30. August 2008

Rigas russisches Investment

Die gegenwärtige lettische Regierung versucht sich momentan als eifriger Unterstützer georgischer Interessen zu profilieren. Ob es die politische Freundschaft mit vermeindlich unverzichtbaren US-Militärs sichern soll, oder in der europäischen Politik Vorteile bringt, wird sich erweisen müssen. Georgier sind sicherlich ein sympathisches Völkchen - aber wer wollte sagen, dass Nord- oder Süd-Osseten (wer kennt sich hier wirklich aus?) oder Abchasen das nicht wären?
Auffällig ist weiterhin die versuchte Frontstellung: wenn ich mal davon ausgehe, dass in einer durch Waffenfans auf beiden Seiten verschärften Situation - die einige Tage lang ja als Krieg bezeichnet werden musste - fast nie nur einseitige Schuldzuschreibung weiterhilft (wenn man nicht nur "Recht" behalten, sondern den Frieden will!), dann macht auch Lettland-Freunden dieser neue Eifer, mit dem Europa "baltisiert" werden soll, Angst.

Der Grund ist einfach: was die lettische Regierung hier versucht, ist eben nicht nur der Versuch, die Situation in Georgien möglichst zu beruhigen im Sinne der Menschen, die dort leben, und den bisher betroffenen Opfern zu helfen (bei allem Verständnis dafür, dass die Letten die Menschen in Georgien eben besser kennen als die in Süd-Ossetien, und so auch persönlich mit ihnen mitleiden). Nein, plötzlich kommt auch die so ungeliebte "baltische Allianz" wieder zustande, die offenbar in Zeiten von Freiheit und selbst erkämpfter Demokratie so niederrangig verwaltet wurde (siehe Auseinandersetzungen unter dem baltischen Staaten um Ölraffinerien, Fischereifelder, Grenzverlauf, Marktöffnung für die jeweils anderen, fehlende gemeinsame Konzepte bei großen Kulturveranstaltungen - um nur ein paar Beispiele zu nennen).

Schon lange hatte es Letten, Esten und Litauer geärgert, dass Westeuropa ihrer Meinung nach Russland unterschätzt. Das mag ja seine Berechtigung haben. Aber die gegenwärtige scheinbar so starke Allianz (mit einem sehr konservativen polnischen Präsidenten an der Seite, der vielleicht seine letzte Chance sucht, um doch noch in seinem Sinne etwas zu bewegen) ist nur eine Momentaufnahme. Lettland muss sich fragen lassen, ob wirklich das Ziel sein kann, dass alle EU-Mitgliedsstaaten nun eine Kampagne starten "bestraft Russland". 

Investitionen in die Zukunft
Besorgniserregend sind vor allem die möglichen Rückwirkungen für die lettische Innenpolitik. Wird nun über Bord geworfen, was mühsam im Laufe der Jahre wenigstens als Entwicklung hin zur Chancengleichheit aller Volksgruppen aufgebaut wurde?
Vieles wurde in den vergangenen Jahren getan, mit Recht mit Blick auf die 50 Jahre Okkupation. Die Folgen dieses Zustands müssen erstmal ökonomisch, sozialpsychologisch, demokratisch diskursiv beseitigt werden - damit die Menschen in Lettland sich nicht nur rein grundrechtlich als frei fühlen, sondern auch im Sinne einer individuell freien Wahl verschiedener Chancen und Möglichkeiten diese auch für sich selbst begreifen können. "Demokratie ist, wenn wir es selbst gestalten" - das ist ein schwer zu realisierbarer Spruch. Und Russland dazu zu bringen, endlich auch die geschichtliche Perspektive und die damit zusammenhängenden Fakten offiziell anzuerkennen (d.h. das, was in Lettland Okkupation heisst), ist zugegeben eine Jahrhundertaufgabe.

