30. Januar 2007

Digitalisierte Sturmschäden

Noch immer gibt es große Unterschiede in Lettland: die Digitalisierung des öffentlichen Lebens schreitet voran, obwohl natürlich viele sich privat keinen schnellen Rechner hinstellen können, um ständig im Internet zu surfen.
Für diejenigen, die dazu in der Lage sind, wird immer wieder erstaunliches geboten. So stellt zum Beispiel das lettische Ministerkabinett vollständige Gesetzesvorlagen, die im Parlament diskutiert werden sollen, auf die regierungseigene Webseite zur öffentlichen Einsicht. Wer von dort aus ein wenig weiterklickt, gelangt auch auf eine Auflistung von Dokumenten zu aktuellen Fragen (Lettisch-Kenntnisse allerdings vorausgesetzt).

So finden sich zum Beispiel auch regierungsamtliche Dokumente, wie zum Beispiel die Auflistung der durch den Sturm vom 14./15.Januar 2007 verursachten Schäden an staatlichen Gebäuden. Gemäß dieser Liste (umfasst alle amtlich bis zum 16.1.07 gemeldeten Schäden) ist an kommunalen Gebäuden an diesen beiden Tagen in Höhe von 331.799 Lat (ca. 500.000 Euro) entstanden, davon 152.108 an Schulen und Kindergärten. Das lettische Finanzministerium wurde angewiesen, 350.000 Lat aus Sondermitteln für die Schadensbegleichung bereitzustellen.

In dieser Liste finden sich 73 Einzelschäden, teilweise penibel aufgelistet. Am häufigsten werden dabei Schäden an Dächern genannt (Dach zerstört, oder Dach teilweise abgedeckt). Aber auch andere Sturmopfer werden genannt: umgestürzte Bäume (vor allem in der Region Daugavpils und Ventspils), Schäden an Verkehrszeichen, in Parks, auf Friedhöfen, auf Kinderspielplätzen, und an Strandabschnitten.
Wer nachschlagen möchte, wem die Tageszeitung zu ungenau berichtet, oder wer sich dafür interessiert, welche Sorgen die eigenen Bürgermeister haben: hier bekommen es nicht nur die Gemeinderatsmitglieder zu hören (wie es in Deutschland vielleicht wäre?), sondern die allgemeine Öffentlichkeit.

27. Januar 2007

Konzertsaal im politischen Abseits

Rigas rasante Entwicklung erstaunt manchmal sogar die Lettinnen und Letten selbst. Nicht einmal 15 Jahre ist es her, dass nicht ganz klar schien, ob der Putz außen an den Häusern noch mit frischer Farbe übermalt werden könnte, bevor er ganz herunterfällt, und im Inneren vieler Bauten sah es nicht viel besser aus.Heute ist Riga eine Immobilien-Boomtown - das heißt in erster Linie: es wird in Bauten investiert, Locations werden "besetzt", von Nutzern werden Mieten und Gebühren herausgepresst was nur geht. Wenn heute von einer "Stabilisierung" der Immobilienpreise gesprochen wird, dann ist es schlicht die Hoffnung (der Geldgeber, der Börse), dass die Entwicklung sich nicht überhitzt und wie ein Luftballon zerplatzt. Schon gibt es Diskussionen, ob die Stadtsilhouette nicht zu stark durch neue riesige Bauten verstellt wird, und die Altstadt Rigas so den Status als UNESCO-Weltkulturerbe verlieren könnte.

Als am Dienstag, den 23.Januar 2007 die Diskussion um die neuen Kulturbaute
n den Rigaer Stadtrat erreichte, geschah das nicht nur unter kulturpolitischen Vorzeichen. Kultur hat einen sehr hohen Stellenwert in Lettland. Und Lettland hat mit der Tautas Partija die maßgebliche Partei der regierenden Vier-Parteien-Koalition, die mit Helena Demakova eine anerkannte Expertin als Kulturministerin aus ihren Reihen stellt.

