31. Januar 2010

Jūrmala – Erholung und Spekulation

Diese Woche brannte in Jūrmala ein altes Sommerhaus ab. Das 1863 errichtete Gebäude an der Jomas Straße beherbergte zur Sowjetzeit ein Stadtmuseum und eine Bibliothek und war ein bedeutendes Denkmal des Neoklassizismus.

Nach ersten Untersuchungen brach das Feuer auf dem Dachboden aus. Deshalb gehen die Behörden eher von Brandstiftung aus als von einem durch Obdachlose verursachten Unglück. Im Umtergeschoß wurden jedoch vier Matratzen gefunden, was belegt, daß Wohnungslose das verlassene Gebäude als Unterschlumpf genutzt haben.

Zwar sei das alte Sommerhaus nicht vollständig abgebrannt. Ob eine Restaurierung jedoch stattfinden kann und wird, steht damit noch nicht fest. Bereits im Vorfeld hatte der Stadtrat versucht, mit den Eigentümern Konakt aufzunehen, auf den tragischen Zustand des Hauses hinzuweisen und eventuell diese auch mit einer Strafe zu belegen, jedoch ohne Erfolg.

Jūrmala als Rigaer Strand ist nicht erst jüngst populär, sondern war es schon zur Zarenzeit. Viele Wohlhabende errichteten sich hier teilweise sehr große Sommerhäuser, die in der Sowjetzeit einer anderen Nutzung zugeführt oder schlicht bewohnt wurden. Heute mögen im Sommer die Vorortzüge zum Strand überfüllt sein, dennoch leben viele Menschen in Jūrmala das ganze Jahr über. Die Nähe zum Meer, die Umgebung und die Geschichte begründen hohe Immobilienpreise – und Spekulation.

Aus diesem Grund gibt es in Jūrmala die Initiative Jūrmalas Aizsardzības Biedrība, die sich dagegen wendet, daß Eigentum in ihrer Stadt zu Spekulationszwecken erworben wird. Im Ergebnis gibt es Grundstücke mit mehr und mehr verfallenden alten Sommerhäusern, die seit der Unabhängigkeit niemand zu renovieren begonnen hat, die Grundstücke aber haben mehrfach den Eigentümer gewechselt.

Straßenbahn in Daugavpils droht Ende

Es gibt in den baltischen Staaten nicht viele Straßenbahnen. Litauen kommt komplett ohne Nahverkehr auf Schienen aus, in Estland gibt es einzig die vier Schmalspur-Linien in Tallinn, in Riga hingegen zahlreiche Verbindungen. Die älteste Straßenbahn Lettlands rattert allerdings in Liepāja über die Gleise, gegründet 1899. Dort sollte sich der Besucher nicht wundern, daß die Bahnen keine Nummer tragen. Es gibt nur eine Linie. Die jüngste Straßenbahn wiederum fährt mit immerhin drei Linien im ostlettischen Daugavpils. Und diesem Unternehmen droht nun das Ende.

Die Straßenbahn in Daugavpils wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 mit einer Linie vom Stadtteil Jaunbūve ins Zentrum gegründet. Die ersten Waggons waren ein Geschenk aus Riga, ein Produkt der Riager Waggonfabrik. Dieser Hersteller prudziert seit langem keine Straßenbahnen mehr und in Riga wurden die Waggons schon während der Sowjetzeit durch Produkte des Herstellers Tatra aus der damaligen Tschechoslowakei ersetzt.
Heute nutzen die Straßenbahn in Daugavpils bei einem Netz von 25 Kilometern mit 53 Waggons täglich etwa 20.000 Fahrgäste. Doch seit vielen Jahren ist in das Rollmaterial nicht mehr investiert worden. Die Waggons sind bis zu 25 Jahren alt. Ersatzteile können von den Herstellern nicht mehr beschafft werden, weil neben der Rigaer Fabrik auch die Lieferanten aus Tschechien und Rußland diese Waggons lange nicht mehr herstellen. So berichtet das Unternehmen, daß mitunter ein Woggon für Ersatzteile geopfert werden muß.

Einstweilen kosten auch die Fahrkarten entsprechend wenig, 30 Santīmi, etwa 45 Euro Cent. Das ist zuwenig, um die Kosten wieder hereinzubringen. Um ohne Subventionen auszukommen, müßte der Preis 60 betragen, was aber angesichts der Einkommensituation der Fahrgäste nicht realistisch ist. Das Unternehmen plant daher, mit Hilfe von EU Fonds eine Modernisierung zu realisieren, um den Menschen die Straßenbahn in der Stadt zu erhalten, die für viele unverzichtbar ist und die auch zum Stabild von Daugavpils gehört.

