24. Juni 2010

Nasser Mittsommer: Bücher gerettet

Vielleicht war es doch falsch, als erstes von mehreren anvisierten Großprojekten in Riga die "Südbrücke" über die Daugava zu bauen: mit der Abbezahlung dieser Kredite wird Riga noch lange zu tun haben. Doch auch das lange geplante neue Gebäude der Nationalbibliothek ist inzwischen im Bau: gegenüber von Petrikirche und Schwarzhäupterhaus wächst es langsam aber sicher in die Höhe.
Manche Zweifel wurden schon geäussert: ist denn eine Biblitothek überhaupt noch notwendig? Wird nicht das digitale Zeitalter diese Baukosten überflüssig machen? 

Was der Erhalt von Kulturgütern in Buchform bedeutet, brachte Lettland ausgerechnet die Mitsommer- woche ins Gedächtnis. Der 21.Juni wurde zu etwas Ähnlichem wie einem nationalen "Buchrettungstag": dies war nötig geworden, da drei Tage zuvor im bisher von der Nationalbibliothek genutzten Gebäude in der Krišjaņa Barona iela plötzlich ein Teil des Fußbodens eingebrochen war. 1200 Bücher purzelten durch das Loch im Fußboden und landeten im (feuchten) Keller. Schnell wurde klar, dass die Situation von weiteren 70.000 Büchern, die in der Nähe aufbewahrt wurden, gefährdet war. So kamen dann nach einem öffentlichen Hilferuf der Bibliothek am 21.Juni über 200 Freiwillige zusammen, um diesen Büchern beim "Umzug" zu helfen.Schon am Tag zuvor hatten etwa 100 Menschen die Sicherungsarbeiten unterstützt, teilweise vom staatlichen Katastrophenschutzdienst, teilweise Angestellte der Bibliothek. Auch einig Soldaten der Armee sollen eingesetzt gewesen sein.

Eigentlich wundert sich niemand über diese entstandene Situation; die Gebäude in der Barona iela sind über 100 Jahre alt. Aus Mangel an Finanzmitteln seien hier nie Renovierungs- arbeiten durchgeführt worden. Staatspräsident Valdis Zatlers beeilte sich unterdessen zu erklären, der Neubau der Nationalbibliothek sei unbedingt notwendig; das hätten die jüngsten Vorfälle gezeigt.

Mehr Info: Webseite der Nationalbibliothek 
und hier: (englisch)

19. Juni 2010

Energisches Eingreifen

Für mich war es eine Überraschung, sagte der lettische Wirtschaftsminister Aigars Kampars. Vielleicht könne man ja ein etwas zu hohes Preisniveau kritisieren, meinte er, und als Monopolunternehmen der lettischen Energiewirtschaft könne auch manches etwas flexibler organisiert sein, aber LATVENERGO sei eines der führenden Energieversorger der baltischen Staaten und habe bereits jahrelang gute und professionell organisierte Arbeit nachgewiesen. 

Dieser Ruf ist nun vorerst zerstört. Unternehmenschef Kārlis Miķelsons und sein Stellvertreter Aigars Meļko müssen vorerst mit einem Platz im Rigaer Zentralgefängnis Vorlieb nehmen.
Fünf leitenden Angestellte des lettischen Energieversorgers LATVENERGO wurden im Laufe dieser Woche vom staatlichen Korruptionsbekämpfungsbüro (KNAB) festgesetzt und in Haft überführt, dazu auch noch zwei Privatpersonen. Die Vorwürfe: Korruption und "Geldwäsche". Und da es sich um ein staatlichen Unternehmen handelt, kommt auch noch "Amtsmissbrauch" hinzu.