Doch im Stadtrat von Riga stehen die Vorzeichen anders. Hier steht Bürgermeister Aivars Aksenoks für seine Partei "Jaunais Laiks", die nach den Parlamentswahlen des Herbstes 2006 keine Aufnahme in das regierende lettische Parteienbündnis fand. Die "Tautas Partija" von Regierungschef Aigars Kalvitis dagegen spielt im Rigaer Stadtrat nur eine untergeordnete Rolle, in einem Stadtrat, in dem die regierende Koalition nur eine äusserst knappe Mehrheit von 31 von 60 Sitzen hat. Riga plant den Bau eines neuen Konzertsaals. 20% der Gesamtkosten in Höhe von 63 Millionen Lat (ca. 100 Mill. Euro) für den Bau einer neuen Konzerthalle muss die Stadt Riga selbst tragen. Aber das Kostenargument spielte nur eine geringere Rolle bei der Abstimmung vom Dienstag, bei der nur 26 Abgeordnete ihre Stimme zugunsten des Projekts abgaben. Wie kam es dazu, und wie geht es jetzt weiter? Gegenwärtig werden drei Großprojekte in Riga von der staatlichen Agentur "Jaunie Trīs Brāļi" vorangetrieben: neben dem Neubau einer Nationalbibliothek und der Schaffung eines Museums für moderne Kunst gilt das Konzertsaal-Projekt als das Wichtigste für das lettische Kulturschaffen. Alle drei verlangen riesige Investitionssummen. Für den Konzertsaal wurde, nachdem man sich für den Platz am sogenannten "AB-Damm" direkt an der Daugava entschieden hatte, ein Wettbewerb ausgeschrieben und am 12.Mai 2006 der Sieger verkündet. Seitdem treibt nun der Wettbewerbssieger, das Architekturbüro "Sīlis, Zābers und Kļava", das Projekt voran und hatte zur Präsentation - wie könnte es anders sein - auch schon eine eigene Internetseite eingerichtet.

Auf der "Wasserfläche als Bühne" möchte Rigas Stadtarchitekt Jānis Dripe den neuen Kulturtempel gerne errichtet sehen. 22.000 qm Fläche benötigt das Projekt, 1400 Zuschauern soll es in einem großen und weiteren 375 in einem kleineren Saal Platz bieten. Doch seit am 21.12.2006 Bürgermeister Aksenoks und Kulturministerin Demakova nahezu ergebnislos auseinander gingen, waren nur noch bissige Bemerkungen von beiden Seiten zu hören. "Konzertsaal als Geisel der Politik" Kommentar am 21.12.2006 in der größten Tageszeitung DIENA. , so ein"Ich werde teure Großprojekte nur dann unterstützen, wenn die Regierung die Strukturprobleme der Hauptstadt lösen hilft," konterte der Bürgermeister.

Damit sind zumindest teilweise auch die andauernden Verkehrsprobleme gemeint. Ein Konzertsaal genau an der Nahtstelle zwischen wichtigen Verkehrsströmen über die Daugava wird so als zusätzliche Problemverschärfung angesehen. Und auch andere aktuelle Probleme der Stadt benennt Aksenoks: er möchte lieber mehr Geld für die Kindergärten und den Wohnungsbau zur Verfügung haben als nur für prestigeträchtige Großprojekte. "Alles Fragestellungen, die mit dem geplanten Konzertsaal überhaupt nichts zu tun haben", kontert Demakova.

Stürme, Nordwestwind und hoher Wasserstand erinnerten noch Anfang Januar an ein weiteres Gegenargument der Projektgegner. Ist es denn der richtige Platz? So nahe an der Daugava, wenige Zentimeter über dem Wasserspiegel? Zwar haben Fachgutachten und Aussagen anderer Architekten ergeben, dass eine Sicherung des Baus möglich sei, zum Beispiel durch eine Absicherung mit Hilfe von Dolomitschichten.

Die Situation nach dem vorläufigen Nein des Rigaer Stadtrats wird aber auch unterschiedlich beurteilt. Während Beobachter wie der DIENA-Kommentator Askolds Rodins das Projekt für vorerst nicht durchführbar halten (DIENA 25.1.07), verwickeln sich andere in juristische Spitzfindigkeiten. "Wenn diejenigen Abgeordneten, die eigentlich wegen persönlicher Betroffenheit und eigener Interessen nicht mit abstimmen sollten, auch nicht mitgezählt werden würden, dann wären es nur 49 Stimmen im Stadtrat," rcchnet Artis Stucka, stellvertretender Staatssekretär im Ministerium für Regionalentwicklung vor, "da stellen 26 Stimmen die eindeutige Mehrheit dar." (LETA 24.1.07, TVNET) Eine Argumentation, der Bürgermeister Aksenoks natürlich nicht zustimmen kann.