29. Januar 2010

Mühsames Rechnen im Lettischen Institut

Die lettische Regierung verbreitet momentan eine Menge Rechnereien. Schon vor einigen Monaten wurde ja das "Lettische Institut" (Latvijas institūts), dass bisher manchmal ein eher exotisches Dasein zu führen schien, für die Verbreitung von Regierungsinformation eingespannt und entsprechend umstrukturiert. Bei der Gründung des Instituts am 29.September 1998 war man eher um das Image Lettlands im Ausland bemüht. Wer kennt Lettland überhaupt? Wie unterscheidet sich Lettland von den Nachbarländern? Möchte Lettland unter dem Stichwort "Baltikum" firmieren, oder lieber eigene Schlagzeilen machen? Auch das Knüpfen eines "Kontaktnetzes im Ausland" wurde als Ziel angesehen damals. 

Mit Beschluss des Ministerkabinetts vom 22.Oktober 2004 wurde dann die bisherige "GmbH" zu einer staatlichen Agentur umgewandelt.
Nun werden bevorzugt ausländische Journalisten mit dem versorgt, was die lettische Regierung für richtig oder imagefördernd hält. Und das bei erheblich reduzierten Bezügen: das Budget für 2009 musste eine Kürzung von 245.071 Lats auf 116.928 Lats hinnehmen. Gleichsam radikal ging man mit dem Personal um: waren es im Jahr 2008 noch 14 Angestellte, im Januar 2009 noch 12, so verzeichnete die ehemals stolze Staatsagentur ab Juni 2009 noch ganz 4 (in Worten: vier) Mitarbeiter/innen. Gleichzeitig habe man die Mietkosten um 71% senken können, heisst es auf der hauseigenen Webseite. Unglaublich? In Deutschland unvorstellbar? Ob dies nicht auch dem "lettischen Image" schadet? Protest ist nirgendwo zu lesen. Vielleicht wäre der Kommentar: "in Lettland ist das eben so" zu erwarten, oder "bei anderen Einrichtungen ist es auch nicht anders."

Die Pläne für das laufende Jahr und die nächste Zukunft lesen sich ähnlich. Materialien in Fremdsprachen neu erstellen? Völlig gestrichen (von 90 auf Null). Unterstützung für internationale Kulturereignisse: gestrichen. Arbeiten an einem "cooperative design", an der Imageverbesserung Lettland, am Ziel "Markenzeichen Lettland": eingestellt. Beratung für einheimische und ausländische Interessenten: mehr als halbiert (von 1000 auf 400 - klar, wenn auch kein Personal mehr dafür da ist...). Organisation von Veranstaltungen, die Lettland bekannt machen sollen? Ebenfalls halbiert (von 11 auf 5 pro Jahr). Kontaktnetz im Ausland? Keine Rede mehr davon (sind nicht genug Letten als Arbeitsemigranten unterwegs? Erledigt sich diese Arbeit also von selbst?).

Das Einzige, was gesteigert werden soll, ist die Zahl der Empfänger für "informative Monatsübersichten" (gegenwärtig 250), sowie die Anzahl der "für die ausländischen Medien vorzubereitenden Materialien" (80, statt vorher nur 7). Wie das dann aussieht, kann jede/r dieser Empfänger/innen jetzt schon erleben. Es sieht aus - kurz und unverblümt gesagt - wie schlichte Regierungspropaganda. 
Die Schwerpunktthemen haben sich offenbar gewandelt, das scheint klar zu sein. Nicht mehr das genaue Aussehen der verschiedenen Muster selbst gestrickter lettischer Handschuhe, oder die großartigen internationalen Erfolge lettischer Chöre stehen im Vordergrund, sondern schlichte Zahlen. Offenbar geht es jetzt darum den Eindruck zu vermeiden, Lettland sei "ein Pleiteland".
Das zu erwartende Haushaltsdefizit für 2009 würde nun auf etwa 6,8% geschätzt, schreibt nun das Lettische institut. Mit den internationalen Kreditgebern sei vereinbart worden dieses Defizit nicht auf über 10% ansteigen zu lassen. War in der EU nicht mal von 3% die Rede (Maastricht-Kriterien)? Das steht hier im folgenden Satz: 2011 soll das Defizit weiter fallen. Wer es nicht glaubt, der kann in einer zweiten Mitteilung dieser Woche dazu noch die rosigen Versprechungen des EU-Währungskommissars Alumnia, des lettischen Finanzministers Repše, und Regierungschef Dombrovskis nachlesen. Und als ob das nicht ausreichte, kommt als dritte Meldung des Lettischen Instituts auch noch eine Spezial-message des obersten Sattlers - des Präsidenten. "Als ich 2009 am Weltwirtschaftsforum in Davos teilnahm", schreibt dieser, "gab es viele Skeptiker die daran zweifelten dass Lettland eine Erholung der Wirtschaft erreichen könnte. Das Jahr 2010 wird zeigen, dass diese Skeptiker unrecht haben." Hier wird präsidial abgesegnet, dass 2014 die Maastricht-Kriterien erreicht werden sollen. Gleichzeitig werden die Reformen des Gesundheitswesens, der öffentlichen Verwaltung und des lettischen Bildungswesens als "erledigt im Jahr 2009" abgehakt. Und - ach ja - der private Inlandsverbrauch werde ansteigen, auch ohne "auf Kredite gestützten Konsum". 

