30. November 2007

Lettland - eine weibliche Gesellschaft? Mythos und Tatsachen

Dieser Text beruht auf einem Artikel, den ich mit Veiko Spolītis 2006 in der lettischen Tageszeitung Diena publizierte. Eine deutsche Fassung erschien im Buch "Aktuelle postsozialistischer Länder. Das Beispiel Lettland".

Besucher, die als Tourist oder Geschäftsleute das erste Mal nach Riga kommen, tauschen gebetsmühlenartig Ihre Eindrücke über die Frauen aus. Neben dem Kleidungsstil, der sich von dem der Frauen in Deutschland unterscheidet – “weiblicher” lautet da das einhellige Urteil – geht es auch um ihre schiere Zahl. Dabei fällt dem Ausländer immer auch schnell auf, daß die meisten Straßenbahnen und Trolleybusse in Riga von Frauen gefahren werden. Doch auch im allgemeinen Straßenbild gebe es mehr Frauen als Männer, finden die meisten. Und überhaupt sehe man auf der Straße fast nur junge Menschen. Also laufen durch Riga nur junge Frauen?
Auch die Einheimischen, insbesondere wieder die Frauen, behaupten regelmäßig, Lettland sei eine unikale Gesellschaft mit ihrem Frauenüberschuß, was dann schließlich auch die Schriftstellerin Dace Rukšāne in ihrer allwöchentlichen Kolumne “Sekss” unterstrich. Es sei allerdings hinzugefügt, daß man in Estland exakt dasselbe zu hören bekommt. Aber kann das dann sein?

Folgt man den Diskussionen der Politiker über den 8. März, kann man schließen, daß die männlichen Abgeordneten ähnlich wie die kommunistischen Theoretiker Frauen vorwiegend eine traditionelle Rolle im Hintergrund zugestehen. Die Tradition der Sowjetzeit fortsetzend wird der zur Zeit der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufene internationale Tag der Frauensolidarität noch heute in Lettland mit Tulpen und feuchtfröhlich am Arbeitsplatz begangen. Ironischerweise ist nach dem Bankrott der Marxschen Idee der Gleichheit die Thematik noch heute in Lettland für beide Geschlechter virulent.
Nicht weniger aktuell sind die geringe Geburtenrate und Alkoholismus, also Fragen, die üblicherweise nach krassen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Bewußtseins rücken. Ungeachtet der stufenweise wachsenden mittleren Lebenserwartung wie auch des gestiegenen Bildungsniveaus zum Ende des totalitären Systems, herrscht in Lettland noch immer eine vereinfachende Ansicht vor, daß es in Lettland mehr Frauen als Männer gibt. Die Autoren versuchen eine Antwort zu finden, wie zutreffend diese Annahme ist.

Überzahl der Frauen im Alltag

Eine Mehrheit von Frauen ist im Alltag an bestimmten Orten tatsächlich zu beobachten. Schon im Kindergarten und in der Grundschule kann man „unwissenschaftlich“ konstatieren, daß in diesem Bereich wenigstens 90% Frauen arbeiten. In vielen Jahren haben wir beobachtet, daß der Anteil der an den Hochschulen Sozialwissenschaft männlichen Studierenden selten über zehn Prozent liegt (ein online Kommentar in der lettischen Tageszeitung Diena verwies darauf, daß dieses Bild nicht für die technische Universität gelte). Ein Überblick über die lächelnden Sekretärinnen in den Büros, die Angestellten in Restaurants und Geschäften überzeugt, daß der größte Teil der Mitarbeiter in diesen Bereichen Frauen sind. Allerdings betreffen diese Beobachtungen auch vorwiegend Berufe mit Publikumsverkehr, und auf diese Weise kann eine falsche Vorstellung vom Unterschied in der Anzahl von Männern und Frauen entstehen.

Tatsächlich kommen in Lettland so wie in anderen Staaten der Welt auch mehr Jungen zur Welt als Mädchen. Wenn von 1991 bis 1995 in Lettland 83.201 Jungen und 78.997 Mädchen das Licht der Welt erblickten, waren es nach den politischen und ökonomischen Veränderungen zwischen 1996 und 2000 nur noch 49.790 Jungen respektive 46.876 Mädchen. Seit 2001 hat sich die demographische Situation wieder verbessert, aber in Lettland unterscheidet sich nach wie vor die mittlere Lebenserwartung von Männern und Frauen kraß von den Zahlen Westeuropas. Gerade die erwähnten Unterschiede zwischen den Altersgruppen lassen den falschen Eindruck entstehen, die Gesellschaft Lettlands sei unikal mit ihrem überproportional hohen Frauenanteil.
In absoluten Zahlen waren unter den Einwohner Lettlands im Jahre 2004 1.250.867 Frauen und nur 1.068.336 Männer. Wenn bis zum Alter von 30 Jahren die Zahl der Männer mit 262.613 noch jene der Frauen mit 253.863 übertrifft, dann ist eine deutlich Verringerung dieses Verhältnisses in der Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren zu erkennen, wo 2004 160.984 Frauen nur noch 158.517 Männer gegenüber standen. Dieses Ergebnis verlangt eine Analyse, warum in einem Land, in dem die Zahl der Männer bis zum Alter von 30 über jener der Frauen liegt, die Zahl der Männer anschließend so dramatisch sinkt.