Wie die lettische Presse berichtet, haben die laufenden Untersuchungen mit dem Bau eines Heizkraftwerks und mit den Umbauten am Wasserkraftwerk in Plavinas zu tun.
Am 18.Juni wurde eine achte Person festgenommen, und es wurde bekannt, dass angeblich 1,13 Millionen Euro unterschlagen wurden, Geld, das aus kriminellen Aktivitäten stammen sollen, unter anderem aus Immobiliengeschäften. Verwickelt in diese illegalen Geschäfte sollen auch Geschäftsleute im Ausland sein - in der lettischen Presse wurden bisher Firmen aus der Türkei und der Schweiz genannt, die Partner laufender LATVENERGO-Projekte sind. Um diese Vorgänge vollständig aufzuklären, seien auch Behörden im Ausland um Amthilfe gebeten worden. 
Außerdem seien auf unrechtmäßige Weise vorteilhafte Bedingungen für einzelne Privatunternehmer geschaffen worden, um an Aufträge von LATVENERGO zu kommen. Der Rigaer Bizirksgerichtshof gab bekannt dass auch LATVENERGO-Präsident Karlis Mikelsons vorläufig in Haft bleiben muss.

Im lettischen Radio erläuterte Juta Strīķe als Vertreterin des Korruzptionsbekämpfungsbüros, dass seit dem 14.Juni 30 Durchsuchungen unternommen worden seien, wobei 250.000 Euro beschlagnahmt worden seien. Gleichzeitig bestritt Strīķe, dass die Anschuldigungen angeblich nur auf Aussagen einer einzigen Person basierten. "Wir arbeiten schon lange Zeit an diesen Vorgängen, und wenn darüber nichts in der Presse steht, heißt das ja nicht, dass wir nicht arbeiten." Mit dieser Äusserung könnte sie auch auf Presseberichte anspielen, im Büro der Korruptionsbekämpfungsbehörde gäbe es interne Unstimmigkeiten über die Effektivität der eigenen Arbeit.

Am 15.Juni war ein Sprecher des lettischen Wirtschaftsministeriums  noch davon ausgegangen, dass die Festnahmen und die Vorwürfe keinen Einfluß auf die laufenden Geschäfte von LATVENERGO haben würden. Für den 22.Juni war eigentlich eine Aktionärsversammlung geplant gewesen. Diese steht nun aber in Frage, da dort auch über die Leitung des Unternehmens entschieden werden muss und Minister Kampars es für unmöglich erklärte, in so kurzer Zeit adäquate neue Führungspersonen für das Unternehmen zu finden. Drei der ehemals fünf Vorstandsmitglieder des Unternehmens sind gegenwärtig noch im Amt. 

Abeitnehmervertreter der für den Energiebereich zuständigen lettischen Gewerkschaft zeigten sich bestürzt über die Ereignisse. Man habe einen Brief an das zuständige Wirtschaftsministerium geschrieben und um Aufklärung gebeten, wie es mit der Arbeit der Unternehmensleitung nun weitergehen soll, erklärte Gewerkschafssprecherin Jevgenija Stalidzāne.
Auch der lettische Präsident Zatlers zeigte sich besorgt. Die laufenden Untersuchungen müssten nun klare Ergebnisse bringen, sagte er. 
LATVENERGO ist in Lettland monopolartiger Energieversorger und betreut etwa 1.1 Millionen Kunden (Haushalte und Firmen, Marktanteil etwa 95%). Der momentan verbliebene dreiköpfige Vorstand beeilte sich unterdessen zu erklären, dass die Firma normal weiterarbeite. Gerade gegenüber Geschäftspartnern im Ausland sei es wichtig klarzustellen, dass die inhaftierten Personen keinesfalls das Unternehmenskapital oder die Zahlungsfähigkeit beeinträchtigt hätten. Noch in den letzten Monaten war bekannt geworden, dass LATVENERGO für anstehende Investitionen neue Kredite aufgenommen hatte. Es gab auch Spekulationen, das Staatsunternehmen solle teilprivatisiert werden, um diese Investitionen finanzieren zu können.