Ob da die lettischen Wähler und Wählerinnen mit ihrem Präsidenten wohl einer Meinung sind?
Vom lettischen Institut erfährt der interessier- te Lettland-Freund dazu nichts. Oder die Verfasser dieser Nachrichten wirklich glauben, die geneigten "Journalisten aus dem Ausland" würde solche Meldungen eins zu eins wiedergeben, und auch keine lettischsprachigen Zeitungen lesen können (wo ein weitaus größeres Meinungsspektrum anzutreffen ist, und auch mal eine Stimme aus der parlamentarischen Opposition).
Warum gerade der Präsident, der in Lettland ja im Gegensatz zu Litauen gar keine so entscheidende Rolle in der Politik zu spielen hat, zu verkünden hat, der Export von Holz habe sich ja schließlich 2009 sogar um 50% gesteigert (klar, die vermehrte Abholzung war sogar staatlich initiiert worden!), bleibt unklar. Soll hierdurch Glaubwürdigkeit erreicht werden? Ich für meinen Teil frage dann doch zum Vergleich mal lieber meine Freunde und Bekannten in Lettland, wie es ihnen denn wirklich geht. Und wenn deren Aussagen weiterhin zu sehr von dem abweichen, was da alles so in staatlichem Auftrag und in globalem Englisch verkündet wird .... - liebes Lettisches Institut, vielen Dank für die Mühe.

Bei "Baltic Reports" war schon im Oktober 2009 nachzulesen, was dem Lettischen Institut noch drohen könnte, wenn die finanziellen Vorgaben - ganz entgegen den jetzt offiziell verbreiteten Texten - weiter so schlecht bleiben wie jetzt: die komplette Schließung.

27. Januar 2010

Lettland GmbH

Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Veiko Spolītis entstanden und auf Lettisch in citadiena im November 2009 erschienen.

Die zu Beginn der 90er Jahre weitgehend ohne Widerspruch und Diskussion in Lettland durchgeführten neoliberalen Reformen haben Eigentumsrechte etabliert, welche den Vertretern der Nomenklatur des untergegangenen Regimes zügig und größtenteils legal ermöglichten, Eigentümer der bisher von ihnen verwalteten Strukturen zu werden. Die Passivität der Durchschnittsbürger und ihre fehlende Bereitschaft, sich in irgendeiner Form politisch zu engagieren, setzten diesem Prozeß trotz Voucherprivatisierung nichts entgegen.

Statt die handelbaren Voucher zu „investieren”, verkaufte ein großer Teil der Bevölkerung seine Privatisierungszertifikate aus Unwissen über deren Wert oder auch aus Not angesichts der schwierigen sozialen Umstände nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.Gleichzeitig vertrauten die Menschen naiv darauf, daß nunmehr lettische (!) Politiker sich um die Entwicklung des Landes und den Wohlstand seiner Einwohner kümmern – wenig überraschend vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung, denn etwas anderes als das Modell eines Staat im „Governantentyp” war vielen selbst vom Hörensagen nicht bekannt. Dabei wurde noch der Vergangenheit der gewählten Volksvertretern weitere Aufmerksamkeit geschenkt noch eine Kontrolle der rechtmäßigen Verwendung von Steuergelder eingefordert.

Die Abgeordneten des 1990 noch zur Sojwetzeit gewählten Obersten Sowjets verfaßten ein Wahlgesetz, welches ursprünglich nur für den Urnengang zur 5. Saeima im Jahre 1993 vorgesehen war, aber noch heute in Kraft ist. Der Streit der Bürgerkommitees, eine von nationalkonservativen Kreisen organisierte Art Gegenparlament, mit dem Obersten Sowjet löste in der Bevölkerung keinen Wunsch nach der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung aus, wie dies in den Nachbarländern Estland und Litauen geschah.

Nicht erst, aber spätestens beginnend mit der Krise im Jahre 2008 wurde deutlich, daß die Entwicklung Lettlands seit 1990 auf Abwege geraten ist. Der mißverstandene Liberalismus eines Ivars Godmanis – von 1990 bis 1993 Ministerpräsident der Volksfrontregierung – in Kombination mit der fortgesetzten Bereicherung der Nomenklatur waren Auslöser für die Stagnation im demokratischen System, die Lettland stufenweise zum „Unternehmen des Auserwählten” machte, wie dies leidenschaftlich Ministerpträsident Andris Šķēle in seiner Neujahrsrede 1996 darlegte.