Das lettische Kulturministerium seinerseits stürzt sich in Aktivität: ein eigenes Gesetz zum Bau des Konzertsaals soll nun schon innerhalb der nächsten Wochen zur Beschlußfassung im lettischen Parlament vorbereitet werden. Das Projekt sei überwiegend eine Sache des ganzen Landes, denn nicht nur in Riga, sondern auch in anderen Städten wie Rezekne, Liepaja oder Ventspils seien weitere neue Konzertsäle geplant. 71% der Bevölkerung befürworten laut einer Umfrage aus dem Frühjahr 2006 das Projekt eines neuen Konzertsaals in Riga, so die Ergebnisse einer Umfrage, die vom Ministerium gerne zitiert wird.

Eines scheint vorerst klar zu sein: Diskutiert wird über dieses Thema nicht nur unter Politiker/innen gern. In den lettische Internetportalen APOLLO, DELFI und TVNET meldeten sich zahlreiche argumentationsfreudige Bürgerinnen und Bürger zu Wort, und die Mehrheitsmeinungen gingen zumindest hier ebenfalls in sehr verschiedene Richtungen.

21. Januar 2007

Schiff in Seenot, Kapitän weg, Folgen für die Umwelt unklar

Angesichts der vielen Sturmschäden in ganz Europa erregt ein erneutes Schiffsunglück in der Ostsee momentan relativ wenig Aufsehen - bis auf Lettland selbst. Bereits in der Nacht zum 15.Januar war der unter der Flagge Zyperns fahrende Frachter "Golden Sky" vor dem Hafen von Ventspils mit 25.000 t Mineraldünger an Bord auf Grund gelaufen (Foto: Reuters). Problematischer für die Umwelt ist neben dem Dünger aber zunächst der an Bord befindliche Treibstoff, der teilweise aus einem Leck ins Meer floß. Trotz aufkommendem Sturm konnte ein Generator an Bord gebracht werden, um die Rettungsarbeiten auch bei Nacht zu ermöglichen - eine Operation, welche von den in Ventspils stationierten Rettungskräften eigenen Angaben zufolge zum ersten Mal in der Praxis durchführten. Der Einsatz des zusätzlichen Generators war notwendig geworden, da der Maschinenraum des Schiffes bereits überflutet war.

Alle Mitglieder der Besatzung konnten inzwischen mit dem Hubschrauber von Bord geborgen werden, auch der Kapitän hat inzwischen das Schiff verlassen. Englische und griechische Experten halfen bei den Sicherungs- und Bergungsarbeiten, während sich am Strand bei Ventspils Schaulustige versammelten - nur wenige Hundert Meter vor der Küste war der havarierte Frachter deutlich auch von Land aus zu erkennen (Berichte zu den ersten Rettungsversuchen: DIENA 19.1.07, LETA 18.1.07, DIENA 20.1.07)

Die schwersten Sturmfolgen sind überstanden, das Schiff bis auf den austretenden Treibstoff gesichert - nun beginnen die erste
n Überlegungen, wie es zu dem Unglück überhaupt kommen konnte. Der Hafen Ventspils, zu Sowjetzeiten als Ort schwer kalkulierbarer Unmweltbedrohungen bekannt, war in den vergangenen Jahren bemüht, durch erhöhte Sicherheit und vermehrte Umweltschutzmaßnahmen seinen Ruf zu verbessern.

Zu den genauen Folgen für Natur und Umwelt äussern sich die lettischen Behörden gegenwärtig nur zögernd.
In der Presse wurde ein Aufruf veröffentlicht, dem zufolge Beobachtungen von Bürgern betreffend Umweltschäden an den Stränden per Telefon bei der Umweltverwaltung in Ventspils gemeldet werden können (Tel. 0071-3622981 oder -29471431).