Sterblichkeit und Emigration

Die Sterblichkeit analysierend ist feststellbar, daß das Verhältnis von natürlichen Todesursachen zwischen Jungen und Mädchen 4:1 beträgt. Den Daten für das Jahr 2003 folgend sind im Alter zwischen 20 und 24 Jahren 43 junge Frauen, aber 164 junge Männer an Krankheiten gestorben. In der Altersgruppe zwischen 25 und 29 Jahren waren es 54 Frauen gegenüber 203 Männern. In der Gruppe der über 30jährigen verringert sich diese Differenz. Und im Alter zwischen 45 und 49 Jahren starben 371 Frauen und 802 Männer.
Erschütternder sind die unnatürlichen Todesursachen. Der internationale Vergleich zeigt, daß besonders im Alter von 18 bis 25 Jahren die Zahl der Unfallopfer besonders hoch ist. In der schwierigen Umbruchzeit 1994 starben 4.637 Männer und nur 1.372 Frauen, im Jahre 2003 dagegen 3.373 Männer und nur 931 Frauen. Im selben Jahr fielen Autounfällen 407 Männer und 145 Frauen zum Opfer, während durch Gewalt 165 Männer und 82 Frauen zu Tode kamen. Selbstmord verübten schließlich 2003 483 Männer und 122 Frauen, wenn auch Frauen deutlich häufiger einen Selbstmordversuch unternehmen. Prinzipiell ist das im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich.

Um eine umfassende Antwort auf die Eingangsfrage zu erhalten, betrachten wir auch die Emigrantenzahlen. Im Jahre 2003 etwa verließen 4.834 Frauen und 3.076 Männer im Alter zwischen 20 und 24 Jahren Lettland. Das langfristige Migrationsaldo in diesem Jahr betrug –650 Frauen, allerdings nur –196 Männer. Diese Tendenz ist bis zum Alter von 39 Jahren zu beobachten.
Folglich ist in Lettland eine Situation entstanden, in der durch die größere Sterblichkeit der Männer und die höhere Auswanderungsrate der Frauen ab der Altersgruppe der über 30jähirgen die Zahl der Frauen jene der Männer übersteigt und das ist in Lettland und Estland gleichermaßen das Ungewöhnliche gegenüber anderen Gesellschaften. Aber bedeutet dieses Ergebnis, daß die Männer ihr Leben schneller verleben und die Frauen das ihrige besser zu planen verstehen?

Umbruch im politischen und ökonomischen System

Als Folge des technischen Standards in der Sowjetunion war die Wirtschaft eine arbeitsintensive. Die Arbeitskraft der Frauen wurden, Haushaltsführung hin oder her, benötigt. Die Emanzipation der Frauen während der Zeit der sowjetischen Okkupation war eine formale, folglich betraf die Frauen in Lettland die Frauenbewegung der westlichen Welt in den 1970er Jahren nicht, die Gesellschaft blieb in bezug auf das Rollenverständnis der Geschlechter eine traditionelle. Dennoch tragen die Bildungsmöglichkeiten der Sowjetzeit ihre Früchte und erlauben den Frauen Lettlands vergleichsweise besser die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen zu durchleben. Noch 1979 kamen auf 1.000 Einwohner 76 Frauen, aber 86 Männer mit Hochschulbildung. 1989 betrug diese Zahl für beide Geschlechter bereits 115. Doch im Jahre 2000 gab es pro 1.000 Einwohnern bereits 151 Frauen und nur 124 Männer mit Hochschulbildung. Diese Entwicklung findet ihre Begründung in der sowjetischen Zeit, als die Gesellschaft patriarchalisch aufgebaut war und dem Mann die Rolle des Familienversorgers zudachte, die hauptsächlich mit Arbeit im industriellen und Landwirtschaftssektor verbunden war.

In Folge des Zusammenbruchs der nicht effektiv wirtschaftenden Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft gerieten die traditionellen „Familienversorger“ in die Abhängigkeit ihrer Partnerin. Der Zustand, daß mit einem Lehrereinkommen der Frau überlebt werden muß, war den Männern, die an die traditionelle Männerrolle gewöhnt waren, unangenehm, was wie Alkoholismus, Ehescheidung und vergleichbare Probleme zunehmen ließ. Viele Untersuchungen während der vergangenen zehn Jahre haben wie die von Andris Kangro und Andrejs Geske gezeigt, daß Mädchen in der Schule in Lettland erfolgreicher sind als Jungen und das spiegelt sich wieder in den Ergebnissen der Aufnahmeprüfungen der Hochschulen. Dank der besseren Ausbildung und besserer Sprachkenntnisse steigen Frauen in der heutigen modernen Informationsgesellschaft schneller auf der Karriereleiter nach oben. Und sie finden häufig besser ausgebildete Lebenspartner außerhalb Lettlands.

Auf diese Weise haben es die traditionellen lettischen Männer aufgrund ihrer unbefriedigenden intellektuellen und materiellen Umstände schwer, ohne Anstrengung eine kluge und attraktive lettische Frau zu finden, obwohl bis zum Alter von 30 die Zahl der Männer die der Frauen übersteigt. Und so gab es im herbst in der estnischen Tageszeitung Postimees einen großen Artikel über den Trend, daß estnische junge Frauen ins Ausland heiraten.
Gleichzeitig ist die Zahl der Schulmädchen in Lettland geringer als die der Jungen, und es ist möglich, daß dies ein Grund für die Mädchen ist, sich mehr anzustrengen; ein Grund für weitere Untersuchungen. Letztlich hoffen die Autoren trotz der Dramatik der genannten Zahlen, daß durch veränderte Prioritäten und eine bessere Finanzierung des Bildungswesens auch die Jungen besser für die Herausforderungen der modernen Wirtschaft vorbereitet werden können und folglich Stück für Stück das Problem der ungleichen Geschlechterverteilung in Lettland gelöst wird.