Ein demokratischer Staat kann per Definition nicht wie ein Unternehmen funktionieren, dessen Grundlage Umsatz und Verdienst sind, dessen Verteilung wie in früheren absoluten Monarchien dem Eigentümer obliegt. Ein demokratischer Staat hingegen ist die – historisch gewachsene – Gemeinschaft seiner Bevölkerung, der eine ausgeglichene Verdienstmöglichkeit für alle unter rechtsstaatichen Bedingungen sicherstellen muß. Sind die Volksvertreter eines demokratischen Staates nicht fähig oder Willens, eine gesetzmäßige Verteilung und gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten, hat die Bevölkerung das Recht und die Möglichkeit, andere Repräsentanten zu wählen. Funktioniert aber der Staat wie ein Unternehmen, tragen die Volksvertreter keine politische Verantwortung, dem Interesse der Allgemeinheit zu dienen; sie können statt dessen nach Belieben eigenen Nutzen aus der „GmbH Staat schlagen”. Wo es gelingt, zeitweilig einen guten Manager für die „GmbH Staat” zu finden, gibt es meist Probleme mit der Nachfolge.

Zehntausend Einwohner Lettlands, die nach Irland „verdrängt” wurden, haben die GmbH Lettland freiwillig verlassen. Im Unterschied zu einem Unternehmen, wo nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine Verbindungen mehr zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehen, werden die Letten im Ausland alleine durch ihren Paß and die Existenz der GmbH Lettland erinnert wie auch eventuell durch die erste Rentenstufe des heimischen Systems, Verwandte und natürlich ihre Sprache.

Mit der Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1922 kehrten die heutigen politischen Parteien Lettlands bildlich gesprochen auch zurück zu den damaligen Sitten. Die Parteien in Lettland erinnern folglich eher an die Honoratiorenparteien des ausgehenden aristokratischen Zeitalters, deren Vertreter aus verschiedenen Gründen außer Stande sind, Kontakt zum Wähler aufzubauen.

Das totalitäre Erbe und die Isolation von der Informations- und Diskussionsphäre des Westens hat zur Folge, daß die Mehrzahl der heutigen Politiker kein Verständnis für die Bedeutung demokratischer Partizipation aufbringen. Darum bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Trägheit des totalitären Verwaltungsmodells der sowjetischen Gesellschaft fortzusetzen. So wird die Verwendung einer ökonomischen Terminologie nunmehr seit 15 Jahren in der GmbH Lettland gepflegt anstatt Angebote für eine Verbesserung das Regieren zu unterbreiten.

Die Parteien werden allerdings regelmäßig von den 30 bis 40% der Wähler, die vor den Wahlen gewöhnlich unschlüssig sind, für wen sie stimmen wollen, sollen und werden, nicht inhaltlich gefordert. Die passiven Wähler sind entfremdet von der Realität der demokratischen Herrschaft in ihrem Land und die Ungereimtheiten der Manager der Lettland GmbH haben ihre Werte entstellt. Die von Gabriel Almond und Sidney Verba definierte allgemeine Zustimmung zum System wird vorwiegend sichergestellt durch zum konkreten Zeitpunkt populären Personen in den vordersten Reihen wie einst Siegerist oder Šķēle. Deren Aktiviitäten zu verfolgen wurde mit Hilfe der Medien im Unterbewußtsein verankert, was letzlich eher einer “Gehirnwäsche” glich. Folge ist die Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber Korruption, wo Politiker unter anderem Verwandte und Freunde in den von ihnen geführten Häusern mit Jobs versorgen, als auch undemokratischem Regieren (innerhalb der Parteien und im Staat generell).

Konkret wäre die Aufgabe der gegenwärtigen Regierung ein Bruch mit den Prinzipien der GmbH Lettland. Leider schränkt Artikel 59 der Verfassung die Handlungsfähigkeit des Regierungschefs und damit auch ein beherztes Handeln gegen die Ursachen der Krise ein. Statt dessen muß er beständig auf die Stabilität der Koalition achten. Der im Parlament stärker vertretene Koalitionspartner Volkspartei steht offiziell zur Regierung, hat aber verstanden, alternative Partnerschaften zu entwerfen. Die Union von Bauern und Grünen würden die Regierung selbst unter Verrat ihrer Ideale unterstützen, Hauptsache sie garantiert den Schutz ihres Patronen, des vor zwei Jahren vorübergehend verhafteten Bürgermeisters von Ventspils, vor einem rechtsstaatlichen Gerichtsprozeß.

