31. Dezember 2010

Letzte Meldung 2010: NEO ist Lettlands Europäer des Jahres!

Fast schon vergessen scheint es angesichts der umfassenden Wikileaks-Veröffentlichungen, dass auch Lettland im vergangenen Jahr Datenlecks größeren Ausmaßes und nachfolgende Veröffentlichungen aufzuweisen hatte. Unter dem Namen NEO veröffentlichte Ilmārs Poikāns, ein Wissenschaftler am Institut für Mathematik und Informatik der Universität Lettlands, Datensätze des lettischen Finanzamtes, die ihm durch einen Zufall zugänglich geworden waren. 
Auf besonderes Interesse der Öffentlichkeit stießen dabei Listen mit Empfängern überhöhter Sonderzahlungen und Prämien, die sich einzelne Staatsdiener, Angestellte des staatlichen Energieversorgers und auch im Polizeiapparat trotz offiziell von der Regierung verkündetem harten Sparkurs persönlich zu sichern wussten. Während die Pleite der PAREX-Bank staatlich aufgefangen werden musste, genehmigten sich deren Spitzenfunktionäre - wie es NEO enthüllte - immer noch fünfstellige Gehälter.

Ilmārs Poikāns ist Lettlands Europäer des Jahres 2010. Das entschied eine öffentliche Abstimmung der Lettischen Europäischen Bewegung. "Demokratische und europäische Werte" habe Poikāns in Lettland durch seine Aktivitäten zu verteidigen versucht. 45 Kandidatinnen und Kandidaten waren für die Wahl nominiert worden, die in diesem Jahr zum 13.Mal von der lettischen Europäischen Bewegung durchgeführt wurde.

15. Dezember 2010

Lettisch-Estnisches

Ich weiß nicht, wie es anderen Lettland-Freunden geht: mir persönlich geht die künstlich durch eine deutsche Werbeagentur mit deutschem Investorengeld in Lettland ins Leben gerufene "Weihnachtsbaum-Kampagne" ziemlich auf die Nerven. Im Grunde ist es ein bewußter Versuch, das "Pferd von hinten aufzuzäumen": wenn denn die blöden Deutschen schon nichts über Lettland wissen, dann werden sie eben mit Schlagzeilen überschwemmt, die ihnen vertraut sind. Warum also erst anfangen, von kompliziert zu verstehenden lettischen Traditionen zu erzählen? Mit der angeblichen Erfindung des Weihnachsbaums in Lettland wären wir dann auch endgültig wieder in den Sphären der deutschen Oberschichten angelangt, die ja jahrhundertelang sich in Lettland festgesetzt hatten und weitgehend auch die Geschichtsschreibung bestimmten - abwechselnd mit der russischen, schwedischen und dänischen. Nun wird auch noch brav vermeldet, Estland und Lettland hätten sich "auf höchster Ebene" geeinigt, der Weihnachtsbaum sei weder in Estland noch in Lettland zuerst aufgestellt worden, sondern "in Livland". Bravo! Hauptsache die Sache ist spannend, dass die (Boulevard-)Medien auch berichten (Kleine Zeitung, tt-com, ORF, Berlinonline). Der "Rheinischen Post" kommen immhin Zweifel an dieser zu kommerziellen Zwecken aufbereiteten Legende. Eine intelligentere Geschichte zu diesem Thema hat die FAZ recherchiert: In Dänemark arbeiten lettische Saisonarbeiter daran, die Bäume für den Weihnachtsgebrauch in Großbritannien und Deutschland vorzubereiten.

Welche Diskussionen tatsächlich zwischen Letten und Esten laufen, läßt sich zum Beispiel anhand des Beitrags des Portals APOLLO vom Dienstag dieser Woche nachlesen. Dort ist wieder ein
mal ein Bericht aus der Region Valka / Valga zu lesen. "Esten versprechen Wohltaten und locken die Letten" ist dort das Thema. Innerhalb nur weniger Wochen hätten 15 Letten ihren Wohnsitz auf die estnische Seite verlegt und sich dort registriert. Ivars Unts, Ortsvorsteher des estnischen Valga, habe die auf der estnischen Seite arbeiten aufgefordert, sich auch als Einwohner Estlands registrieren zu lassen. 
"Das ist doch skandalös!" äussern sich verschiedene Letten gegenüber lettischen Zeitungen. Auch die Zahl der Leserbriefe und Meinungsäusserungen im Internet dazu ist hoch.
Versprochen werde eine gute und billige Gesundheitsvorsorge in Estland und niedrigere Einkommenssteuern. Gefragt nach den Gründen, warum sie über die Grenze wechseln, sollen Letten auch geantwortet haben: dort gibt es mehr Unterstützung für die Kinder, der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 190 Lat, und günstigere Einkaufsmöglichkeiten, und Apotheken fast vor der Haustür - und man müsse nicht mehr extra bis nach Valmiera dafür fahren. Auch die Altersrenten lägen demnach in Estland höher.

Andere Letten wiederum lachen über solche Erzählungen. "Die haben wohl den Umrechnungskurs estnische Krone - Euro noch nicht ganz verstanden", so die Vermutung, "wenn jetzt im Januar werden sie schon sehen, wieviel weniger Scheine sie in die Hand bekommen."

7. Dezember 2010

Druck aus dem Baltikum

Während lettische Medien bisher lediglich darüber spekulierten, welcher Art die Unterlagen sein könnten, die im Rahmen der Wikileaks-Veröffentlichungen auch Lettland betreffen könnten, sind seit gestern bei Spiegel-online auch Details nachzulesen. Genauer gesagt: der SPIEGEL gehörte von Anfang an zu den Wikileaks-Medienpartnern, denen Daten vorab zur Verfügung gestellt wurden. Also sind wir (vorläufig) in diesem Fall darauf angewiesen, dass die von den Spiegelanern erstellten Zusammenfassungen des Erlesenen stimmen.