Wichtig ist hier auch die Erziehung. Sowohl in Familie als auch Schule ist diese weiblich dominiert. Gerade jene Damen, welche den Mangel an Männern, akzeptabele Männer wäre die bessere Formulierung, beklagen, sollten bei den Kleinen Vorsorge tragen, daß ihre Töchter sich nicht wieder mit dem g,eichen Typ Männer abgeben müssen, die ihnen selbst nicht zufriedenstellend erscheinen.

Literatur
Andris Kangro, Andrejs Geske, Zināšanas un prasmes dzīvei. Latvija OECD valstu Starptautiskajā skolēnu novērtēšanas programmā. 1998-2001, „Mācību Grāmata: Rīga, 2001
Dace Rukšāne: Tāds vīriešu trūkums kā Latvijā neesot gandrīz nekur citur pasaulē [Ein solches Fehlen an Männern gebe es fast nirgendwo sonst auf der Welt]; in: Sestdiena, 22. August 2004
Latvijas Republikas Centrālā Statistikas Pārvalde: Demogrāfija 2004, Rīga 2004
Results of the 2000 population and housing census in Latvia, Rīga 2001
Axel Reetz, Riga

27. November 2007

Bekannte Wirkungsstätte mit neuem Innenleben

Das Haus wurde 1913 in Riga als Bank gebaut. In die 30er Jahren des vorigen Jahr- hunderts residierte hier das Außenministerium der Republik Lettland, und auch Ministerpräsident Karlis Ulmanis hatte hier seine Büros - an diese Verwendung erinnernd, nahm kürzlich Außenminister Māris Riekstiņš wieder mitsamt seinem Ministerium im selben Haus Quartier.

Die Rede ist vom Gebäude an der jetzigen Valdemara iela 3 - in den Jahren seit 1974 als Sitz des Rates der Volksdeputierten - später Rigas Dome (Stadtrat) bekannt. Als es 1913 gebaut und am 8.2.1914 eröffnet wurde, war der Hypetheken- und Pfandleiherverein Riga der Auftraggeber, damals hieß die Straße noch Nikolaja iela. Im Juli 1923 beschloß das lettische Parlament (Saeima) das Gebäudes für Zwecke des Staates vorzusehen, und den früheren Eigentümer zu entschädigen.

Im April 2006 fanden umfangreiche Renovierungsmaßnahmen im Gebäude statt. Aber schon 2003 war der Umzug des Stadtrats in das Neue Rathaus in der Altstadt abgeschlossen gewesen, das Haus stand einige Zeit leer. Im September 2005 konnte hier das Projekt "Cameriga" stattfinden, nach den Worten seiner Initiatoren Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetz eine "dokumen- tarische Versuchs- anordnung für Riga" für das "Vakuum zwischen Stadtverwaltung und Außenministerium" (im Rahmen des Festivals "Homo Novus"). Dabei wurden einige der Angestellten der Stadtverwaltung zurück gebeten in ihre bisherigen - inzwischen geräumten - Amtstuben. 

Über dem Portal des Gebäudes prangt noch immer der Satz: Concordia parvae res crescunt - durch Eintracht wachsen kleine Dinge. Bezüge zu finden zu den manchmal verworrenen Wegen lettischer Politik mag jedem interessierten Boebachter selbst überlassen sein, denn eigentlich hat der Spruch eine zweite Zeile: discordia maximae dilabuntur (durch Zwietracht zerfällt das Große).

Weitere Infos:
zu Außenminister Riekstiņš

zum organisatorischen Aufbau des lettischen Außenministeriums (PDF-Datei)

zum Projekt "Cameriga"

23. November 2007

Sackgassen und Auswege in Lettland

Die politische Situation in Lettland ist derzeit eine komische. Komisch im doppelten Sinne des Wortes, einerseits merkwürdig, andererseits aber auch eben tragikkomisch, so daß man schmunzeln möchte, ware die Lage nicht so Ernst. In Lettland ist etwas ungewöhnliches im Gange. Seit der Zeit der Barrikaden, als 1991 die Menschen im Januar die staatlichen Institutionen gegen eventuelle Übergriffe durch die Sowjetmacht geschützt haben, kam es erstmals wieder zu Protesten, die man hierzulande bereits als Massendemonstrationen bezeichnen kann – 5000 Teilnehmer. 