Bisher deutete jedoch wenig darauf hin, dass sich die lettische Regierung weiter diesen Aufgaben stellen will. Momentan - am Tag des EU-Sondergipfels zu Georgien - lässt das lettische Regierungskabinett Meldungen unwidersprochen, die "speziellen Sonderministerien" sollten bald ganz aufgelöst werden (damit gäbe es dann auch keinen Minister für Integration mehr). Bisher sind es immer kleine Minderheiten gewesen, die eine "Rückführung" aller ethnischen Russen aus Lettland nach Russland fordern. Und auch in westlichen Medien ist immer häufiger zu lesen, dass "die starken russischen Minderheiten in Estland und im benachbarten Lettland wenig Interesse an 'Schutz' oder gar 'Befreiung' durch die Großmacht Russland zeigen" (z.B. FTD 30.8.08)

(Foto: Baugrube der entstehenden "ZTowers")

Lettlands ehemalige Aussenminiserin Sandra Kalniete dagegen meint zu erkennen, dass die lettische Integrationspolitik gescheitert sei. Warum? Ja, weil in Lettland lebende Russen die Auseinandersetzungen in Georgien und Süd-Ossetien nicht genauso beurteilen wie die lettische Regierung (siehe Bericht lettisches Zentrum f. Menschenrechte). Merkwürdig, gerade Kalniete gründete ja kürzlich eine eigene politische Gruppierung, weil sie nicht mit der Politik der herrschenden Regierung einverstanden war ... Und die andere - naheliegende - Konsequenz wäre dann auch, dass es "Gesinnungs-TÜV" auch für Letten geben müsste (falls sie außenpolitisch andere Ansichten als ihre Regierung äußern).

Angst vor der Wirtschaftsflaute
Gegenwärtig ist eigentlich die Angst vor einem Abflauen des Wirtschaftsaufschwungs der beherrschende Faktor der politischen Szene in Riga gewesen. Wenn bei einer beständigen Inflationsrate von über 15% das Wachstum unter 10% sinkt, in einer Situation wo die bisher großzügig vergebenen Kredite der Banken bereits weggefallen sind, dann könnte es für die Einwohner Lettland bald noch härtere Zeiten geben. Die Immobilienpreise sind bereits im freien Fall, als eines der aktuellen und Aufsehen erregenden Bauprojekte sind noch die nahe dem Hansabank-Hochhaus im Bau befindlichen Zwillingstürme der "Z-Towers" übrig geblieben. Infos über diesen neuen Büro- und Hotelkomlex direkt am Daugavaufer kann man sogar dem "
Deutschen Baublatt" entnehmen, denn die "Strabag AG" führt den 24-stöckigen Bau im Auftrag russischer Investoren aus, und die "Kafril GmbH" aus Leipzig übernahm den Aushub der 14 Meter tiefen Baugrube zur Tiefgarage.

Im Endergebnis soll das Luxushotel Sheraton hier mit entstehen ("mit atemberaubenden Blick auf Riga" - so die Eigenwerbung), sowie Büros und Geschäftsräume der gehobenen Klasse, inklusive Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach. Raitis Nešpors, Direktor der beteiligten Firma “Re&Solution” (eine Leasing-Agentur), versprach bei "Baltic Business News" auch schon mal ein "Business Metropolis".
Mit den örtlichen Baubehörden haben die Projektverantwortlichen schon mal andere Schwierigkeiten, wie der lettischen Presse leicht zu entnehmen ist (z.B. DIENA 9.5.08).

Soviel nur ein Beispiel, dass es im normalen Geschäftsleben eine Reihe von Investitionen gibt, die von russischer Seite finanziert oder mitfinanziert werden. Ich bin mal gespannt, ob die lettische Politik Derartiges demnächst unter den Vorbehalt politisch-populistischer Slogans in Frage stellen will.

