11. Oktober 2010

Keine Wiederwahl

Die Ergebnisse der Parlamentswahl in Lettland vom vergangenen Wochenende verdienen - abseits der bloßen Zahlen und Fakten - eine nähere Betrachtung. Wie bereits zu Recht von Leserinnen und Lesern dieses Blogs angemahnt, wäre die bloße Schlußfolgerung "die bisherige Regierung kann weitermachen" zu einfach; es gibt einige weitere Aspekte die eine Betrachtung verdienen. 
Verlierer mit langem Atem
Bei den vergangenen Wahlen des Jahres 2006 passierte es das erste Mal, dass eine im Amt befindliche Regierung nach der Wahl weiter regieren konnte. Doch was damals folgte, war nicht politische Stabilität, sondern eher ein gewisser regierungsamtlicher Hochmut: Regierungschef Kalvītis sah sich erheblichen öffentlichen Protesten gegen seine Amtsführung ausgesetzt, und seine "Tautas Partija" (Volkspartei) war zwar mit 23 Sitzen die stärkste Fraktion, mehrere aktive Politiker traten aber aus Protest aus oder wurden ausgeschlossen. Die "Tautas partija" bevorzugte zunächst die Zusammenarbeit mit der "Pirma Partija" (Erste Partei) von "Bulldozer" Ainārs Šlesers und der eher unauffälligen Liste der "Grünen und Bauern". 2007, ein Jahr nach den Wahlen, übernahm dann "Schlachtross" Ivars Godmanis die Regierungsgeschäfte, und hielt bis Februar 2009 durch. Seit Frühjahr 2009 gibt es die Regierung unter dem aus dem Europaparlament zurückgeholten Valdis Dombroviskis (ein studierter Physiker, damit im selben Fach ausgebildet wie Angela Merkel). Und im Vorfeld der Wahlen schlossen sich "Tautas Partija" und "Pirma Partija" mit einigen anderen kleineren Vereinigungen zur Liste "Par labu Latviju" zusammen und gingen in Opposition zur Regierung Dombrovskis, der damit vor der Wahl nur noch einer Minderheitsregierung vorstand.

Zu beachten ist also beim aktuellen Wahlergebnis, dass nun keinesfalls einfach "Jaunais Laiks", die Oppositionspartei von 2006, einen Wahlsieg errungen hat. Angetreten ist "Vienotība" (Einigkeit), eine Listenvereinigung aus drei Vereinigungen, die ihrerseits selbst Sammelbecken von Mitgliedern aus anderen Parteien waren: Jaunais laiks” (Neue Zeit), „Pilsoniskā savienība” (Bürgerliche Vereinigung, un „Sabiedrība citai politikai (Gesellschaft für eine andere Politik). Im Gegensatz zum bei "Jaunais Laiks" auch durch die Eskapaden von Ex-Regierungschef Repše längst zerstörten Ruf als "Saubermannpartei" kam es "Vienotība" sehr zu Gute, dass sich hier eine ganze Reihe der öffentlichen Kritiker am Kurs der vorangegangenen zwei Regierungen unter Führung der "Tautas Partija" (also Kalvītis und Godmanis) auf eine gemeinsame Plattform einigen konnten.

Aktive mit und ohne Regenschirm
Einige der neuen "Vienotība"-Repräsentanten im lettischen Parlament sind alles andere als unbekannt: Artis Pabriks, Politologe und früher mal Rektor der Hochschule Vidzeme in Valmiera, 1998 einer der Gründungsmitglieder der "Tautas Partija", 2004 bis 2007 Außenminister der Regierung Kalvītis, trat aus Protest vor allem gegen dessen Versuche den Chef des Anti-Korruptionsbüros Aleksejs Loskutovs zu entlassen, zurück. Interessant nun, dass nicht nur Pabriks als Außenminister zurückkehren könnte, sondern auch der damals aus ähnlichen Gründen geschasste mehrfache Ex-Minister Aigars Štokenbergs plus der Ex-Korruptionsjäger Loskutovs selbst. Alle drei hatten sich zwischenzeitlich in der "Gesellschaft für eine andere Politik" zusammengefunden.
Ģirts Valdis Kristovskis, mit Vergangenheit sowohl bei "Tēvzemei un Brīvībai"/LNNK ("für Vaterland und Freiheit" TB) wie bei "Latvijas Celš" ("Lettischer Weg", heute aufgegangen in "Par labu Latvijai"), ehemals Verteidigungs- und auch Innenminister, 2008 als Europaabgeordneter der TB Mitgründer der „Pilsoniskā savienība”, wollte dann als Spitzenkandidat für den Posten des Rigaer Bürgermeisters die Stadtverwaltung "nach militärischer Ordnung säubern" (so der Wahlkampfspruch), und wechselt jetzt vom Stuhl des Oppositionsführers im Stadtrat wieder ins Parlament und vielleicht auf einen Ministerstuhl.
Zwei interessante Farbtupfer kandidierten auf der Vienotība-Liste in Zemgale erfolgreich: Atis Lejiņš, dessen Familie 1944 aus Lettland floh, erlangte seine Ausbildung als Historiker in Australien und den USA, arbeitete zwischen 1979 und 1990 am schwedischen außenpolitistischen Institut in Stockholm und gründete1992 das Lettische Außenpolitische Institut LAI (häufiger Projektpartner verschiedener deutscher Stiftungen). Kandidierte zu den Europawahlen 2009 erfolglos auf der Liste der LSDSP (Latvijas Sociāldemokrātiskās Strādnieku Partija - Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei), und machte im Frühjahr 2010 Schlagzeilen mit seinem Entschluß, sich als LSDSP-Vorstandsmitglied lieber der "Vienotība" anzuschließen (entgegen dem LSDSP-Mehrheitseschluß im Vorstand, sich mit drei kleineren Parteien zusammen die Liste "Atbildība" / Verantwortung zu bilden).  
Ebenfalls auf der Vienotība-Liste in Zemgale gewählt wurde Sarmīte Ēlerte, die schon seit den Zeiten der "Volksfront" politisch aktiv war, nach Privatisierung der Tageszeitung DIENA bis 2008 deren Chefredakteurin war, und als Journalistin nie scheute Themen der Korruption und den Einfluß der "lettischen Oligarchen" wie Ainars Šlesers, Aivars Lembergs, oder Andris Šķēle zu thematisieren. Unter ihrer Leitung wurde DIENA zum Sprachrohr der Kritiker der Regierung Kalvītis und der "Regenschirmrevolution" von 2007. Außerdem war sie als langjähriges Vorstandsmitglied der Soros-Stiftung Lettland bekannt. Wie unbequem sie vielen erschienen sein mag, zeigt die hohe Zahl derjenigen, die sie auf der Liste ausstrichen (das ermöglicht das lettische Wahlrecht) - aber ihre Wahl nicht verhindern konnten.
Stabilität und Verunsicherungen
Es gab also vielfach ermutigende Zeichen, dass sich gerade bei "Vienotība" einige Querdenker und Freigeister zusammentun, die weder als Handlanger irgendwelcher "Oligarchen" (neureiche Menschen die sich Parteien zusammenkaufen) handeln noch unterschiedliche Ausrichtung - teils konservative, teils liberale, teils sozialdemokratische - als Hindernis für eine Zusammenarbeit verstehen. 
Aber zumindest beim Blick auf die wahrscheinlichsten Koaltionspartner (die es auch bisher schon waren) mehren sich die Fragezeichen. 