Wieder geht es um Politik, wieder geht es um das Land, dismal jedoch nicht zum Schutze der eigenen politischen Elite, sondern gegen sie. Und damit wurde ausgeslöst, was bisher seit der Unabhängigkeit noch nie da war: eine Regierung verabschiedet sich, ohne daß ihr die Mehrheitim Parlament verloren gegangen ware oder auch einfach ein Partner eine andere Partnerschaft für die weiteren politischen Geschicke des Landes vorzog. Ohne jeden Zweifel hat sie politische Elite, die Regierung und insbesondere die Volkspartei in der Bevölkerung jades Vertrauen verloren. Die Entlassung des Chefs der Anti-Korruptionsbehörde brachte dann im Oktober das Faß zum Überlaufen, es wurde eben wieder demonstriert. Die wichtigste Regierungspartei stellte sich durch den Parteiausschluß (in Abwesenheit) des Vorstandsmitgliedes und Regionalministers, Aigars Štokenbergs noch selbst ein Bein und verlor auch Außenminister Pabriks, der sofort seinen Rücktritt einreichte. Die Koalitionspartner stehen vor einem politischen Scherbenhaufen, und einstweilen ist völlig unklar, was nun warden soll, denn eigentlich könnte nach dem Motto “aus alt mach neu” einfach mit anderen Gesichtern weiterregieren, auch wenn die einstweilen verhältnismäßig glaubwürdig als Antikorruptionskraft gebende Neue Zeit wie auch das bisher von allen mehr oder weniger als national zu bezeichnenden Kräfte gemiedene Harmoniezentrum in die Regierung streben. 

Die Neue Zeit jedoch, die erst während der letzten Legislaturperiode von eben demselben regierungschef geleitete Koalition verlassen hatte, tut jedoch gut daran, sich nicht einfach als Mehrheitsbeschaffer einspannen zu lassen. Hinter dem ganzen Dilemma steht freilich noch das Damoklesschwert einer Aufklärung der Frage, wer nun auf den schwarzen Gehaltslisten des im März inhaftierten Büregrmeisters von Ventspils steht. Dies kann man bislang nur vermuten. 

Die frühere Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, die nach eigener Aussage die Liste gesehen hat, verweigerte sich weitere Äußerungen einmstweilen.Das Volk und viele Politikwissenschaft fordern nun Neuwahlen nur gut ein Jahr nach dem letzten regulären Urnengang, nur so könne die Politik wieder legitimiert warden. Doch da stellt sich sofort die Frage, woher in so kurzer Zeit unbelastete politische Kräfte kommen sollen in einem Land, in dem sich die moisten Menschen angewiedert von der Politik abwenden. Und es ist ja eben auch (noch) nicht bekannt, wem man noch trauen kann und wem nicht. Was die Parteien der scheidenden Koalition wollen, ist ebenfalls schwer zu erraten, so hat Ministerpräsident Aigars Kalvītis drei seiner vier vakanten Ministerposten für einen Zeitraum von weniger als einem Monat besetzt. Bleibt nur das Wirtschaftsministerium unbesetzt, welches die konservative Für Vaterland und Freiheit beansprucht hat, nun aber aus Angst oder Unsicherheit auf einmal nicht mehr besetzen will. Welche Schritte also führen nun in Sackgassen und wo sind die Auswege?
Axel Reetz, Riga

16. November 2007

Zum Geburtstag ein Film

Zum 89. Male jährt sich am 18.November 2007 der Tag der lettischen Unabhängigkeitserklärung. Kein "runder Geburtstag" also, aber diesmal scheinen die Zelebrierungsfeiern ganz im Zeichen eines gerade fertig produzierten neuen Films zu stehen: "Rigas sargi" (Rigas Beschützer). Die Filmemacher selbst beschreiben den Inhalt so: er handle von wahrer Freundschaft und echter Liebe vor dem Hintergrund des lettischen Freiheitskampfes 1918-1920. Schon am 15.November, wenige Tage nach der Premiere, meldeten die Kinokassen in Lettland insgesamt 25.000 verkaufte Kinotickets.

Zwei Freilichtaufführungen waren im Ablaufplan der Feiern zum 18.November in Riga vorgesehen, nun sind es bereits viele Extra-Vorführungen in ganz Lettland bis zum Ende des Jahres. "11.000 Verteidiger halten Riga gegen 50.000 Angreifer", auch das könnte eine Inhaltsangabe rund um die im Film gezeigten geschichtlichen Ereignisse sein.

Regisseur Aigars Graube produzierte "Rigas Sargi" nach einem Roman von Andris Kolbergs. Der geschichtliche Moment - endlich unabhängig nach 700 Jahren Beherrschung durch fremde Mächte - verlockt ja geradezu auch zu dramatischen Fantasien. Lettland orientiert sich dabei gern an dem estnischen Film "Nimed Marmortahvlil" (Namen in Marmor), der bereits 2002 mit ähnlicher Story herauskam und Rekorde an den estnischen Kinokassen erzielte. Auch das lettische Kinogewerbe hofft nun endlich mal wieder einen Film zu haben, den auch die eigene Bevölkerung gerne wieder im Kino sehen will. Immerhin beliefen sich die Produktionskosten auf über 2 Millionen Lat (ca. 3 Millionen Euro).

"Es ist kein Dokumentarfilm, es ist eben eine Story", erklärte Regisseur Graube vorab im lettischen Radio besorgten Anrufern, die nach Details rund um die filmische Darstellung der historischen Kämpfe um Riga gegen Ende des 1.Weltkriegs fragten.

Lettland feiert den Nationalfeiertag dieses Jahr also vielfach mit einem Besuch im Kino. Was geschah sonst noch diese Woche, nach den turbulenten Ereignissen der vergangenen Wochen?