15. Juni 2010

Bestandsaufnahme

Erholungsreise ins Baltische
In diesen Tagen darf man wohl schon zufrieden sein, wenn ein deutscher Außenminister Zeit findet zu den verabredeten regelmäßigen Treffen mit den Kollegen aus den baltischen Staaten - hier wird er zumindest nicht gefragt, wie lange er denn noch im Amt sein wird. Und nicht jede Woche tritt ein Präsident zurück - die Regierung ist fest entschlossen, den Eindruck eines "Dominoeffekts" jedenfalls im Ausland nicht aufkommen zu lassen.

Also trafen sich in den vergangenen Tagen wieder vier Außenministerkollegen zu gänzlich unsensationellen Treffen, die nicht einmal mehr zur beliebten Addierungsarithmetik (3 plus 1?) gerechnet werden. Interessant daran ist wie immer, wie die verschiedenen Beteiligten die Ergebnisse einordnen.

Das Auswärtige Amt zählt mit: zum 12.mal haben sich die Außenminister Estlands, Lettlands und Litauens getroffen. Jetzt, wo wieder ein FDP-Repräsentant dieses Ministeramt innehat, wird auch herausgestellt dass es der ehemalige Außenminster Kinkel war, der diese Treffen in die Wege geleitet habe. Erstes mögliches Argument für eine positive Beurteilung könnte also von deutscher Seite sein: wir haben es erfunden, also macht es auch Sinn (auf jeden Fall den Eindruck vermeiden: wir mussten uns bitten lassen). Der noch bekanntere Spruch aus der Kinkel-Zeit (vom angeblichen "Anwalt der Balten") wird dagegen heute lieber nicht wiederholt.

Estland first
Welche Themen betont die deutsche Seite? Estland wird zur Einführung des Euro gratuliert. Estland! Westerwelle landet erstaunlich schnell bei Estland, wo es doch eigentlich um alle drei baltischen Staaten geht. "Sie werden jetzt die Früchte Ihrer Anstrengungen ernten" (aus einem Interview Westerwelles mit Eesti Päevaleht). Sind die estnischen Euros bereits die Früchte, oder sollen die mit Euros gekauft werden? Die Letten und Litauer jedenfalls werden erstaunlich schnell wieder übergangen. Passen Sie nicht ins liberale Vorbild vom "Sparen und die Wirtschaft machen lassen"?

"Der deutsche Außenminister zeigte sich beeindruckt vom 'Weg der wirtschaftlichen Reformen und der Stabilisierung' Lettlands." (die Anführungsstriche wurden vom Auswärtigen Amt gesetzt). Deutschland und Lettland seien "engste Freunde". Mehr ist Westerwelle wohl nicht in Lettland aufgefallen (lags daran, dass es in Lettland momentan gar keinen deutschen Botschafter gibt?). Ganz anders sieht das von lettischer Seite aus. Auf der Webseite des lettischen Außenministeriums können wir lernen, dass Westerwelle zu einem eigenen Termin auch in Lettland war (für die lettische Seite offenbar wichtig, für das AA überflüssig zu erwähnen). Besonders herausgestrichen wird auch von lettischer Seite die wirtschaftliche Zusammenarbeit. "Dies ist nicht länger die Zeit finanzieller Hilfeleistungen, sondern die Zeit sich aktiv zu beteiligen," so lässt sich Außenminister Aivis Ronis zitieren. Ronis erhofft sich einen baldigen Besuch auch von Wirtschaftsminister Brüderle. Illustrativ unterstützend hat das lettische Außenministerium Fotos vom Treffen mit "Gvido Vestervelli"auch gleich bei Flickr eingestellt.

