich wohl die Hoffnung aus, wenigstens ein Teil des guten Rufs, den das lettische Präsidentenamt in den vergangenen Jahren genoß, möge auch vom neuen Präsident bewahrt bleiben.
(Text um einige Pressezitate erweitert)

Lebenslauf Valdis Zatlers (Info des lettischen Außenministeriums, engl.)
Blog zu Valdis Zatlers (lettisch)

21. Mai 2007

nach Bonaparti

Die Eurovision war bisher jedes Jahr in Lettland ein Ergegnis: natürlich in erster Linie wegen der excellenten Ergebnisse der lettischen Beiträge, besonders in diesem Jahrzehnt. Hat sich das seit Helsinki nun geändert? Zumindest die Berichte in der lettischen "Yellow Press" deuten darauf hin.

Alles nur eine verrückte Show?
Heftige Beschwerden gab es bereits von Seiten der westeuropäischen Musikindustrie. Von angeblichen "Absprachen" zwischen verschiedenen Nachbarländern war schon länger die Rede. Damit waren vor allem die Osteuropäer gemeint, und der diesjährige Sieg von Serbien schien genau das zu beweisen. Was aber zeigen die Ergebnisse wirklich?

Aus lettischer Sicht war vor allem das Abstimmungsverhalten in Irland interessant: so stimmen also inzwischen nicht nur die Türken in Deutschland als Abstimmungsvotum aus Deutschland für die Beiträge aus der Türkei, sondern genauso die Zehntausende Gastarbeiter/innen aus Lettland, die in Irland Pilze pflücken, Abfall sortieren, oder für Irland-Touristen den Abwasch erledigen, eben für die lettischen Beiträge. Lettland bekommt aus Irland 10 Punkte, Litauen sogar 12. Ergebnis aber: Lettland landet ähnlich unter "ferner liefen" wie Deutschland. Trotz eines eigentlich ganz qualitativ hochstehenden Beitrags. Der lettische Sieg 2002/2003 nur Zufall, ein Überraschungserfolg eines Newcomers?

Diesmal kommentiert auch die lettische Presse bissig. "Der überwiegende Teil der Letten ist schockiert über das Resultat der Eurovision in Helsinki", so drückt es die Boulevardzeitschrift "KAS JAUNS" aus. Interessante Beobachtungen werden hier berichtet (Letten lieben Gerüchte!):
Angeblich hätte ein Drittel der in Helsinki im Saal präsenten Zuschauer nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses fluchtartig den Saal verlassen.
Weiterhin verkündet KAS JAUNS, in Serbien sei das Siegerlied schon zur "inoffiziellen Hymne der Lesbenbewegung" geworden. Warum - leider werden keine Details erklärt. Klar ist nur, dass Lettland ja sowieso auf einer Welle der andauernden Feindlichkeiten gegenüber denjenigen schwimmt, die ihre "Andersartigkeit" in sexuellen Dingen offen verkünden.

Freundschaftstage - in wenig freundschaftlicher Gesellschaft?
Nun - wieviele Schwule und Lesben sich in Deutschland oder Lettland für die Eurovision interessieren, und warum - das kann vielleicht an anderer Stelle weiter diskutiert werden. Die lettische Boulevardpresse jedenfalls macht weiter Gebrauch von diesem "skandalösen" Thema. "Das, was in Helsinki geschah, dass war unglaublich!" so werden Mitglieder der lettischen BONAPARTI in KAS JAUNS zitiert. "Auch die Künstlerparty war voll mit lauter Transvestiten und Lesben! Mir blieb der Mund offen stehen! Ich habe sogar einen Mann von 2,20 m Grösse gesehen, ganz in Frauenkleidern!"

Lettland wird auch das Thema der geschlechtllichen Gleichberechtigung bald auch zu Hause wieder diskutieren müssen. Nicht nur der schon traditionelle "Rigas Praids" steht bevor (diesmal schon am Sonntag, 3.Juni). Ab dem 31.Mai veranstaltet MOZAIKA, die Vereinigung der Schwulen und Lesben Lettlands, einen internationalen Kongress zum Thema Toleranz. Motto: Freundschaftstage (Programm). Was dann die "Yellow Press" schreibt, ist wohl absehbar. Auch verschiedene europaeische Politiker/innen haben einen Besuch angesagt. Aus Deutschland unter anderem Gruenen-Politiker Volker Beck.

Bereits am 16.Mai fand vor der Botschaft Lettlands in den Niederlanden Solidaritaetsdemonstrationen statt (siehe Fotos). Aber was bringt es, wenn die Toleranz fuer dieses Thema in breiten Schichten der lettischen Gesellschaft fehlt?