Warum aber kam es überhaupt zu dem Unglück? Bei Ankunft des Schiffes im Hafen von Ventspils, am 11.1. abends, sollen die Wetterbedingungen noch gut gewesen sein. Ob aber ein Schiff trotz Warnung vor aufkommendem Sturm in See steche, dass sei ganz die Verantwortung des jeweiligen Schiffsführers, so der Hafenkapitän von Ventpils gegenüber der lettischen Presse. Der Kapitän der "Golden Sky" entschied sich, nach dem das Schiff bereits sieben Stunden auf See war, wegen Problemen mit den Schiffsmotoren zur Rückkehr Richtung Ventspils und lief dann in Küstennähe auf Grund. Nur ein Motor lief zu diesem Zeitpunkt auf dem Schiff einwandfrei.

Die Ostsee ist ein stark von Schiffen befahrenes Gebiet, und vor allem wegen der zunehmenden Gefahren durch veraltete Öltanker bedroht. Die TAZ zitierte per Bericht am 17.1.07 Zahlen der Helsinki-Kommission (HELCOM), nach dem 65.000 Schiffsbewegungen pro Jahr durch die Ostsee gehen. 151 Schiffsunfälle zählte die Umweltorganisation WWF im Jahr 2005 in der Ostsee, in den Jahren von 2000 bis 2003 waren es im Schnitt nur 60 pro Jahr. Gegenüber dem lettischen Radio sagte WWF-Experte Janis Brizga, er befürchte Umweltschäden an der Küste durch die Havarie der "Golden Sky" nicht nur durch auslaufenden Treibstoff, sondern auch den an Bord befindlichen Dünger. Der lettische Ministerpräsident Kalvitis äusserte sich indessen unzufrieden mit den lettischen Einsatzkräften, die 12 Stunden vom Flughafen Riga aus bis zum vor Ventspils liegenden Schiff benötigten.

17. Januar 2007

Werben um alte Leute - Heimweh und Zahlungsfähigkeit vorausgesetzt

Vom kommen und Gehen - Landflucht und Jobsuche
Es gibt viele Geschichten inzwischen über junge Leute, meist Männer, auch ganze Ehepaare, die aus ihren lettischen ländlichen Regionen einfach weggehen, um anderswo ihr Glück (und Einkommen) zu suchen. Zunächst war es die Sogwirkung Rigas: früh morgens in den Zug setzen, um 9.00 Uhr in der Hauptstadt zur Arbeit gehen, die Woche über irgendwo bei Freunden übernachten, Freitags abends mit dem Zug zurück. Eine mehrstündige Fahrt jedes Mal - eine ganz besondere Art von Pendlern.

Seit Großbritannien, Irland, Schweden prinzipiell ihre Arbeitsmärkte auch für "Gastarbeiter" aus den EU-Beitrittsländern von 2004 geöffnet hat, hat sich das ganz schnell potentiell erhöht: bereits Zehntausende sollen inzwischen allein in Irland leben, und die lettische Regierung sorgt sich, ob diese Menschen je zu einer Rückkehr bewegt werden können. In vielen Dörfern bleiben fast nur die alten Menschen zurück.

Traumland für Alte: Lettland
Da erzeugt ein Projekt Aufsehen, das sich ausgerechnet um weitere Zielgruppen im Rentenalter müht: AUSBALT nennt sich ein Projekt, dass nach Australien vor Jahrzehnten ausgewanderte Letten - durchweg inzwischen natürlich Senioren - zurück nach Lettland holen will. Raitis Strautiņš, umtriebiger Firmenchef von AUSBALT, erzählte in der lettischen Presse (NRA 12.1.07) von den angeblichen Bedürfnissen der Möchtegern-Einwanderer. "Wir wollen nach Lettland," haben ihm viele der gegenwärtig 6681 Personen im fernen Kängeruhland erzählt. 5288 davon sollen zu Hause noch Lettisch als Muttersprache gebrauchen. Hiervon wiederum sind 53,85 über 65 Jahre alt, also im Rentenalter. "Aber auch dort hat man schon gehört, wie kümmerlich die Zustände in der Altenpflege in Lettland gegenwärtig sind. Sie sagen mir: wir würde gerne kommen, aber wo sollen wir denn da hin?"