- Fast gleichzeitig mit dem Wechsel im Amt des lettischen Außenministers (Artis Pabriks gab das Außenamt in der Regierung Kalvitis auf) hat nun das lettische Außenministerium ein neues Gebäude bezogen. Der neue - vorläufig aber nur bis zum Rücktritt von Ministerpräsident Kalvitis am 6.12. amtierende - Außenminister Māris Riekstiņš residiert nun in der Krisjana Valdemara iela 3.
- "Sabiedrība citai politikai tiesiskā valstī" (Gesellschaft für eine andere Politik im Rechtsstaat) soll ein Verein (engl. NGO) heißen, die der katapultartig aus der regierenden Kalvitis-Partei (Tautas Partija - Volkspartei) rausgeschmissene Ex-Minister Aigars Štokenbergs jetzt aus der Taufe hob. Mit dabei sind auch einige andere ehemalige Amtsinhaber: Ivars Lācis, frühereRektor der Lettischen Universität Riga, Ingrīda Blūma, früher Chefin der AS Hansabanka, Edgars Štelmahers, bisher als Unternehmer bekannt, und eben auch Artis Pabriks. Der Verein möchte sich dafür einsetzen, mehr Menschen für eine längerfristig nachhaltige und stabile Entwicklung in Lettland zu aktivem Einsatz zu motivieren.

- Präsident Valdis Zatlers nahm indessen an der Präsentation der Arbeitsergebnisse der lettischen internationalen Historikerkommission teil. Diese Kommission wurde 1998 eingesetzt, um die Arbeitsergebnisse verschiedener Forschungen zur lettischen Geschichte zwischen 1940 bis 1990 zusammenzuführen und zu veröffentlichen. Der neue Band der veröffentlichten Arbeitsergebnisse enthält unter anderem bisher unbekannte Dokumente zur ersten sowjetischen Okkupation 1940/41 und zur nachfolgenden Okkupation durch NaziDeutschland.

- Diena setzte am 16.11. sechs Köpfe aufs Titelblatt , quasi nach dem Motto: welchen Chef hätten Sie gern? Auch Noch-Regierungschef Kalvitis meint andere dafür qualifizieren zu können, und erklärt Helena Demakova als ausgezeichnete potentielle Ministerin für Bildung & Wissenschaft (also lieber nicht für den Chefsessel?). Die oppositionelle "Jaunais Laiks" dagegen meint, ihr Kandidat Valdis Dombrovskis müsse es werden, ansonsten bliebe nur die Auflösung der Saeima und Neuwahlen. Neu-Außenminister Riekstiņš hingegen schätzt eine eigene Kandidatur als wenig erfolgversprechend ein. Neu-Minister Zalāns wird in den lettischen Medien eher als Beispiel dafür genommen, dass die Tautas Partija mal wieder ihren Unterstützern in den verschiedenen Regionen Lettlands zeigen will: Seht, wenn ihr tüchtig seid, könnt ihr es zu was bringen (Zalāns war bisher Bürgermeister von Kuldiga). Auf der Homepage der Tautas Partija, die auf ihrem bevorstehenden Parteikongreß die Frage des kommenden Regierungschefs entscheiden will, sprechen sich 41% dafür dafür aus, das leitende Amt sollte doch lieber gleich Alt-Premier und Parteifinanzier Andris Šķēle selbst wieder übernehmen.

Nicht alle werden dazu sagen: abwarten und Tee trinken. Der lettische Nationalfeiertag erlebt diesmal politisch vielfach wach gerüttelte "Landskinder" - die sich ein wenig, ein ganz klein wenig vielleicht auch wie die "Verteidiger von Riga" fühlen.

Mehr:

Ausschnitte aus "Rigas Sargi" bei YouTube (ohne Worte)

Infos zu "Nimed Marmortahvlil" (Nordische Filmtage)

"Rigas Sargi" in der Internet Movie Database

Fotos von "Cinevilla", dem Ort wo "Rigas Sargi" in weiten Teilen gedreht wurde

Das lettische Hollywood - Cinevilla (lett.)

Maris hat seinen Besuch in der Filmstadt "Cinevilla" fotografisch festgehalten

Infos zum Film (engl.)

Karsten Brüggemann in "Eurozine" zu wichtigen lettischen und estnischen Geschichtsdaten

Einzelheiten zur lettischen Historikerkommission

13. November 2007

Auf'm Bau in Lettland - damit die Kohle stimmt

Genau 4037 "Gastarbeiter" sind in Lettland offiziell registriert. Wenig überraschend, dass neben 889 Russen auch 676 Männer und Frauen aus der Ukraine, 590 aus Moldawien, und 275 aus Weißrussland in Lettland arbeiten. Sandra Valtere, langjährige Mitarbeiterin des ZDF in Riga, entdeckte jetzt im Rahmen einer Reportage für die lettische Tageszeitung DIENA auch 41 Arbeiter aus Deutschland in Riga.

"Wir sind leicht zu finden: dort hinten, hinter der Siemens-Eishalle, dort wo die Fahne von Dynamo Dresden hängt", erzählen die deutschen Bauarbeiter der lettischen Reporterin. Auch sächsisch wird hier gesprochen, das hören auch lettische Ohren heraus. Saliena, südwestlich von Riga gelegen, wirbt mit dem Bau von Reihenhäusern direkt am Waldrand. 111 solcher Häuser soll die Firma CWS mit Sitz in Cottbus bis 2009 fertiggestellt haben.

"Alles ist sehr gut organisiert hier," loben die deutschen Gastarbeiter sogar die lettischen Verhältnisse. CWS ist seit 14 Jahren als Bauträger und Projektentwickler tätig, vor allem im Osten Deutschlands. "Gerade bei uns in Ostdeutschland gibt es viel Arbeitslosigkeit, und wir gehen natürlich da hin, wo wir mehr verdienen können" - so sehen es die Arbeiter. "Und warum kaufen so viele Letten BMW oder Mercedes? Die Antwort ist doch: es ist die Qualität, die es ausmacht."