Wirtschaft, Finanzen, Geldpolitik - und wie geht's sonst?
In der lettischen Presse (ungleich der estnischen) muss man schon suchen nach Berichten zum Westerwelle-Besuch. Neatkarīgā erwähnt am 12.Juni vor allem das Treffen mit Regierungschef Dombrovskis. Die Zukunft der Eurozone wurde hier angeblich hauptsächlich diskutiert. Denn was beim EU-Beitritt noch unmöglich schien - eine Aufteilung der baltischen Staaten in verschiedene Beitrittsgruppen - das passiert wohl am 1.Januar 2011: Estland tritt allein der Eurozone bei, und Lettlands Beitritt bleibt weit im Unklaren. Dank der EU-Strukturhilfen würde sich Lettland nun zu einem Exportland verwandeln, so Dombrovskis. Lettland strebe einen Beitritt zur Eurozone für 2014 an. Aber welche Folgen das noch für Lettland haben wird, welche Einsparungen und Einschränkungen für die eigenen Bürger nötig sein werden - das steht an dieser Stelle nicht. Lieber wird ganz allgemein der "pragmatische Dialog der EU mit Russland" begrüßt - ein Thema, das die deutsche Seite regelmäßig zu betonen sich befleissigt. Auch Neatkarīgā betont, dass die lettische Regierung am Besuch einer deutschen Wirtschaftsdelegation sehr interessiert ist - offenbar gibt es da bereits konkrete Planungen. 

Und zum Schluß noch ein Satz zu den Goethe-Instituten: sie seien nützlich zum Bekanntmachen mit den "Kulturen beider Länder" ("abu valstu kultūras popularizēšanā"). Oha - haben wir da etwas übersehen? Wer die deutsche Presse zu diesem Thema liest, muss doch vor allem erhebliche Mittelkürzungen für die Goethe-Institute befürchten. Und auf lettischer Seite ist es doch ähnlich: längst ist das "Lettische Institut" (aufgrund Einsparungs-zwängen!) soweit zusammengeschrumpft, dass es momentan statt interessanten Einblicken in lettische Kultur, Mentalität, Traditionen und Geschichte jetzt nur noch platte Regierungsverlautbarungen verbreitet. Da soll das Goethe-Institut nun auch noch der lettischen Seite helfen? "Du erstmal lernen Deutsch!" wird da doch vielfach die prioritäre Antwort sein. Nur allzu bekannt sind kathegorische Absagen der Goethe-Institute auf Anfragen zur Unterstützung von Kooperationsprojekten, wo nicht die deutsche Sprache im Vordergrund steht. Lette, lern Deutsch, und dem Kulturaustausch ist geholfen! So wird wohl eher die wahrscheinliche Antwort deutscher Kulturfunktionäre sein.

und Litauen? 
Alle drei baltischen Staaten interpretieren offenbar diese gemeinsamen Außenministertreffen im Sinne eigener (innenpolitischer) Interessen. Dem litauischen Außenministerium zufolge wurde vor allem über Litauens kommender Präsidentschaft in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) geredet. Weiterhin stellt Litauen nochmals die Ausrichtung des Treffens des Rats der Ostseeanrainerstaaten am 1./2.Juni in Vilnius heraus, und bettont gleichermaßen, dass die neue EU-Strategie für den Ostseeraum auch bezüglich Litauens EU-Präsidentschaft 2013 eine Rolle spielen wird. Am Rande wird übrigens von allen Beteiligten Übereinstimmung in der Beurteilung der Lage in Afghanistan betont. 
Ja, und das war's. Wer mehr erwartet von deutsch-estnischen, deutsch-litauischen oder deutsch-lettischen Beziehungen ist selber Schuld.