Manche mögen angesichts der überraschend hohen Wählerzustimmung für die "Zaļo un zemnieku savienība" - der gemeinsamen Liste der Bauernpartei und der lettischen Grünen - vielleicht denken "Bei uns gibt es doch weder viele Bauern noch viele Grüne!" Tatsache aber ist, dass sich hier die "Lembergs-Stipendiaten" wiederfinden, plus eine eigentümliche Mischung aus gewendeten Sowjetfunktionären und ehemaligen Kolchos-Leitern. Plus den Grünen, denen jeglicher Sinn für Weltoffenheit oder liberaler Gesinnung fehlt. Erschreckend daran könnte auch sein, dass hier niemand aus irgendwelchen idealistischen Gründen moralische Ziele anstrebt (ein grüneres Lettland? Wirt und Bewirtschafter sein des eigenen Landes? - so die Wahlsprüche). Nicht einmal auf die Einführung eines Flaschenpfands konnte sich die bisherige Regierung einigen.
Deutlich ist hier vielmehr, wer "Koch" und wer "Kellner" ist: der zwielichtige scheinbare Wohltäter Aivars Lembergs zitiert am liebsten diejenigen, die ihn als nächsten lettischen Präsidenten sehen möchten. Zur Wahl stand er nicht - nur als Regierungschef hätte er zur Verfügung gestanden. Aber den Ton gibt er mehr als jeder andere Kandidat vor: mal ist da von der "Okkupation Lettlands ohne Panzer" die Rede (gemeint sind die Kreditbedingungen des Europäischen Währungsfonds), mal von der "Soros-Bande" welche die Macht in Lettland übernehmen wolle (gegen alle die Projektfördergelder aus den USA annehmen). Zuletzt fiel auch die "Kleine Zeitung" in Österreich auf Lembergs Kampagnen rein, als dort ein Beitrag aus der von Lembergs kontrollierten Zeitung "Neatkarīgā" ("die Unabhängige") erschien, in dem behauptet wurde, die Wahlergebnisse bei den Parlamentswahlen stünden schon vorab fest, da darüber Abmachungen in "Geheimgesprächen" zwischen dem Währungsfonds und den USA getroffen worden seien. Lembergs hatte immer wieder gesagt, er wolle zu den Lettland auferlegten Kreditbedingungen "neu verhandeln". Wo sind die politischen Ziele zum Wohle der Bauern, des Umweltschutzes oder der Ökologie? Dombrovskis muss aufpassen, dass Lembergs Tiraden ihm nicht auf Dauer doch wieder die Spaltpilze in die mühsam gezimmerte "Einigkeit" treiben. 
Zweites Fragezeichen: die Nachwuchsnationalisten
Auch im "nationalistischen Block" gibt es Veränderungen. Während die meisten "Altgedienten" der Vaterlandspartei diesmal nicht wiedergewählt wurden, waren die extremen Nationalisten der "Visu Latvijai" (Alles für Lettland) die Nutznießer der gemeinsamen Wahlliste und träumen nun von stärkerer Regierungsbeteiligung. Ob Hetze gegen potentielle Einwanderer, Russen, Schwulen und Lesben, oder öffentliches Erinnern an die angeblichen Heldentaten der SS-Legion - was hier verbreitet und verkündet wird, hat nichts mehr mit "gesundem Patriotismus" zu tun. Noch zögert Dombrovskis, die Vaterlandsnationalen um den ehemaligen SS-Kämpfer Visvaldis Lācis (der auch schon mal Mitglied der "Grünen Bauernliste" war) und den Jungnationalisten Raivis Dzintars mit in die neue Regierung aufzunhmen - allein zur Sicherung einer Mehrheit im Parlament bräuchte er es nicht. Mal sehen, wie lange die "Einigkeit" hält ...

1 Kommentar:

Axel Reetz hat gesagt…

Also wenigstens ich habe nicht gesagt, die bisherige Regierung könne weitermachen.