Offensichtlich ist Lettland mit ostdeutschem Lohnniveau konkurrenzfähig, so schlußfolgert die lettische Journalistin. Aber auf ihre Fragen nach der genauen Höhe des Arbeitslohns geben die Befroffenen dann doch lieber keine Antwort. Als Unterkünfte stehen Bauwagen bereit, und die Nähe zu Riga gibt den deutschen Gästen offensichtlich das Gefühl, doch nicht ganz so weit weg vom zivilisierten Europa zu sein. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist zwar gesunken, aber alle Arbeitslose zusammen sind immer noch mehr Menschen als Estland und Lettland zusammen Einwohner hat, so die Rechnung in Sandra Valteres Bericht. Der lettische Manager des Bauprojekts antwortet mutig: "Ja, klar sind deutsche Arbeitskräfte teuer. Aber auch der Lebensstandard hier in Lettland ändert sich, und unsere Kunden verlangen Qualität, die können wir von den Deutschen lernen."

CWS ist diesem Bericht zufolge die erste deutsche Firma, die Häuser in Lettland baut. Allen Käufern der Häuser bietet die Maklerfirma wird ein "100-Lat-Gutschein" - unter anderem zur Nutzung der Golfplätze in der unmittelbaren Nähe. "Vācu arhitekti, vācu būvnieki un vācu kvalitāte" so der Werbespruch. Oder, für die Investoren in Englisch: "Latvia - promising and profitable." - "Die Leute hier arbeiten hart, sind gebildet, global orientiert und wollen ihr Leben genießen"- so die CWS-Lettland-Kunde für Geldanleger.
Vielleicht geht es auch schlicht um "Claim abstecken": wer zuerst kommt, locht zuerst.

Sandra Valteres Bericht (lett.)

Homepage Saliena hier und auch hier

Bericht bei Apollo.lv über das Neubaudorf Saliena (lett.)

Infos bei Jaunie Projekti (lett.)

Ausführlicher Bericht bei TirgusDiena (lett.)

11. November 2007

Ein fotografierter Tag

Schon seit Jahren kann jeder zum Fotografen werden, aber wer viel fotografiert, braucht Zeit, Geld, und muss eine Menge Arbeit investieren. Genau vor 20 Jahren - im Jahr 1987 - fand die Foto-Aktion "Ein Tag in Lettland" statt. Das nahm eine Projektgruppe nun zum Anlaß, die Aktion wiederzubeleben. 

"Schon früher war es möglich, zum 'Fotomanen' (Viel- fotografie- rer) zu werden," schreiben Jānis Krūmiņš, Ints Kalniņš und Gunārs Janaitis, drei der Fotografen, die das Projekt wiederbelebt haben (siehe Foto rechts); "aber früher brauchtest Du natürlich viel Zeit, Geld, und es kostete eine Menge Arbeit. Heutzutage kann jeder mit einer ins Handy eingebauten Kamera losziehen, aber es ist auch möglich, dass die riesige Anzahl virtueller Dateien von einem Augenblick auf den anderen wieder komplett verloren geht."

 Das, was am 28.August 1987 innerhalb von nur 24 Stunden von nach Lettland einge- ladenen Fotografen aus Litauen, Estland, Moskau, Finnland und der DDR dokumentiert wurde, wirkt heute wie letzte Erinnerungen aus der Sowjetzeit. 1987 entstanden 30.000 Negative im Rahmen der gemeinsamen Aktion, Material, aus dem eigentlich einmal ein Buch werden sollte. Leider fanden sich dann im Zuge der politischen Umwälzungen keine finanziellen Mittel mehr dazu. Aber die Fotos gibt es noch - und was liegt näher, wenigstens eine Internetseite daraus zu machen. Dazugekommen sind die Fotos, die (lettische & eingeladene internationale) Fotografen in Lettland am 31.August 2007 gemacht haben. "Ein Tag in Lettland - nach 20 Jahren."

Webseite "
Viena diena Latvijā"

Projektkonzept

Fotos der Aktion von 1987

Fotos von 2007

Titel und Autoren der abgebildeten Fotos: Ārijs Šūlmanis: "Die Organisatoren der Fotoaktion", Viktors Rudjko: "Morgens im Autobus", Gunārs Janaitis: "Polnische Gastarbeiter - Mittagessen der Restauratoren", Gvido Kajons: "Im Laden von Kuldiga", Aldis and Gunars Jermaks: "Milchsammlerin Arija Gaile und Fahrer Guntis Vitols".

8. November 2007

Zu Nikolaus wird alles anders ...

Am 5.Dezember wird Aigars Kalvitis, seit dem 2.Dezember 2004 Chef der lettischen Koalitionsregierung aus Tautas Partija (TP - Volkspartei), Tevzemei un brivibai (TB - Vaterlandspartei), Pirma Partija (Erste Partei) und Zaļo un Zemnieku Savienība (Liste der Bauernpartei und der Grünen Partei), von seinem Amt zurücktreten. Dies gab Kalvitis am 7.November bekannt, nachdem er zuvor mit dem lettischen Präsident Valdis Zatlers gesprochen hatte. Er vollzieht damit den Schritt, den nahezu alle politischen Beobachter nach den wochenlangen regierungs- kritischen Demonstra- tionen und Kundgebungen erwartet hatten.