Wird es also bald auch Altenheime zweiter und dritter Klasse in Lettland geben? Wer solche Projekte konsequent zu Ende denkt, der kann es sich gut vorstellen. Wenn erstmal die Spezial-Altenwohnungen "nach dem Modell Australiens" gebaut worden sind (so steht es in einer Firmenpräsentation), dann wird es dort, wo jetzt noch Beifuß, Wegerich und ein paar schlanke Birken wachsen, bald Transporthilfen, medizinisches Personal, Schönheitssalons, eigene Bibliothek, Kinosaal - und natürlich Wächter rund um das Gelände geben. Bei dem gegenwärtigen Immobilienwucher, der rund um die lettische Hauptstadt Riga abgeht (woran zwar die Investoren, sicher aber nicht die Mieter ihren Nutzen haben) ist es auch logisch, dass sich LATTAU, eine lettische Immobilienfirma (Wahlspruch: "die lettische Variante"), an den Austro-Seniorenheimen beteilgt.
Beide Firmen halten sich in der Öffentlichkeit momentan noch bedeckt. Die Webseite von Ausbalt gibt es zwar schon, aber außer der zitierten Präsentation werden noch keine Inhalte angeboten. Im eigenen Lande schmackhaft gemacht werden soll es durch vielfältige Nutzung von EU-Hilfsprogrammen, so dass argumentiert werden könnte, Lettland selbst koste das Projekt wenig. Die Liste der geplanten Maßnahmen reicht von Unterstützungsmöglichkeiten für bisher Arbeitslose bis hin zu Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogrammen.

Interessant sind die statistischen Zahlen, welche von den Planern dieses neuen Projekts zur gegenwärtigen Situationsanalyse in Lettland vorgelegt werden. Allerdings wird mit Zahlen aus dem Jahr 2004 gearbeitet. Der vorgelegten Statistik zufolge gab es 2004 in Lettland
- 72 kommunale Sozialeinrichtungen mit insgesamt 5.022 Bewohner/innen,
- 31 staatliche betriebene Instutionen mit insgesamt 4381 Personen,
- wurden 1453 Lat pro Person in sozialen Einrichtungen ausgegeben

Zur Situation bei den Rentnern heißt es:
- 25,9% der Einwohner Lettlands waren im Jahr 2004 im Rentenalter
- per Gesetz festgelegtes Rentenalter war bei Männern 62, bei Frauen 60 Jahre
- auf 83,16 (ca. 120 Euro) Lat belief sich im statistischen Mittel eine gewährte Rente (bei Männern durchschnittlich 91,53 Lat, bei Frauen 67,24 Lat)

Begrüßt und betreut - vom Kängeruhsteak zur Hanfbutter
Ausersehen für ein Modellprojekt für die lettischen Aussie-Oldies ist das kleine Dorf Seja (zwischen Sigulda und Saulkrasti, im Norden von Riga). Und Investoren-Werber
Strautiņš wird nicht müde, vom "australischen Beispiel" zu schwärmen: "dort wirbt man mit der Devise: sie verdienen nur das allerbeste!" - Im Westen denke man eben "realistischer", so der Altenwerber, man wolle eben im Alter seinen Kindern nicht zur Last fallen. Umsonst will er allerdings nicht für die lettischen "Heimkehrwilligen" arbeiten: ein Haus, was im Projektrahmen gebaut wird, soll einen Investitionsbedarf von etwa 50.000 Lat (75.000 Euro) haben. Die beteiligten Firmen haben sich der unterstützung der Gemeinde bereits gesichert und rechnen in der 2.Jahreshälfte 2007 mit einem Baugebinn.
Also, wer demnächst planen sollte, sich einen Alterssitz in Lettland aufzubauen, der könnte auch bald den Satz hören: "Ziehen Sie doch nach Seja!"

16. Januar 2007

Warten aufs Singen

Es gibt sängerfestlose Jahre. Lettland ist dabei, in Europa einen gewissen Bekanntheitsgrad zu erreichen, und da sind landestypische Kulturereignisse hilfreich. Doch die Chronik der Ereignisse ändert sich. Waren die Sängerfeste in den 90er Jahren sehnsüchtig erwartetes Ereignis, so geraten sie gegenwärtig schon unter den Druck der touristischen Nachfrage: schließlich kann das kleine baltische Land seine Gäste nicht vertrösten, lieber im nächsten Jahr wiederzukommen, und selbst ein so ausgelassen zelebriertes Fest wie Mitsommer ist kein Ersatz: es wird eigentlich vorwiegend im privaten Kreis gefeiert.