Im lettischen Fernsehen kann man aber schon sehen, was sich da zusammenbraut: in den USA angelernte Sektenfuehrer wettern da minutenlang (unkommentiert!) ueber die "Diktatur Europa" (gemeint ist die Notwendigkeit fuer das EU-Mitglied Lettland, die auf EU-Ebene beschlossenen Gesetze umzusetzen. "Europa hat die Bibel in die Gosse geschmissen," wettern die selbsternannten agressiven Moralisten, "wir lassen das nicht zu in unserem Land!"
Lettland - gute Nacht der Toleranz???

Am 31.Mai werden die Wahlgaenge zur Findung eines/einer neuen Staatspraesidenten/in beginnen. Ob sie wohl von Schlagzeilen begleitet sind, die aufzeigen, wie wenig manche Gruppen in Lettland von einer Akzeptanz demokratischer Verhaeltnisse halten?

9. Mai 2007

Lettlands ganz spezieller 9.Mai

In dieser Form hat Lettland wohl auch noch keine Diskussion um das Kriegsende 1945, die Okkupation der baltischen Staaten bzw. die Machtansprüche des damaligen Sowjetstaates, und die heutige Erinnerung daran gegeben. Ausgelöst von den Unruhen im Nachbarland Estland, richtete sich diesmal die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ganz auf das Verhalten der eigenen politischen Funktionsträger gegenüber den Ereignissen im nördlichen Nachbarland. (Foto: DIENA 9.5.07)

Eigentlich ist ja in Lettland am 4.Mai des Landes ehrenvollster Feiertag: an diesem Tag im Jahr 1990 stimmte eine eindeutige Mehrheit des damaligen lettischen obersten Sowjetrat (weitgehend die in der lettischen "Volskfront" zusammengeschlossenen Abgeordneten) für eine Erklärung der Unabhängkeit Lettlands. Unter dem Jubel Tausender draußen wartender Menschen kamen sie dann einzeln aus dem Parlamentsgebäude - Bilder, die den meisten Menschen in Lettland aus dem Fernsehen oder inzwischen von vielen Fotoausstellungen bekannt sind.
Danach wurden Dainis Ivans, damals Vorsitzender der Volksfront, zum Parlamentssprecher, und sein Stellvertreter Ivars Godmanis zum Ministerpräsident. Heute ist der eine Stadtratsabgeordneter und der andere Innenminister - doch nur scheinbar bürgt dies für Kontinuität des lettischen politischen Bewußtseins.

Schock aus dem Norden
Schon Ende April verbreiteten sich die Nachrichten über die in gewaltsame Randale und Zerstörungswut ausufernden Krawalle in Tallinn. Doch übereinstimmend wurde immer wieder berichtet von der Einstellung der Menschen in Riga, befragt nach der Vergleichbarkeit der Situation in Estland und Lettland: "Das kann bei uns nicht passieren!" zeigte sich die überwiegende Mehrheit überzeugt.
Doch die Dramaturgie verlief anders: am 5.Mai erschien die größte Tageszeitung DIENA mit der Schlagzeile: "Estland bekommt vom lettischen Parlament keine Unterstützung". Was war geschehen?
Im Parlament war ein Antrag auf Unterstützung der estnischen Position gegenüber Russland eingebracht worden. Eine Haltung, die inzwischen sogar weit vom Geschehen entfernt liegende EU-Mitgliedsstaaten eingenommen hatten. Viele politische Beobachter sehen es ähnlich wie die dänische "Berlinske Tidene", die in einem Kommentar von "Pöbelmentalität" Russlands sprach. Ein Denkmal zu verlegen, ist Sache des Staates oder der Stadt, auf dessen Territorium es sich befindet. Das zum Anlaß zu nehmen, Scheiben einzuwerfen, Steine auf Polisten zu schmeißen oder alles zu zerstören, was nicht "niet- und nagelfest" ist, eine ganz andere Sache. Ja, sogar die Schwierigkeiten sozial benachteiligten Gruppen, die Lage der Russen in Estland - all das könnte diskutiert und erörtert werden, aber: auf der Grundlage der Anerkennung der estnischen staatlichen Souveränität, und unter Berücksichtigung der Geschichte der gewaltsamen Okkupation der baltischen Staaten durch die sowjetische Rote Armee.

Doch was macht das lettische Parlament? Bei der Abstimmung zur erwähnten Solidaritätserklärung gab es von den 100 Abgeordneten nur 41 Befürworter, 29 stimmten dagegen, 11 enthielten sich und weitere 11 glänzten durch Abwesenheit (siehe auch Estland-Blog). Warum? "Parteitaktische Spielchen", vermutet die lettische Presse. Denn der Antrag war eingebracht worden von der Oppositionspartei "Jaunais Laiks" ("Neue Ära"), die erst kürzlich von der Koalitionsparteien der lettischen Regierung erfolgreich um den Posten des Rigaer Bürgermeisters gebracht worden war. Baltische Solidarität ist in Lettland offenbar nicht überparteiisch.