Kalvitis hatte sich lange gesträubt: bereits vier seiner Minister waren zurückgetreten, und sogar Präsident Zatlers hatte seine Zurückhaltung zuletzt aufgegeben und einen Rücktritt bereits leise empfohlen. Noch am 5.November hatte Kalvitis gesagt: "Am 8.November wird über den Haushalt 2008 im Parlament entschieden, und auch danach ist viel Arbeit zu tun." 2 Tage später ist nun alles anders.

Kalvitis war nach der Wiedererringung der Unabhängigkeit Lettlands der einzige Regierungschef gewesen, der seinen Posten auch nach einem Wahlgang behalten durfte. Er war über 1000 Tage im Amt: für heutige lettische Verhältnisse eine sehr lange Zeit. Die fortwährenden Demonstrationen vor dem lettischen Parlament hatten aber bei sehr vielen die Meinung reifen lassen, dass nur eine neu gebildete Regierung mit frischer Kraft die Arbeit weiterführen könne und das verloren gegangene Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewinnen könnte.

Vorschlag: Leute, trinkt einen Cappuccino zu Ehren dieser Entscheidung!

Die heutige Sitzung des lettischen Parlaments ist hier mitzuverfolgen (Audio oder Video).

Was heute sonst noch geschah:

- drei neue Minister wurden ins Amt berufen: als Außenminister der bisherige Büroleiter des Regierungschefs, Māris Riekstiņš (Tautas Partija), als Wohlfahrts-/Sozialministerin die bisherige Staatssekretärin Iveta Purne (Grüne & Bauern), und als Minister für Regionalentwicklung und Kommunales der bisherige Bürgermeister von Kuldiga, Edgars Zalāns (Tautas Partija).

- Wer will den Chefsessel? Weder die Vaterlandisten (Tevzemei), noch die Pastoren (PP), und auch nicht die Bauern mit den grünen Ohren (ZZS) wollen Kandidaten für die Kalvitis-Nachfolge benennen. Alle drei Koalitionsparteien sind wohl mit der jetzigen Macht- und Pöstchenverteilung hochzufrieden: die einen sitzen in Riga auf dem Thron, die anderen stellen den Parlamentspräsidenten, und die Erstbesten haben ihrem im Geld schwimmenden Parteichef den Einfluß als Minister gesichert, wo er jede Menge willige Geschäftsleute mit Gewerbeflächen und Industrieparks befriedigen kann. Was wollen eigentlich diese Demonstranten? Bloß nicht zu sehr am Machtgefüge wackeln ...

- der oppositionellen "Jaunais Laiks" (die jetzt vielleicht einen neuen Propaganda-Film mit dem Titel "Neue Zeiten, Teil 2" herausbringen wollen?) mangelt es dagegen nicht an Chef-Kandidat/innen: Parteichef und US-Import Krišjānis Kariņš, Ex-Außenministerin und Fast-EuroKommissarin Sandra Kalniete, oder vielleicht EU-Parlamentarier Valdis Dombrovskis? Oder was Regionales: auch der Bürgermeister von Saldus, Didzis Konuševskis, wird ins Rennen geworfen. Wie war das noch: wessen Namen zuerst genannt werden, die haben die schlechtesten Chancen?

- Ach ja, und der Haushalt 2008 wurde im Parlament verabschiedet. Mit 54 Stimmen, gegen 39. Drei nahmen nicht teil: Ex-Grüner Visvaldis Lācis, Rauswurf-Minister Aigars Štokenergs, und auch Ex-Außenminister Artis Pabriks, von dem bekannt wurde, dass er nun doch die Tautas Partija verlassen wolle ("noch ist der aufstrebende Stern der Partei nicht untergegangen", schreibt DIENA).

Mehr zu lettischen Karikaturisten gibt es hier:

Dadzis

Archiv Latvijas Avize


3. November 2007

Der Domplatz ist unser Wohnzimmer!

Wenn in Lettland etwas Wichtiges geschieht, wird es in der Regel auf dem Domplatz in Rigas Altstadt zelebriert. Sänger- feste, sportliche Höhepunkte, von Schulanfang über Erntedankfest bis zum EU-Beitritt - alles wird hier feierlich begangen. Wenn es danach geht, war die Versammlung unter dem Titel "Für ein rechtsstaatliches Lettland" heute ebenfalls ein Höhepunkt. Nach Schätzungen der Polizei versammelten sich 8.000-9.000 Menschen, darunter auch viele aus allen Regionen Lettlands. Bunte Regenschirme sind bei diesen Kundgebungen weiterhin charakteristisch: diesmal herrschte starkes Schneetreiben.

Derweil befindet sich Regierungschef Kalvitis noch auf USA-Besuch. "Condoleeza Rice erinnert Kalvitis daran, die Korruption besser zu bekämpfen", weiß LETA dazu zu berichten. DIENA versuchte den Regierungschef telefonisch zu interviewen, und erntete ein unwirsches Bekenntnis: "Ja, sie hat die Korruptionsbekämpfung als Priorität erwähnt, aber das war's", so ein Regierungschef, von dem immer noch angenommen wird, seine Zeit sei abgelaufen.