Der Trost ist rein virtuell. Nahezu täglich versorgt eine laufend aktualisierte Internetseite zumindest die lettischkundigen Sangesfreunde: englischsprachigen Fans werden neben einem ersten Entwurf des Programms für 2008 wenigstens online-Mitschnitte früherer Ereignisse angeboten.

Lettischkundige genießen mehr Fürsorge: da werden Ergebnisse einer Umfrage zitiert, nach denen für 29,3% aller Letten das Sängerfest bei Kultur und Traditionspflege an erster Stelle steht. Wer das liest, mag sich fragen: waren das nicht auch schon mal mehr? Da sind die "auf den Plätzen" folgenden anderen genannten Kulturereignisse interessant: 20% nennen das Theater an erster Stelle, 13% Musik und Konzerte, 8,9% Folklore und die Dainas, und genauso viele nennen das Mittsommerfest. Noch 8% nennen Opern- und Balletaufführungen, 6,5% visuelle Kunst & Literatur, 5,6% Museen, 3,6% das Neubauprojekt "Gaismas pils" der Lettischen Nationalbibliothek, und für 3,2% der Befragten ist Kino in Lettland am wichtigsten. Immerhin 3,4% benennen schlicht den Namen von Lettlands "Maestro" Raimonds Pauls als Wichtigstes, und 4,7% kreuzten an, dass ihnen der bedauerswerte Zustand vieler Kultureinrichtungen das wichtigste Anliegen sei. Bei den Befragten in Latgale stand dieses eher um Hilfe schreiende Argument sogar an dritter Stelle aller Antworten.

Die Webseite enthält aber (wie gesagt, leider nur für Lettischkundige) auch noch mehr Details.
- den Wortlaut des lettischen Gesetzes (!) zum Schutz der Sängerfesttradition
- eine ausführliche Darstellung zur Geschichte der lettischen Sängerfeste
- einen Hinweis auf die ausführliche Liste alter historischer lettischer Kulturplakate im Internet (das ist für alle interessant!)
- Einzelheiten zur geplanten künstlerischen Konzeption des Sängerfestes 2008

Und, um auch die Wartenden im eigenen Lande wirklich auf dem Laufenden zu halten, wird aktuell jeden Monat ein Geburtstagskalender aller bekannten Chorleiter, Dirigenten und sonstigen Aktiven geboten. Auf diese Weise erfahren wir, dass beispielsweise am 17.Januar Alda Račika im Volkskulturhaus in Krape ihren 55.Geburtstag feiert, am gleichen Tage der langjährige Dirigent der Sängerfeste Edgars Tons seinen 90.Geburtstag begeht, und am 26.Januar 2007 Karlis Vents, Leiter des Ensambles "Ratiņš" in Gulbene, 80 Jahre alt wird.

Ein Trost für die Wartenden ist es vielleicht nicht. Aber zu hoffen bleibt, dass auch 2008 das große lettische Sängerfest von den gröbsten profanen Kommerzialisierungsversuchen verschont bleibt. Und einen zweiten gefährlichen Trend gilt es aufzufangen: aus vielen ländlichen Gebieten Lettlands, bisher ein Rückrad der Kulturtraditionen auch im Hinblick auf die Nachwuchsarbeit, sind bereits die enorm starken Abwanderungstendenzen bekannt. Im kurländischen Alsunga zum Beispiel, bei Sängerfesten bekannt durch die "Suitu sievas", seien inzwischen bereits so viele junge Leute als Aushilfskräfte nach Irland abgewandert (als einzige Möglichkeit Geld zu verdienen), dass beinahe nur noch diese besagten Frauen ("Suitu sievas") übrig geblieben seien. Ohne eine Förderpolitik für ländliche Regionen, ohne den Erhalt regionaler Firmen, Modernisierung der Produktionsweisen für neue Märkte, wird auch der Rückhalt für kulturhistorische Traditionen und Aktivitäten wohl längerfristig in Gefahr geraten wegzubrechen.

Beispiele neuer politischer Grafik in Lettland, dem Volk in die Seele geschaut (aus einer Ausstellung in "Arsenals", Dezember 2006): "Wo sind sie, die Männer in Lettland?" und "Unser Sib-irien" - eindeutige Symbolik.