Wikileaks-Salat
Von "Druck aus dem Baltikum" ist da die Rede - eine ungewöhnliche Formulierung, denn meistens wurde im Laufe der Geschichte ja eher Druck auf Esten, Letten und Litauer ausgeübt, von Unterwerfung bis Einverleibung. Es geht um den bewaffneten Konflikt in Geogien 2008. Den hier wiedergegebenen Dossiers der US-Diplomaten zufolge hätten die baltischen Staaten während des Konflikts Georgiens mit Russland erfolgreich eine NATO-Militärstrategie für den Fall eingefordert, dass Russland auch auf baltischem Territorium militärische Mittel anwende. Der US-Botschafter in Riga notierte: "Die Letten fragen sich, ob ihre Mitgliedschaft in Nato und EU die Sicherheit bietet, welche sie sich erhofft haben," und "sie schauen nach Georgien und denken: das könnte bei uns auch passieren."
Eine Erweiterung der NATO-Sicherheitsgarantien sei zur Voraussetzung dafür gemacht worden, dass die drei baltischen NATO-Mitglieder einer gemeinsamen EU-Strategie gegenüber Russland zustimmten. Weniger die Darstellung der in erster Reihe handelnden Personen ist hier also präkant (wie es in vielen Veröffentlichungen über deutsche Politiker gern hervorgehoben wird), sondern die Tatsache an sich dass hier überhaupt "Druck aus dem Baltikum" wirksam werden konnte. NATO-Geheimpläne gegen Russland also?

Deutsches in der Ost-West-Diplomatie
Interessant auch die Sätze, die Deutschland in diesem Zusammenhang zugeschrieben werden. Zitat SPIEGEL: "Die US-Botschaft in Berlin schreibt: Deutschland betrachtet den Notfallplan zum Schutz des Baltikums vor Russland … als kontraproduktiv und überflüssig." 
Aber auch der dann angeblich gefundene Lösungsweg soll aus deutscher Feder stammen. Zitat: "Es sei doch denkbar, dass die Verteidigung des Baltikums Teil der Verteidigung Polens werde. Diese Idee habe der deutsche Nato-Botschafter in einem Gespräch vorgebracht." 
"Russland zerstört hier das über 20 Jahre aufgebaute Vertrauen", soll Kanzlerin Merkel angesichts der Vorgänge in Georgien bei einem Gespräch mit dem damaligen litauischen Präsidenten Valdis Adamkus gesagt haben. Sogar einen Beitritt der Ukraine zur NATO soll Merkel - entgegen der öffentlich von Seiten der deutschen Regierung vertretenen Meinung - gegenüber den Balten unterstützt haben.

Details, die in "Normalsprache" wohl wenig sensationell klingen. Im Detail sind es Einblicke in die europäische-USamerikanische interne Kommunikation - falls wir nicht den Bericht der DIENA vom 4.12. gelesen haben - angeblich zum selben Thema und über dieselben Dokumente. Dort ist von "Druck Russlands auf Litauen im Falle einer Unterstützung Georgiens" die Rede. Allerdings wirkt es beim genauen Lesen dieses Beitrags so, als ob hier jemand Berichte der französischen Tageszeitung "Le Monde" nacherzählt.Ausgiebig wird hier die Beziehung Litauens zu Russland geschildert, die durch die Unterstützung Litauens für Georgien und auch die "orangene Revolution" in der Ukraine geprägt wurde.

Die Deutschen seien diejenigen, die am schnellsten die Argumente Russlands übernehmen und weiterverbreiten - das schrieben angeblich US-Diplomaten, in diesem Fall sorgsam nachgelesen von einer Kommentatorin des lettischen Radios. Lettland und Polen seien 2008 die heißblütigsten Unterstützer Georgiens gewesen, und hätten - im Amt war damals Außenminister Riekstiņš - Sanktionen gegen Russland, vom Olympiaboykott bis zum Ausschluß bei G8-Treffen, gefordert. 

Wer greift hier wen an?
Bedienen sich also - trotz angeblicher "roher Fakten" der Wikileaks-Dokumente - wieder einmal die Medien jedes Landes eher der angenommenen öffentlichen Meinung, als wirklich neuen Erkenntnissen den Weg zu bereiten? Auch ein Beitrag beim lettischen Portal APOLLO legt dies nahe. Beschrieben wird hier derselbe Vorgang: das US-amerikanische Schutzversprechen ("Eagle Guardian") und das der NATO für Polen wird um die baltischen Staaten erweitert. Nur die Überschrift ist offenbar kein Zitat: "Wikileaks offenbart russische Angriffsdrohungen gegenüber Lettland." Wo ist das hergeholt? Schließlich werden keine russischen Diplomaten zitiert, sondern hier geht es ausschließlich um das, was US-Botschafter aufgeschrieben haben sollen. Die Latvijas Avize geht sogar noch einen Schritt weiter, und zitiert im gleichen Beitrag einerseits die angeblichen Drohungen gegen Litauen, um dann andererseits eilfertig zu behaupten, Wikileaks diene mit seinen Veröffentlichungen dem Terrorismus (Fakten mit Kommentar vermischt - bei LA nicht zum ersten Mal).

Vielleicht muss die Schlußfolgerung gelten: egal, ob als Rohstoff Wahrheit oder Märchen dient - Politik ist eben Politik.