27. August 2008

Umfrage: 80% sind besorgt über Situation in Georgien

Wie eine von der lettischen Nachrichtenagentur LETA veröffentlichtes Umfrageergebnis (Market Data) aussagt, sorgen sich 80% der Menschen in Lettland um die Ereignisse in Georgien und verfolgen die entsprechenden Nachrichten in den Medien aufmerksam. Weitere 17% verfolgen zwar die Ereignisse, aber ist berührt sie nicht so sehr. Nur 3% der Befragten antworteten, das Thema kümmere sie nicht, und entsprechende Nachrichten ebenfalls nicht. 

Damit war auch der Georgien-Konflikt im August 2008 das dominierenderes Thema: erst dahinter folgen die olympischen Spiele in Peking, oder das Referendum zur Rentenanpassung. Untersucht wurden auch die verschiedenen Bewertungen der Ereignisse. 42% antworteten, die Geschehnisse in Georgien seien absolut nicht akzeptabel - darunter mehr Frauen als Männer, eher ethnische Letten, und proportional mehr mit geringerem Einkommen. 20% zeigten sich vom Hergang der Ereignisse total überrascht - je höher das Einkommen, je höher die Ausbildung, desto mehr kam die Ansicht zum Tragen, die Ereignisse seien eigentlich vorhersehbar gewesen. 

Die Sympathien sind gleich verteilt: jeweils genau 32% äußerten ihre Unterstützung für die georgische oder für die russische Seite, 25% sagten sie unterstützten keine von beiden. 57% unterstützen es, dass Lettland Georgien humanitäre Hilfe schickt, 29% hielten ein Hilfe nicht für nötig (weder für die eine noch für die andere). Eine kleine Minderheit von 3% befürwortete Georgien militärisch zu unterstützen, 2% sind für die Entsendung lettischer Soldaten. Bei der Frage, von welcher Seite Hilfe zur Lösung des Konflikts kommen solle, stand die Europäische Union für 26% an erster Stelle, gefolgt von den USA (21%), 9% trauen dies den baltischen Staaten zusammen mit Polen und der Ukraine zu. Für 27% ist gar keine internationale Hilfe nötig.

24. August 2008

Renten per Referendum - keine Mehrheit

Innerhalb weniger Wochen ist in Lettland nun auch die zweite groß angelegte Volksabstimmung daran gescheitert, dass die per Gesetz verordnete Mindestzahl an Abstimmungsteilnehmern nicht zusammenkam. Dennoch stimmten auch diesmal wieder 347.182 Menschen ab - und drückten zu 96,35% ihre Sympathie für die vorgebrachten Vorschläge zur Anpassung der Rentenhöhen aus. 334.520 Menschen stimmten für die Änderung, nur 11803 (3,4%) dagegen (vorläufiges Endergebnis). Der zur Abstimmung stehende Vorschlag hatte die Höhe der Mindestrenten an das Existenzminimum koppeln wollen. Für einen Erfolg des Referendums war diesmal die Beteiligung bei vergangenen lettischen Parlamentswahlen (7.10.2006) der Maßstab: die Beteiligung bei der Volksabstimmung hätte mindestens die Hälfte der Beteiligung bei der Parlamentswahl erreichen müssen, das heißt 453.730 Wahlberechtigte.

18. August 2008

Weigel neuer Botschafter in Lettland

Detlef Weigel - in der deutschen internationalen Diplomatie bisher eher weniger bekannt - ist heute in Riga als neuer Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Lettland vom lettischen Außenminister Riekstins empfangen worden.

Einer entsprechenden Pressemitteilung zufolge war Weigel bisher an der deutschen Botschaft in Madrid tätig, zuvor auch bei den Botschaften in Paris und Kingston, beim Bundeskanzleramt und beim Außenministerium in Berlin.

9. August 2008

Mit Abi nach oben - und mit Mihails in die Krise?