8. Januar 2007

Lettland rutscht ins Neue Jahr (1)

"Es könnte ein ganz langweiliges Jahr für Lettland werden," so sagten es einige Jahresrückblicke 2006 inklusive der maßgeblichen politischen Auguren des Landes voraus. Im Lande stehen 2007 keine Wahlen an, die gegenwärtige Regierung erscheint ausreichend stabil, und selbst die im Frühsommer anstehende Wahl einer neuen Präsidentin / eines Präsidenten bringt ja bisher keine spannenden Kandidat/innen auf die Bühne.

Zunächst mal wird also bilanziert: Erstaunlicherweise ist der Rodler
Martiņš Rubenis Lettlands Sportler des Jahres 2006 geworden. Erstaunlich deshalb, weil er aus deutscher Sicht so konsequent ignoriert wird. Bei uns gibt es nur Hackel-Schorsch, und dann kommt lange nichts mehr.

In Lettland dagegen ist Rubenis nicht nur durch den Sport bekannt: sportlich hat er zwar bei der Winterolympiade 2006 in Turin "nur" eine
Bronzemedaille errungen, aber für sein Land war es die erste Medaille bei Winterspielen seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991. Aber Rubenis engagiert sich nicht nur im Sport: Mitte April 2006 nahm er an einem mehrtägigem öffentlichen Hungerstreik teil, mit dem auf die Lage der Menschenrechte in China aufmerksam gemacht werden sollte. "Gerade für mich als Sportler ist es ja eine Tatsache, dass gerade in so einem Land die nächsten Olympischen Spiele stattfinden sollen," äusserte er sich damals, der Nachrichtenagentur LETA zufolge (Foto rechts: Clearwisdom.net). Als Leser von Büchern über fernöstliche Philosophie war er auch vorher schon bekannt.

Und wer einmal "DJ Betons" zum Musikauflegen zu sich einladen sollte: auch das ist kein andere als der Rodler Rubenis. Nicht in der winterlichen Hauptsaison, wie zu vermuten ist, aber in Rigaer Klubs wie "PULSE", "Hedonija" oder "Pulkvedis" soll er schon beim Plattenauflegen gesehen worden sein. "Das habe ich schon gemacht, bevor ich durch Medaillen und Meisterschaften berühmt wurde, und es ist nur ein Hobby," sagte er vor der
lettischen Presse dazu. So gesehen ist es also nur konsequent, dass Rubenis auch der beliebteste lettische Sportler geworden ist - dieses Jahr vor dem Hürdensprinter Stanislavs Olijars, Biathlon-Athlet Ilmars Bricis, Gewichtheber (und Neu-Politiker) Viktors Ščerbatihs, und dem neuen Stern am lettischen Basketball-Himmel, Andris Biedriņš.

Im Frauensport war aus lettischer Sicht 2006 die Marathonläuferin Jelena Prok
opčuka überragend - sie gewann den prestigeträchtigen New-York-Marathon zum zweiten Mal in Folge. Die bei der Wahl zur lettischen Sportlerin des Jahres auf den weiteren Plätzen Folgenden zeigen, dass bei den Frauen fast dieselben Sportarten die beliebtesten sind: Basketball-Star Anete Jakobsone-Zogota, Biathlon-Athletin Mara Liduma, Roderin Anna Orlova, und Leichtathlethin Jeļena Rubļevska.

Was gibt es außerdem Neues in diesem angeblich so langweiligen Jahr? Der 1. bis 5.Januar 2007 waren mit durchscnittlich 8 Grad Celsius die wärmesten ersten Januartage in Lettland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, so gibt es LETA bekannt. Das seien sieben bis neun Grad mehr als normalerweise üblich. Da erinnern wir uns noch an die Schlagzeilen aus dem Januar 2006 - die waren ziemlich gegenteilig ....

"Produkt des Jahres"
könnten eigentlich die Tausende handgefertigter Strickhandschuhe geworden sein, die den Teilnehmern des NATO-Gipfels in Riga im November 2006 als Geschcnk überreicht wurden ("Stricken für den Frieden?"). Aber was ist daraus geworden? Kaum wurden sie überreicht, wurde das Klima so warm, dass derartige Handschuhe bisher nicht wieder zum Einsatz kommen mussten. So war es ja sicher nicht gemeint gewesen. Waren es die falschen Adressaten, oder waren es die falschen guten Wünsche?