Befragt nach den Gründen für so ein Abstimmungsergebnis, antwortete Ministerpräsident Kalvitis trocken: "Wir haben aber den Esten auf dem Höhepunkt der Unruhen Wasserwerfer und andere Ausrüstung zur Verstärkung geschickt, und schließlich hat sich auch Außenminister Pabriks eindeutig geäußert."
Offenbar blieben in der Öffentlichkeit doch Zweifel an dieser "Eindeutigkeit" der lettischen Haltung. Am 8. und 9.Mai dominierten neben den lettischen vor allem estnische Flaggen die öffentlichen Kundgebungen, zu denen sich trotz Regenwetter Tausende versammelten. Derweil diskutiert der auswärtige Aussschuß des lettischen Parlament eine veränderte Fassung der Solidaritätsadresse, um diese vielleicht doch noch im Parlament beschließen zu lassen.

Ungläubige Fragen, Staunen über Estland
Sämtliche in der lettischen Presse nachlesbaren Kommentare zur Vergleichbarkeit der Situation zwischen Russen und Esten in beiden Ländern gehen davon aus, dass Ähnliches wie in Tallinn in Riga kaum vorstellbar wäre. So sagt der Politologe und Ex-Minister für Integrationsfragen, Nils Muiznieks: "Die Russen, die bei uns leben, haben durchschnittlich einen ganz andere Ausbildungstandard", meint Muiznieks, "die Mehrheit der nach Lettland zugewanderten Russen arbeiten im technischen Bereich, zum Beispiel bei den Firmen ALFA oder VEF, während viele Russen in Estland beim Phosporabbau oder in der Ölschieferindustrie arbeiten." (aus: DIENA, 3.Mai 2007)
Lettlands Presse registrierte auch aufmerksam, dass das Parlament Litauens seine Unterstützungerklärung zugunsten Estlands mit den Stimmen aller 98 anwesenden Abgeordneten einstimmig verabschiedete (DIENA 3.Mai 2007 - eine Stellungnahme des litauischen Ministerpräsidenten Kirkilas wird auch bei Russland online zitiert)

Ruhige Feiertage
Die beiden Tage des 8. und 9.Mai verliefen in Lettland weitgehend ruhig. Außer den Tausenden Menschen, die sich zur Erinnerung an den "Baltischen Weg" (Menschenkette auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung Ende der 80er Jahre) an den Händen fassten und Lieder wie "Baltija admoda" sangen, gab es auch andere Zusammenkünfte und Gedenkveranstaltzungen. Viele davon zwar von einem Polizeiaufgebot bewacht, aber alle friedlich. So legte ein "antifaschistisches Komitee" am 8.Mai vor dem lettischen Freiheitsdenkmal (sic!) Blumen zur Erinnerung an den Kampf gegen den Faschismus nieder (LETA, 8.5.07). Am 9.Mai versammelten sich einige Russen vor dem in sowjetlettischer Zeit errichteten Denkmal des Sieges über den Faschismus (vergleichbar dem "Bronzesoldaten" in Tallinn), gleichfalls mit Blumen und Liedern ("ARTE Info berichtete darüber am 9.Mai). Auch um es vor Übergriffen zu schützen, so ihre Aussage.

Rückkehr zur Tagesordnung?
Doch wie wird sich Russland verhalten? Zumindest in Westeuropa hat der russische Staat und seine Führung durch die nervösen Reaktionen gegenüber Estland ganz klar an Ansehen verloren. Es bleibt zu hoffen, dass aus dem Osten nicht bewußt ein Klima eines neuen "Kalten Kriegs" geschürt wird - aber das hängt wohl auch unter anderem damit zusammen, ob die USA nicht weiter so überheblich ihre Sonderinteressen (siehe angebliche "Raketenabwehr") durch einen Präsidenten einsam durchsetzen läßt, der doch mehr und mehr einer hilflosen, als einer "lahmen" Ente gleicht (sonst der Ausdruck für einen bald aus dem Amt scheidenden Präsidenten).
Die von der Formulierung her härteste Kritik an Estlands Position kam aus Litauen. Über die Russen in Estland wird in der BALTIC TIMES eine Aussage von Gintaras Didziokas, litauisches Mitglied des Europaparlments: "Diese Randalierer in Tallinn haben ja behauptet, sie seien nur Kämpfer gegen den Faschismus. Das ist völlig falsch. Aber die Esten sind gleichfalls dickköpfig - sie scheiterten darin, mit Russland einen Dialog über die Denkmalverlegung zu etablieren, bevor sie damit anfingen."