10. Juni 2010

Der brave Herr Poikāns

Vor einigen Wochen machte er sogar Schlagzeilen in den deutschen Medien: in Lettland wurden detaillierte Angaben zu den Verdiensten gut verdienender Manager, bekannter Geschäftsleute und Behördenchefs illegal veröffentlicht - kurzerhand per Twitter. In Zeiten staatlich aufgekaufter Daten-CDs mit Adressen von Steuersündern ist dies offenbar auch in Deutschland ein Thema. So produzierte der Mann mit dem Decknamen NEO eine Zeitlang Schlagzeilen, von "der Robin Hood von Riga" (Spiegel /Süddeutsche) über "Lettlands digitale Rebellen" (Welt) und "Hacker der Herzen" (Frankfurter Rundschau) bis zum "Alptraum lettischer Eliten" (presseurop). Im ARD Europamagazin wurde im April noch spekuliert, "Neo" lebe wahrscheinlich im Ausland. Aber was war eigentlich passiert, und was ist so ungewöhnlich daran?

Datenlecks und die Neugier
Ilmārs Poikāns, ein Wissenschaftler am Institut für Mathematik und Informatik der Universität Lettlands, wurde eines Tages von einer Firma angefragt, ob er einige Dokumente mit einer digitalen Signatur versehen könnte, die bei den staatlichen Finanzbehörden eingereicht werden sollten. Als er dies versuchte, gelang es ihm zunächst nicht, die Dokumente online per Internet zu öffnen. Eine Diskussion mit der zuständigen Buchhaltung folgte, bis Poikāns entdeckte dass er die Dokumente einfach mit Hilfe eines ihm zugeschickten Links öffnen konnte. Und nicht nur das: plötzlich hatte er Zugang zu einer Menge anderer Daten. Verwundert nahm der das zunächst zur Kenntnis und schaute nach ein paar Tagen nochmal nach. Immer noch nicht war das "Datenleck" von der Behörde geschlossen worden. Poikāns beschwört auch, dass sein so entstandener Kontakt mit der Finanzbehörde nicht auf irgendwelchen persönlichen Beziehungen beruht habe. Aber einmal aufmerksam geworden, lud er sich die Datenlisten herunter und entdeckte so, dass er es mit aktuellen Gehaltslisten aus verschiedenen Bereichen zu tun hatte.

Hacker wider Willen? 
Ein Volumen von 120 Gigabyte und 7,4 Millionen Datensätzen brachte Poikāns nun im Internet via Twitter operierend unter dem selbst gewählten Namen "neo" an die Öffentlichkeit. Es waren so interessante Gehaltslisten dabei wie diejenige der am Flughafen Riga Beschäftigten, vom staatlichen Energieversorger LATVENERGO, den Straßenverkehrsbehörden sowie Hafenverwaltungen, von Ministerien und Kommunalverwaltungen, und auch die PAREX-Bank, die 2008 vor der Pleite gerettet werden musste. Interessant deshalb, weil die lettische Regierung in Folge der Wirtschaftskrise ein von der Weltbank auferlegtes striktes Sparprogramm abarbeiten muss und schon im Frühjahr 2009 teilweise erhebliche Gehaltskürzungen vornahm. Die von Poikāns entdeckten Listen zeigen nun in vielen Fällen, dass viele Spitzenmanager und Behördenchefs sich selbst wohl von Kürzungen ausgenommen haben - und sich hübsch weiter pralle Gehaltssummen genehmigten.

Am 11.Mai war es dann vorbei mit dem klammheimlichen "Rächertum". Die Polizei startete umfangreiche Durchsuchungen, und bald darauf wussten auch die Medien, dass hinter dem vermeindlichen Held Neo ein relativ braver, ordentlich gekleideter und eher harmlos aussehender 31-jähriger junger Wissenschaftler steckte. Polizeilich durchsucht wurden sein Arbeitsplatz, seine Wohnung, die Wohnung seiner Eltern sowie zwei weitere Orte. Verdächtig erschien der Polizei auch der Kontakt Poikāns' mit der Journalistin Ilze Nagla, deren Wohnung ebenfalls durchsucht und deren Notebook beschlagnahmt wurde. Bei Telefongesprächen mit ihr habe er aber seine Stimme verstellt, erkärte Poikāns, so dass sie ihn nicht habe erkennen können, obwohl die beiden privat miteinander bekannt gewesen seien. Nagla hatte über die Arbeit von NEO berichtet. 120 Journalisten unterzeichneten aufgrund der polizeilichen Durchsuchungsaktion eine Petition, die sich gegen derartige Zensurmaßnahmen wendet und so die Freiheit der Presse gefährdet sieht. 