Die lettischen Sportnachrichten der vergangenen Woche bestimmten Basketball und Fußball. Aber das erste Kapitel der lettischen Hoffnungen auf Erfolge im Frauenbasketball in Peking ist schnell erzählt: 57 : 62 im ersten Spiel gegen Russland. Spätestens aber mit den wenig friedlichen Vorgängen in Georgien wurde auf schockierende Weise klar, wie wenig in diesen Tagen sportliches Vergnügen und grausame Weltpolitik auseinandergehalten werden können. Staatspräsident Zatlers zeigte sich beim Olympia-Einmarsch der lettischen Mannschaft als einziger der Präsidenten der drei baltischen Staaten auf Schmusekurs mit der chinesischen Führung - auch in Lettland gab es genug Stimmen (zuletzt ein offener Brief der Ärztevereinigung), die wegen Chinas Tibets-Politik und anderer Menschenrechtsverletzungen ein deutliches Zeichen von der eigenen Staatsführung verlangten. Und wie steht Lettland zu Georgien?

Ein Stück deutsche Sporthistorie, nun als neue lettische Hoffnung

Eine sportliche Randnotiz kam Anfang der Woche aus der Küstenstadt Liepaja. Dort wurde unversehentlich und wenig vorhersehbar plötzlich an frühere glorreiche deutsche Fußballzeiten angeknüpft: "Flankengott" Rüdiger ("Abi") Abramczik heuerte beim lettischen Erstligisten Liepājas Metalurgs als Trainer an. Dass er überhaupt Trainer ist, hat wohl niemand in der letzten Zeit so richtig gemerkt - denn ein Engagement beim unterklassigen FC Saarbrücken, und jeweils nur kurze Auftritte beim FC Kärnten, in der Türkei und in Bulgarien, all das war schon etliche Jahre her. Nun soll angeblich der ehemalige Schalke-Präsident Gerd Rehberg das Engagement in Lettland vermittelt haben (Quelle: "Der Westen", "Westline"). Vor vier Jahren spielte Schalke 04 gegen Liepaja im UEFA-Pokal. Aber dass überhaupt ein Trainer gesucht wurde - die Fans in Liepaja überraschte es offenbar. Das Portal "liepajniekiem.lv" lobt den Neuen aus Deutschland inzwischen aber nach Kräften: er habe im Alter von 20 Jahren mehr Tore geschossen als Lukas Podolski (im gleichen Alter). Hoffnungen der Fans (auf der gleichen Webseite): vielleicht könnte nun ja auch mehr für die eigene Jugendarbeit getan werden, denn sonst würden sich andere Sporttreibende einfach mehr für Basketball oder für Eishockey interessieren. Befürchtungen: der neue Trainer kann weder Lettisch noch Russisch, und wird doch wohl Co-Trainer Osipovs nicht rausschmeißen? Abramczik hat allerdings erstmal nur bis Ende der Saison unterschrieben; eigentlich wollte er ja nicht mehr ins Ausland, hatte er vorher des öfteren in den Medien erklärt. Nur zwei Tage nach Ausrufung des neuen Trainers gewann Liepajas Metalurgs gleich mal 7:2 gegen Jurmala (LFF).

Nervosität am Rande des Riesenreiches

 Viele hatten sich vielleicht nun auch aufs entspannte TV-Schauen in Richtung Peking eingestellt. Inzwischen schreckt alle die militarisierte Unruhe in Georgien auf. Unter den Augen der Welt sind es dann auch die Sportler Russlands und Georgiens in Peking, die Aufmekrsamkeit auf sich ziehen. Kann man sich auf seinen Sport konzentrieren, wenn im eigenen Land die allgemeine Mobilmachung verkündet wird? Alle drei baltischen Staaten haben Georgien einer der Prioritäen der eigenen Aussenpolitik erklärt. So unterstützt auch Lettland einen Beitritt Georgiens zur NATO, und nicht nur das: zum Beispiel fördert Lettland die Unterstützung von Jugendprojekten mit Georgien. So wundert es auch nicht, dass in den vergangenen Tagen als erstes Bemühungen starteten, eine Gruppe von 15 jungen Leuten aus Sigulda zurück nach Lettland zu bringen, die mit ihren drei Begleiterinnen in Georgien unterwegs waren. "Schirmherr" der ganzen Veranstaltung: Georgiens Staatschef Mihail Saakaschwili. Die georgische Stadt Ciatura ist Partnerstadt Siguldas - und zwar bereits seit 1969! Sichtbarstes Zeichen der georgischen-lettischen Freundschaft ist die Seilbahn in Sigulda, die sich über das Tal der Gauja spannt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wird schon in wenigen Tagen in Sotchi mit dem russischen Präsidenten Medwedjew zusammentreffen, bevor sie dann auch Litauen und Lettland besuchen wird. Da kann man ja nur hoffen, dass diese engen Gesprächsfäden sich noch deutlicher als bisher für eine friedlichere Entwicklung als bisher einsetzen lassen. 