Unzählige Untersuchungen und Umfragen haben in den letzten Jahren bestätigt, daß Parlament, Regierung und Parteien keinen Anspruch erheben können, sich als anerkannte Vertrter der Bevölkerung zu fühlen. Der Staatspräsident hat bereits zwei Mal außerordentliche Sitzungen der Regierung einberufen, was im Grunde eine Verletzung des Geistes der Verfassung ist, doch diese Sitzungen hätten nicht einberufen werden müssen, wenn Parlament und Regierungen ihre Hausaufgaben gemacht hätten. Unter Berücksichtung der zu erwartenden Arbeitslosigkeit und der damit steigenden Zahl von Menschen, die im weitmaschig ausgebauten Sozialsystem Lettlands bald jegliche staatliche Unterstützung verlieren, könnte Valdis Zatlers auch Artikel 48 der Verfassung anwenden und die Auflösung des Parlamentes anregen. Dann müßte sich der Ministerpräsident keine weiteren Sorgen um Sabotageakte seiner Koalitionspartner machen, denn Artikel 49 verlangt, daß nach einem solchen Schritt ausschließlich der Präsident Kabinettssitzungen einberuft. Nur auf diese Weise läßt sich das Vertrauen in die demokratische Regierung erneuern, welches Volkspartei und Lettlands Erste Partei durch die Verletzung der Ausgabenbeschränkung im Wahlkampf 2006 nachhaltig gestört haben, wie im November desselben Jahres auch der Verwaltungssenat des Obersten Gerichtes bestätigt hat.

Unabhängig davon, ob die Wahlen zur Saeima turunusgemäß im Herbst 2010 oder auch vorher stattfinden, stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und nicht nur zur Wahl zu gehen, sondern auch durch Weiterbildung die Kompetenz zu erwerben, ihre gewählten Volksvertreter zu Verantwortung zu ziehen. Bleibt alles wie bisher, müssen die Letten die Frage nach dem Sinn der Staatlichkeit ihres Landes stellen. Wandelt sich das Interesse an der GmbH Lettland nicht, nutzt das nur deren Eigentümern. Gegenwärtig ist mehr denn je ein Spruch aktuell: Besser ein schreckliches Ende der GmbH Lettland als endlose Schrecken mit unrechtmäßig gewählten Volksvertretern.

23. Januar 2010

Lettland im Winter

Nachdem es Anfang Januar wie überall in Europa viel Schnee gab, ist es derzeit in Lettland im Vergleich zu den letzten Jahren ungewöhnlich kalt. Eine Metapher?

Daß sich in Lettland in der wirtschaftlichen Krise politisch nichts verändert hat, ist keine neue Beobachtung. Folglich verwundert es auch wenig, daß nunmehr der “neuen” Regierung mit den von Präsident Zatlers im Januar 2009 geforderten neuen Köpfen nur noch wenige Chancen geben, die Monate bis zur Parlamentswahl im Herbst durchzustehen. Die Volkspartei hat der Versuchung widerstanden, daß Budget nicht passieren zu lassen, wie sie es 2004 einmal getan hatte. Ein solcher Regierungssturz hätte auch wohl eher dem eigenen Image geschadet, wie auch die Verabschiedung als Bürde einer von ihr eventuell selbst geführten Regierung hinterlassen.

Nun aber brechen Streite immer häufiger auch an Kleinigkeiten wie der Einführung eines Personalausweises und der elektronischen Unterschrift aus. Unter Protest verließ der Minister für Regionalentwicklung Edgārs Zalāns eine Kabinettssitzung. Dieser der Volkspartei angehörende Politiker gilt als wichtigster Vertreter seiner Partei im Kabinett. Er war vor einem Jahr als Regierungschef nominiert worden. Die Volkspartei ist nervös geworden, nachdem auch die Rückkehr ihres Gründers, Andris Šķēle, an die Parteispitze die Umfragewerte nicht verbessert hat.

Bliebe die Hoffnung einer Regierung, die nicht von der Neuen Zeit geführt wird, in der sich die Partei zu profilieren versuchen könnte. Eine Berufung des früheren dreifachen Ministerpräsidenten Šķēle wäre für die Partei auch mit Risiken verbunden angesichts der großen Probleme. Außerdem ist es keinesfalls gewiß, daß Präsident Zatlers diesem Wunsch der Partei nachkommen würde. Also wäre die Wahl eines parteilosen Kandidaten denkbar.

Auch für die Neue Zeit des derzeitigen Regierungschefs Valdis Dombrovskis hätte sein Sturz nicht nur Nachteile. Sie könnte sich zu den Wahlen wieder als Unschuldslamm präsentieren, deren Regierung gestürzt worden ist. Ein Hinderungsgrund für alle ist neben dem Negativimage des Königsmörders die nach wie vor guten Umfragewerte des Regierungschefs, der sich als erfolgreicher erwiesen hat, als auch seine Kritiker in der eigenen Partei erwartet hatten.

Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt erklärt die Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, ihre Bereitschaft, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen. Angesichts der politischen Umstände und der verbreiteten Korruption in Lettland, ironischerweise bis hinein in die Anti-Korruptionsbehörde, ist Sudraba in den Medien häufig zu sehen und zu hören, was angesichts ihres Protestes gegen das Handeln der politischen Elite ihre Popularität begründet. Sudraba grenzte ihre Äußerung jedoch gleich wieder ein. Sie sei nicht an Politik und Macht interessiert, sondern wolle ihrer Arbeit nachgehen. Da alle politischen Kräfte ihre Unschuld verloren hätten, könne sie sich ein Engagement nur mit einer völlig neuen politischen Kraft vorstellen und das folglich auch nur nach den Wahlen im Herbst. Als neue Kraft akzeptiert sie auch nicht Einigkeit (Vienotība), die ein Zusammenschluß der Neuen Zeit mit ihrer Abspaltung „Bürgerliche Union“ und der Abspaltung der Volkspartei „Gesellschaft für eine andere Politik“ ist. Sudrabas Popularität ist, wie in Lettland gehabt, eine Einladung an viele Parteien, sie in ihre Reihen einzuladen. Nichtsdestotrotz verbreitet die russischsprachige Tageszeitung Telegraf Gerüchte, Sudraba stelle bereits eine Mannschaft mit Leuten aus der Wirtschaft zusammen.

Kritisch für Dombrovskis wurde die Situation am vergangenen Donnerstag, als das Parlament über ein Gesetz abstimmen mußte, welches mit Hilfe von Mitteln ausländischer Geldgeber die Auszahlung der wieder vollumfänglichen Pensionen regelt, wozu das Verfassungsgericht die Politik jüngst gezwungen hatte. Die Volkspartei war mit dem Entwurf der Neuen Zeit nicht zufrieden und legte einen eigenen vor, der präziser sei. Während das Harmoniezentrum sich nicht öffentlich festlegte, um, wie es hieß, keine unmoralischen Angebote für künftige Regierungsbündnisse zu provozieren, kündigte die oppositionelle „Lettlands Weg / Erste Partei“ ihre Unterstützung an.

Daß nunmehr das Gesetz gegen einen Koalitionspartner, aber mit Stimmen der Opposition das Parlament passierte, wollte Dombrovskis nicht als kritischen Punkt für den Regierungssturz werten, obwohl Zeitungen kommentierten, der Ministerpräsident regiere faktisch mit einer Minderheitsregierung, denn er könne sich auf die Volkspartei nicht mehr verlassen. Diese beeilte sich, Dombrovskis’ Sicht zu unterstützenTrotzdem diskutierne Volkspartei und Neue Zeit innerparteiliche über die beste Taktik für die verbliebenen Monate vor der Wahl, worüber Wahrheiten und Gerüchte an die Presse lanciert gelangen.

Immer noch nicht verschwunden ist derweil das Zeltstädtchen (telšu pilsētiņa) vor der Staatskanzlei. Begonnen hatte dies mit dem Protest gegen die steigende Arbeitslosigkeit eines Mannes aus Valmiera, zu dem sich schließlich weitere Demonstranten gesellten. Die Stadtverwaltung reagiert zurückhaltend, der Protest wird akzeptiert, sogar Ministerpräsident Valdis Dombrovskis hat die Demonstranten bereits besucht.

Derweil haben andere Einwohner Lettlands andere Probleme. Nach Auseinandersetzungen mit ihren Freundinnen haben es zwei junge Männer unabhängig von einander geschafft, ihre Wagen in der Ostsee zu versenken. Einer von ihnen wollte offensichtlich Selbstmord begehen, dem anderen brach der Wagen unbeabsichtigt ins Eis. Es ist so kalt in Lettland, daß die Ostsee an der Küste und damit ein guter Teil der Rigaer Bucht zugefroren ist.

Wie verdient ist eine Rente in Lettland?

Im von der Wirtschaftskrise stark getroffenen Lettland kam auf Druck von Präsident Valdis Zatlers zu Jahresbeginn 2009 ein neuer Regierungschef an die Macht, der erst 37jährige Valdis Dombrovskis von der damals oppositionellen Neuen Zeit. Ihm standen zahlreiche unangenehme Wahrheiten und politische Aufgaben bevor.

Um die Ausgaben des Staates zu senken, wurde kurz nach Amtsantritt im Rahmen der Verhandlungen mit dem Weltwährungsfond und anderen Kreditgebern im Frühjahr unter anderem beschlossen, die Renten um zehn Prozent zu kürzen und jenen Rentnern, die neben ihrem Rentenbezug arbeiten und somit ein weiteres Einkommen beziehen, sogar 70% der Alterseinkünfte zu streichen.