Fehlende Transparenz
Was lehrt der Fall Poikāns? Nun, wer in Lettland lebt, und die erschwerten Bedingungen des Gelderwerbs und des materiellen Überlebens kennt, wird vor allem die Ungerechtigkeit der fehlenden öffentlichen Transparenz solcher Zustände beklagen. Aleksejs Loskutovs, vor einiger Zeit von der Regierung abgesetzter Chef der lettischen Antikorruptionsbehörde, vertritt nun als Anwalt die Interessen von Ilmārs Poikāns. Zunächst nach Aufdeckung seiner Identität in Haft, kam Poikāns schnell wieder frei. Poikāns ist verheiratet, das Paar hat zwei Kinder. Aber ob ihm eine Strafe bevorsteht, und falls ja wie hoch diese ausfallen könnte, ist immer noch unklar. Angeblich steht auf "illegales Eindringen in eine Regierungsdatenbank" eine Strafe von bis zu 10 Jahren Gefängnis.

Karrierepläne für NEO?
Aber Lettland wäre nicht Lettland, wenn es bei diesen nakten Fakten bliebe. Zunächst einmal halten sich hartnäckig Gerüchte, Poikāns habe nicht allein gehandelt. Das liegt einerseits an einer gewissen lettischen Vorliebe für alles Vernebelte und Vernebelbare (man glaubt gern, dass noch mehr hinter allem Weltgeschehen steckt als sich der gewöhnliche Mensch vorstellen kann). Dem wirken auch die Polizeibehörden nicht entgegen, wenn sie bis zum heutigen Tage die Untersuchungen dazu für nicht abgeschlossen erkären. Außerdem hatte Poikāns selbst im Februar im Rahmen von Sendungen des Lettischen Fernsehens (LTV) angekündigt, die von ihm ausgerufene "4. atmodas armijas (4ATA)" (Armee des vierten Erwachens) bestehe aus insgesamt drei Personen.

Und weiterhin gäbe es ja Möglichkeiten, die gewachsene Beliebtheit eines "gewöhnlichen Letten" wie Poikāns nun politisch auszunutzen. Bereits die Übernahme der Verteidigung durch Loskutovs, der inzwischen in der parteiähnlichen Vereinigung „Sabiedrība citai politikai” (Gesellschaft für eine andere Politik) aktiv ist, könnte als Zeichen politischer Instrumentalisierung verstanden werden - denn im Herbst stehen in Lettland Parlamentswahlen an. 
Vergeblich beteuerte Poikāns schon früh nach seiner Entlarvung: "Mich interessiert Politik nicht." (Portal IR) Eher genüßlich berichtet NRA heute davon, dass Poikāns sich einer Führung durch das Gebäude des lettischen Parlaments angeschlossen habe; "Nein, ich besuche hier nicht meinen zuküftigen Arbeitsplatz", wurde seine Aussage zitiert. 
Einer der wegen Korruptionsaffären und Geldschiebereien berüchtigsten politischen Figuren Lettlands, Aivars Lembergs, der es trotz vielerlei Anklagen inzwischen wieder auf den Stuhl des Bürgermeisters von Ventspils geschafft hat, versucht denn auch allein die bloße Existenz des "Neo-Faktors" für sich selbst zu nutzen. Es müsse vermutet werden, dass Neo ein purer Wahlkampftrick bestimmter politischer Gruppen sei, ließ sich Lembergs in der NRA zitieren, einer Zeitung die Lembergs selbst gehört. 
Wer sich für die Irrungen und Wirrungen der Alltagspolitik Lettlands interessiert, wird auf Dauer offenbar nicht gelangweilt.

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