15. Dezember 2010

Lettisch-Estnisches

Ich weiß nicht, wie es anderen Lettland-Freunden geht: mir persönlich geht die künstlich durch eine deutsche Werbeagentur mit deutschem Investorengeld in Lettland ins Leben gerufene "Weihnachtsbaum-Kampagne" ziemlich auf die Nerven. Im Grunde ist es ein bewußter Versuch, das "Pferd von hinten aufzuzäumen": wenn denn die blöden Deutschen schon nichts über Lettland wissen, dann werden sie eben mit Schlagzeilen überschwemmt, die ihnen vertraut sind. Warum also erst anfangen, von kompliziert zu verstehenden lettischen Traditionen zu erzählen? Mit der angeblichen Erfindung des Weihnachsbaums in Lettland wären wir dann auch endgültig wieder in den Sphären der deutschen Oberschichten angelangt, die ja jahrhundertelang sich in Lettland festgesetzt hatten und weitgehend auch die Geschichtsschreibung bestimmten - abwechselnd mit der russischen, schwedischen und dänischen. Nun wird auch noch brav vermeldet, Estland und Lettland hätten sich "auf höchster Ebene" geeinigt, der Weihnachtsbaum sei weder in Estland noch in Lettland zuerst aufgestellt worden, sondern "in Livland". Bravo! Hauptsache die Sache ist spannend, dass die (Boulevard-)Medien auch berichten (Kleine Zeitung, tt-com, ORF, Berlinonline). Der "Rheinischen Post" kommen immhin Zweifel an dieser zu kommerziellen Zwecken aufbereiteten Legende. Eine intelligentere Geschichte zu diesem Thema hat die FAZ recherchiert: In Dänemark arbeiten lettische Saisonarbeiter daran, die Bäume für den Weihnachtsgebrauch in Großbritannien und Deutschland vorzubereiten.

Welche Diskussionen tatsächlich zwischen Letten und Esten laufen, läßt sich zum Beispiel anhand des Beitrags des Portals APOLLO vom Dienstag dieser Woche nachlesen. Dort ist wieder ein
mal ein Bericht aus der Region Valka / Valga zu lesen. "Esten versprechen Wohltaten und locken die Letten" ist dort das Thema. Innerhalb nur weniger Wochen hätten 15 Letten ihren Wohnsitz auf die estnische Seite verlegt und sich dort registriert. Ivars Unts, Ortsvorsteher des estnischen Valga, habe die auf der estnischen Seite arbeiten aufgefordert, sich auch als Einwohner Estlands registrieren zu lassen. 
"Das ist doch skandalös!" äussern sich verschiedene Letten gegenüber lettischen Zeitungen. Auch die Zahl der Leserbriefe und Meinungsäusserungen im Internet dazu ist hoch.
Versprochen werde eine gute und billige Gesundheitsvorsorge in Estland und niedrigere Einkommenssteuern. Gefragt nach den Gründen, warum sie über die Grenze wechseln, sollen Letten auch geantwortet haben: dort gibt es mehr Unterstützung für die Kinder, der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 190 Lat, und günstigere Einkaufsmöglichkeiten, und Apotheken fast vor der Haustür - und man müsse nicht mehr extra bis nach Valmiera dafür fahren. Auch die Altersrenten lägen demnach in Estland höher.

Andere Letten wiederum lachen über solche Erzählungen. "Die haben wohl den Umrechnungskurs estnische Krone - Euro noch nicht ganz verstanden", so die Vermutung, "wenn jetzt im Januar werden sie schon sehen, wieviel weniger Scheine sie in die Hand bekommen."

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