Diese Maßnahme war insofern einschneidend, als arbeitende Rentner wegen der geringen Renten in Lettland keine Seltenheit sind. Typischerweise arbeiten sie dort, wo mehr Anwesenheit als Tätigkeit gefordert sind, etwa als Nachtwächter oder Garderobiere oder auch in Positionen, die in westeuropäischen Staaten entweder automatisiert oder generell nicht vorgesehen sind. Dazu gehört etwa das Kassieren in einer öffentlichen Toilette oder der Empfang in einem Studentenwohnheim, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Diese Kürzung erwies sich als so hoch, daß es sich für die alten Herrschaften nicht mehr lohnte, welche sich ihr Budget etwas aufbesserten. So tauchten im Sommer 2009 in den genannten Positionen plötzlich ungewohnt junge Gesichter auf.

Etwa 9.000 Rentner klagten Gegen jedoch gegen den Beschluß der Regierung vor dem Verfassungsgericht, dessen ehemaliger Präsident, Aivars Endziņš, in einem Radiointerview im Herbst erinnerte, das Gericht habe sich bereits früher mit Rentenfragen beschäftigt und sei auch damals zu dem Schluß gekommen sei, daß derartige Einschnitte nicht verfassungskonform sind. Die Rentner hätten für ihr Altersruhegeld einbezahlt und ein Recht auf diese Zahlung. Er prognostizierte auch in diesem Fall ein Urteil, welches die Ansprüche der Ruheständler bestätigt.

Die innenpolitisch und international unter Druck stehende Regierung würde über einen solchen Richterspruch verständlicherweise wenig erfreut sein. Trotzdem handelte das Verfassungsgericht wie von seinem ehemaligen Präsidenten prognostiziert. Dombrovskis Parteifreund und Parteigründer, Einars Repše, erklärte in seiner Funktion als Finanzminister dieses Urteil für unverantwortlich. Dombrovskis tat sich im Radio schwer mit einer Erklärung für die Äußerungen seines Kabinettmitglieds. Er schob es auf eine Bewertung der Haushaltslage und betonte seinerseits, die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils sei keine Frage, einzig bezüglich der Finanzierung bestünde Entscheidungsbedarf. Der Regierungschef sagte, man werde nun mit den internationalen Geldgebern darüber sprechen müssen. Diese hätten ein Defizit von bis zu 8,5% erlaubt, wovon Lettland bislang nur 7,5 ausgeschöpft habe. Die Rentner möchten nunmehr wissen, ab wann sie ihr Altersruhegeld wieder werden im vollen Umfang beziehen können und wann der Staat seine Schulden für die vergangenen Monate begleicht. Dombrovskis erklärte, ab März würden die Rente wohl wieder ausbezahlt, doch 100 Millionen Lat, etwa 150 Millionen Euro, Schulden für die Monate seit dem 1. Juli könnten nicht in einer Woche ausbezahlt werden. Das Sozialministerium spricht von einem Zeitraum sogar bis zu zwei Jahren.

Obwohl das Urteil des Verfassungsgerichts eine herbe Niederlage für die Regierung ist und vor allem auch für die Partei des Regierungschefs, die Neue Zeit, welche schließlich auch das Finanzministerium besetzt, sind ganz andere Themen in Lettland Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit. Unablässig bereits seit Amtsantritt von Dombrovskis wird über die Stabilität der Regierung gesprochen. Die Frage der verfassungswidrigen Rentenkürzungen spielt überraschenderweise überhaupt keine Rolle. MdEP und Vorsitzender des kleineren Koalitionspartner Für Vaterland und Freiheit, Roberts Zīle, stellt sich als Wirtschaftsexperte auf den Standpunkt, den Kreditgebern müsse nun erklärt werden, woher das Problem der Mehrausgaben rühre und bezweifelt, daß ein Rücktritt der Regierung gegenwärtig Sinn macht, Wer sollte an deren Stelle treten, fragt er rhetorisch.

Nichtsdestotrotz hat ein halbes Jahr Gesetzeskraft einer verfassungswidrigen Regel Fakten geschaffen. Werden die früher werktätigen Rentner an ihre Arbeitsstellen zurückkehren wollen und können?

8. Januar 2010

Ballast fürs Neue (Wahl)Jahr

Nicht alle Eindrücke des vegangenen Herbstes verschwinden einfach unter der weißen Schneedecke. Gewiß, Trolleybusse fahren in Riga noch. Trotzdem ist die Krise überall zu spüren, es sind weniger Menschen auf den Straßen und in den Geschäften. Gerade auch auf dem Land haben die Menschen teilweise im Gegensatz zu schon früher im Vergleich mit dem Westen kleinen Einkommen inzwischen so gering, daß die Betroffenen hungern müßten, hätte nicht eigentlich jeder das Nötigste im Garten. Inzwischen werden tatsächlich auch Lebensmittelspenden gesammelt.