Sprotten, Joghurt und Wein gegen Öl und Gas? 

 Allerdings müssen wohl alle diejenigen enttäuscht werden, die sich eine eher neutrale und vermittelnde Rolle Lettlands im Georgien-Konflikt gewünscht hätten. Davon ist wenig zu spüren. Die lettischen Medien sind sich weitgehend einig, dass dieser Konflikt im Schatten der Olympiaeröffnung von Moskau provoziert wurde. Und manche gehen sogar soweit, in völliger Selbstüberschätzung mal eben den Boykott sämtlicher russischer Waren zu fordern. "Schade, den Durchfluss von Gas durch russische Pipelines können wir nicht stoppen", so ein Aktionsaufruf der im Portel TVNET zu lesen ist, "aber wenn die Einfuhr von estnischem Joghurt, lettischen Sprotten und georgischem Wein auf der einen Seite verhindert wird, warum sollten wir das nicht bei Schnaps, Bier und Kaviar aus Russland tun?" Das klingt sehr wenig nach weiser Überlegung zum Wohle Lettlands, sondern viel eher nach der Lust, Russland eins auszuwischen. Gefördert noch durch Lettlands neue Lust an der Konsumgesellschaft - inklusive Eifersucht auf wirtschaftliche Macht. Also wenn das nicht funktioniert, ersatzweise dann bewaffnete Freiwillige nach Georgien? Soweit weigere ich mich vorerst zu denken, aber die Befürchtung bleibt, dass Bemühungen, Kriege zu verhindern, doch andere sein müssen.

Mehr Infos: zu Liepajas Metalurgs:

Fanseite Mannschaftsfoto Neues von der lettischen Fußball-Liga zu Lettland-Georgien: gemeinsame Erklärung der Präsidenten Estlands, Lettlands, Litauens und Polens Webseite der georgischen Gesellschaft in Lettland "Samšoblo" Lettische Eindrücke aus der heutigen Zusammenarbeit mit Georgien: Webseite von Sintija Šmite (lettisch)

5. August 2008

Volksabstimmung, Nachtrag

Hier die endgültigen Zahlen der Volksabstimmung zu den vorgeschlagenen Änderungen in der lettischen Verfassung: Gesamtzahl der Wahlberechtigten: 1.515.213 Gesamtzahl der Teilnehmer an der Abstimmung: 629.064 (757.607 hätten teilnehmen müssen, damit die Abstimmung Rechtskraft erhält) Anzahl der Stimmen für eine Verfassungsänderung: 608.601 (96,75%) Anzahl der Gegenstimmen: 18.857 (3%) 

Und noch eine andere Rechnung: Bei den vergangenen Parlamentswahlen im Herbst 2006 nahmen 60,98% aller Wahlberechtigten teil. Davon stimmten aber nur insgesamt 469.934 insgesamt (!) für eine der heutigen Regierungsparteien (Tautas partija/Volkspartei 177.481, Zaļo un zemnieku savienība/Liste der Grünen und der Bauernpartei 151.595, LPP/LC / Lettische Erste Partei und Lettischer Weg 77.869, Tēvzemei un brīvībai/LNNK / Partei für Vaterland und Freiheit 62.989). Quelle: DIENA 