Zu Hause in Riga schwindet derweil die Ministerriege. "Man muss jederzeit bereit sein, von einem Volvo in die Straßenbahn umzusteigen," so sagte es der zurückgetretene Außenminister Pabriks. Umsteigen wollte nun auch die grün-bäuerliche Sozialministerin Dagnija Staķe: sie trat zurück, angeblich weil sie Forderungen nach einer Rentenerhöhung um 7Lat pro Monat im Haushalt 2008 nicht durchsetzen konnte. Die bereits seit fünf Jahren im Amt befindliche Ministerin wird aber in der Öffentlichkeit vor allem mit dem Brand im Sozialzentrum "Reģi" am 23.Februar 2007 in Verbindung gebracht, als 26 Menschen starben - vor allem an schrecklichen Verhältnissen in diesem Heim, an einem eiskalten Tag, als alle Mittel genutzt werden mussten, um irgendwie Wärme ins Haus zu bekommen. Staķe galt also sowieso als Kandidatin für eine Regierungsumbildung.

Auch von Präsident Zatlers waren in den vergangenen Tagen einige Stellungnahmen zu aktuellen Themen zu vernehmen. Zunächst, bevor die "Cappuccino-Revolutionäre" loszogen, hatte das Präsidentenbüro einfach verlautbart, dass es bis Ende des Jahres keinen Staatsbesuch von Zatlers mehr im Ausland geben werde.
Als 5.000 Menschen vor dem Parlament demonstrierten, betonte Zatlers die Notwendigkeit einer stabilen Regierung. Und Anfang dieser Woche, im Rahmen eines Interviews des lettischen Radios gefragt nach seinen Plänen für den 3.November (wenn sich das Volk wieder zu vermutlich Tausenden auf dem Domplatz einfindet), sagte Zalters: "Oh, ich habe immer eine Menge zu tun. Ich muss Akten bearbeiten, und werde das sicherlich zu Hause tun."

Zatlers überlegte es sich anders, und zeigte sich heute doch noch den ver- sammelten Menschen (Foto links). "Ich freue mich, dass Sie hier im Zeichen neuer Werte versammelt sind", wird Zatlers in der Presse zitiert, "einen ehrenhaften Staat aufzubauen, der auf Recht und Gesetz beruht, und auf kulturelle Werte." Zatlers plötzliches Auftauchen verhinderte aber nicht, dass in der Menge auch Plakate zu sehen waren "das Volk erwacht, der Präsident schläft."

Transparency International (TI), die mit ihrer lettischen Mitgliedsorganisation DELNA heute mit zur Kundgebung aufriefen, kündigten gleichzeitig der Presse an, dass am 5.11. und 6.11. sich die TI-Präsidentin, die Canadierin Huguette Labelle, im Rahmen einer Konferenz zum Thema "Ethik in der Demokratie" in Lettland aufhalten werde. LETA, die lettische Presseagentur, fügte dieser Meldung noch eine Info zu dem bisher letzten und einzigen Mal hinzu, als sich ein TI-Präsident mit lettischen Politikern traf. 2004 bat der damalige kurzzeitige Regierungschef Indulis Emsis um ein Treffen mit TI-Präsident Peter Eigen - nachdem DELNA sich entschieden gegen den Vorschlag ausgesprochen hatte, Ingrida Udre zur EU-Kommissarin zu ernennen. Selbst die lettische Präsidentin Vīķe-Freiberga hatte damals verärgert von "Einmischung" in die Politik gesprochen, es entstand der Spruch von den "Sorosieši", den vom US-Milliardär George Soros bezahlten NGO-Aktivisten. In der lettischen Presse ist es immer wieder die Neatkarīgā Rīta Avīze (NRA), die mit kritischen Beiträgen die "Sorosieši" begleitet. Manche Mythen werden auch hinzugefügt: angeblich wolle Soros auch die Euthanasie und den freien Drogengebrauch durchsetzen. - Erst vor wenigen Tagen erschien bei NRA wieder ein Artikel, überschrieben mit "Sorosieši wollen in Europa die Außenpolitik übernehmen", in dem der Einfluß der Kreise um Soros bei der Gründung des europäischen außenpolitischen Rats (European Council on Foreign Relations) beschrieben wird.

Unklar bleibt, welche Richtung diese "Volksbewegung" jetzt einschlagen wird. Natürlich hat Regierungschef Kalvitis es nach der Beratung des Haushalts für 2008 (das wird im Laufe der nächsten Woche der Fall sein) selbst in der Hand, einen Neuanfang zu setzen. Und die aus allen einflußreichen Ämtern (inklusive dem Chefsessel im Stadtrat Riga) gejagte oppositionelle "Jaunais Laiks" ist froh, sich im angeblichen Rückenwind dem Volk zeigen zu können. Die aus den 90er Jahren beliebte Methode, schnell mal vor Neuwahlen eine neue Partei zu gründen und dann mit alten Köpfen neue Kleider anzulegen, das wird es wohl diesmal nicht werden. Eine Zeitlang bleibt es noch spannend in der lettischen Politik, und vielleicht hat auch die gegenwärig amtierende Kultur- und Außenministerin Helena Demakova Recht, die dieser Woche verlautbaren ließ: "Ein Gutes haben ja die Fehler meiner Partei: es interessieren sich jetzt wieder sehr viele Menschen für Politik."

Bericht von der Demonstration auf dem Domplatz (TVNet/LETA), mit anklickbarer Fotogalerie (von der auch die hier wiedergegebenen Fotos stammen)

zur Gründung des European Council on Foreign Relations (Ulrike Guérot, Leiterin des Büros Berlin)

Beitrag zum European Council on Foreign Relations aus lettischer Sicht (Ritums Rozenbergs, NRA 25.10.07)