Geht die Diskussion weiter? Einiges wurde nach bekanntgeben der Ergebnisse heiss diskutiert, zum Beispiel die Frage, ob es Fälle von Zwang gegeben habe, NICHT am Referendum teilzunehmen. Da auch diesmal jeder, der teilnahm, einen Stempel in den Pass bekam (es gibt keine Wählerverzeichnisse wie in Deutschland), wäre auch im Nachhinein leicht nachzuvollziehen wer teilgenommen hat und wer nicht. Dergleichen behauptete die Politikerin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ilga Kreituse in einer Sendung des lettischen Radios, wie auch Pēteris Krīgers, Vorsitzender des lettischen Bundes der Freien Gewerkschaften (LBAS). Krīgers erwähnte gegenüber dem Internetportal Apollo.lv angebliche Vorfälle in Preili im Osten Lettlands, wo Arbeitgeber angeblich mit Entlassung gedroht hätten, wenn jemand der Arbeiter an der Volksabstimmung teilnehmen würden, oder den Ort Mazirbe, wo es ein großes Volksfest am gleichen Tag gegeben habe, aber der nächste Abstimmungspunkt 20km entfernt gewesen sei. 

Gut, das gezählte Ergebnis zählt. Immerhin haben sich Regierungschef Godmanis (zunächst) und Präsident Zatlers für eine Fortsetzung der Diskussion um mögliche Verfassungsänderungen ausgesprochen. Zatlers redet bei der Sondersitzung des Parlaments am 6.August, aber es ist danach keinerlei Diskussion zum Thema vorgesehen. Zatlers selbst wird danach sofort nach Peking abreisen - auch wenn es Aufrufe gibt, dies doch allein schon wegen der Solidarität mit Tibet besser sein zu lassen (ein entsprechender Antrag scheiterte im lettischen Parlament). Zatlers wird einen Bericht der DIENA zufolge den chinesischen Präsident Hu Jintao treffen, und sportlich geht es während seines Aufenthalt vor allem um Frauenbasketball. Andere Stimmen aus dem Regierungslager deuten an, wohin minimale Zugeständnisse in Richtung Verfassungsänderung gehen könnten: möglicherweise soll für solche Fälle, wenn die Regierung nicht in der Lage ist einen geordneten Haushalt aufzustellen, ein Referendum zur Entlassung des Parlaments vorgesehen werden, oder wenn keine Regierung gebildet werden kann (also dem Volk nur dann die Entscheidung überlassen, wenn alles in einer Sackgasse wäre). 

Solcherlei Einstellungen der Volksvertreter fasste die Redakteurin des Politikportals www.politika.lv, Rita Ruduša, treffend zusammen: "Die gegenwärtigen Aktivitäten in der Gesellschaft sind erfreulich - die Haltung der Abgeordneten eher beängstigend!" Bliebe nur hinzuzufügen: am 23.August ist bereits die nächste Volksabstimmung angesetzt. Dann wird es um eine Erhöhung des Rentenminimums gehen. Infos dazu hier (bisher nur Lettisch).

3. August 2008

Demokratie olympisch: war dabei sein schon alles?

Wenn das Volk unzufrieden ist, kann es das vorher gewählte Parlament auch wieder entlassen - diese bahnbrechende Idee sollte am Samstag, den 3.August 2008 per Volksabstimmung in Lettland realisiert werden. Ausgelöst von der Turbulenzen der sogenannten "Regenschirmrevolution" des vergangenen Jahres, in deren Verlauf lediglich der Rücktritt des damaligen Regierungschefs Kalvitis erzwungen wurde, sollte nun ein höchst symbolischer Schritt und ein positiver Schub für verstärkte Bürgerbeteiligung am politischen Geschehen erreicht werden. Das Hauptziel gelang jedoch nicht: über 50% aller wahlberechtigten Bürger hätten der Verfassungsänderung zustimmen müssen, gemäß vorläufigem Ergebnis waren es dann 40,15%.

Ergebnisse nach Wahlbezirken

englische Übersetzung der vorgesehenen Verfassungsänderung

Dennoch ein Sieg? 

Die Zustimmung zur beabsichtigten Verfassungsänderung lag bei denen, die abgestimmt haben, bei über 96% - beinahe zwangssozialistische Verhältnisse. Aber das heißt wohl, dass diese 628.000 Menschen, die sich hier beteiligt haben, eine sehr hohe Motivation haben etwas im politischen Leben Lettlands ändern zu wollen. Das untypische daran: es wurde vorerst mal nicht der in den vergangenen Jahren typisch lettische Weg begangen, zusammen mit ein paar einflußreichen und bisher nicht weiter politisch hervorgetretenen Leuten eine neue Partei zu gründen, bei Wahlen einen relativ guten Erfolg einzuheimsen, und danach eine ähnliche Klientel-Politik wie alle anderen zu betreiben.
Also: Löst das Gefühl nach dieser Volksabstimmung, dass eigentlich noch nichts erreicht wurde, mehr Motivation aus sich weiter an der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des demokratischen Lettland beteiligen zu wollen? Vielleicht wäre es dann ja doch ein Sieg der Demokratie.

Die Reaktionen der deutschsprachigen Medien fallen nur sehr allgemein aus - und berichten ja auch nur punktuell, selten genug, und dann noch oft selektiert. Die Junge Welt wie immer abfällig und mit veralteten Infos: so wie früher die Wessis gegenüber den Ossis (wie sich die Zeiten doch ändern!). Letten würden nur 53% der Bevölkerung ausmachen, steht doch da glatt zu lesen - Infos fast noch aus der Sowjetzeit, soviel ist sicher. Etwas weniger ideologische Scheuklappen wären zu wünschen.
Der Standard aus Österreich sieht den Hauptgrund des hier als "Mißerfolg" gewerteten Referendums darin, dass nicht mindestens die Hälfte der Wähler zu den Urnen gegangen seien. Reuters sah Parlamentsneuwahlen bei einer Zustimmung zur Volksabstimmung voraus - das ist ja schon mal eine politische Wertung. "Die Presse" wiederum, ebenfalls Austria, sieht hinter den Betreibern pro Referendum eine "linksgerichtete Opposition" - na gut, das lettische Parteigefüge ist kompliziert, und nicht jeder kann "Junge Welt" querlesen um von den fabelhaften Unterschieden in der individuellen Sichtweise zu lernen. Die Schweizer Tagesschau berichtet sogar: "nur 3 Prozent folgten den Rechten." Und eins fallen lassen" - alles klar im Unklaren.

Wie sehen es die Letten selbst?
Die Meinungen in Lettland sind geteilt - wie sollte es auch anders sein.
Eine Bemerkung nebenbei: es gab statistisch keine Unterschiede im Abstimmungsverhalten von lettischen oder russischstämmigen Staatsbürgern (ja die gibt es!) in Lettland.
Während aus den Reihen der gegenwärtigen Regierungsparteien nun Stimmen zu vernehmen sind, es gäbe keinen Grund für irgendwelche Konsequenzen, appellieren Oppositionspolitiker an den Einzigen, der auch ohne Verfassungsänderung das Parlament auflösen und Neuwahlen veranlassen kann: Präsident Zatlers. Dieser berief inzwischen immerhin für die kommende Woche (6.August) schon mal eine Sondersitzung des Parlaments ein.
Edgars Vaikulis, Pressesekretär des Ministerpräsidenten Godmanis, verkündet schon am Tag nach der Abstimmung Erstaunliches: die Zahl der Befürworter einer Verfassungsänderung sei dermaßen hoch gewesen, dass auch Godmanis der Meinung sei, es müsse Änderungen in der Verfassung geben. Der Regierungschef selbst will sich dazu am Montag äussern.

Wer behauptet, es hätte sich nichts geändert?

Auch bei regulären Wahlen nehmen ja in der Regel nur so um die 50% der Wahlberechtigten teil - und die Politiker/innen beanspruchen trotzdem 100% der Sitze!