Dies ist gewiß ein Grund dafür, warum kürzlich Ministerpräsident Dombrovskis auf die Idee kam, es würde genügen, zwei Drittel der mit dem Internationalen Währungsfond vereinbarten Haushaltskürzungen vorzunehmen. Finanzminister Kampars äußerte ebenfalls die Ansicht, daß man an den Grenzen des Möglichen sei bei 17% Arbeitslosigkeit und einer Schrumpfung des Bruttoinlandproduktes um 18%. Die Rigaer Vorstellungen führte zu einem heftigen Schlagabtausch mit dem schwedischen Finanzminister Anders Borg, dem Regierungschef Frederik Reinfeldt und EU-Wirtschaftskommissar Jaoquín Almunia beisprangen, Lettland müsse die Vereinbarungen einhalten. Dombrovskis beschwerte sich über den aggressiven Ton Borgs und machte einen Rückzieher.

Dombrovskis Idee war, die zahlungsunfähigen Kreditnehmer sollten zukünftig nur noch mit dem Marktwert einer einmal zum Höhepunkt der Immobilienblase erworbenen Eigentum haften müssen. Die Immobilienpreise sind derweil um 70% gefallen, 13 % aller Kredite wurden bereits im Sommer nicht mehr korrekt bedient. 85% der Haushalte sind in Devisen verschuldet. Dombrovskis Begründung, die skandinavischen Banken hätten erst durch ihre Kreditvergabepolitik die Blase überhaupt erst möglich gemacht. Die Regierung habe nach Ansicht des Politologen Daunis Auers auch zeigen wollen, daß sie sich nicht von Ausländern treiben läßt.

Der Finanzminister harre im Oktober nach einem ersten Versuch im Juni erneut versucht, mit Staatsobligationen am Finanzmarkt neue Gelder zu bekommen, doch erneut gab es überhaupt keinen Interessenten. Lettland hat bereits 7,5 Milliarden Euro erhalten, während der Credit Default Swaps um 70 Punkte auf 521 stieg (zum Vergleich: Österreich 62). Die Einführung einer Steuer auf Immobilien wurde inzwischen beschlossen, die Progression der Einkommenssteuer hingegen abgelehnt. Kritiker meinen, daß so einstweilen gerade die ärmere Schichte der Bevölkerung bluten müsse, während die Vermögenden anteilmäßig viel weniger beitragen müßten. Die Immobiliensteuer fürchten viele einfache Menschen, die in ihrem Eigentum leben und nicht wissen, wovon sie noch eine Steuer begleichen sollen.

Politisch ist in Lettland Stillstand eingetreten, weil de facto die Regierung keine eigene Politik mehr verwirklichen kann, sondern nolens volens zum Erfüllungsgehilfen der Gläubiger geworden ist. Ein Jahr vor den regulären Wahlen wird der Präsident kaum mehr die Parlamentsauflösung anregen. Dies durch ein Referendum der kürzlichen Verfassungsänderung folgend zu bewerkstelligen ist nach juristischem Usus erst für das nächste Parlament möglich.

Bleibt den Politikern nur, sich für diesen Urnengang in Stellung zu bringen. Die Volkspartei muß angesichts ihrer extreme schlechten Umfrage werte befürchten, daß sie in das nächste Parlament nicht einzieht. Deshalb meldet sich Andris Šķēle zurück mit der Ankündigung, er werde antreten und sei bereit, das Amt der Ministerpräsidenten zum vierten Mal zu übernehmen. Eine seiner frühesten Wegegleiterinnen, die Exil-Lettin Vaira Paegle verließ daraufhin die Partei. Der Vorsitzende, Justizminister Mareks Segliņš, erklärte hingegen sofort seine Bereitschaft, auf einem kurzfristig anberaumten Parteitag die Führung abzutreten. Nun regierte die Union aus Grünen und Bauern, daß sie gegebenenfalls dann ihre graue Eminenz, den Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lemberg, mit dem Slogan Saimnieks nāk kārtot valsti portieren werde.

Nichtsdestotrotz geschehen weiterhin in Lettland andere Überraschungen. So verließen plötzlich zahlreiche bekannte Journalisten, darunter die Chefredakteurin, die Zeitung Diena. Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft hatte öffentlich erklärt, daß nunmehr der britische Finanzinvestor Rowland Eigentümer des Blattes sei. Der seit Juli amtierende neue Chef, Aleksanders Tralsmaks, hatte bereits vorher eine neue Unternehmenspolitik eingeschlagen, dessen erklärtes Ziel es sei, mit der Zeitung Geld zu verdienen. Die Journalisten sahen unter diesen Umständen keine Möglichkeit mehr für die Aufrechterhaltung eines unabhängigen Journalismus.

Doch Kommentatoren sind der Ansicht, daß der Untergang der Zeitung als liberales Sprachrohr bereits früher begonnen hat. Die als Organ der neuen Volksfrontregierung 1990 gegründete Zeitung war 1992 privatisiert worden und unterstütze lange Lettlands Weg und später auch den Gründer der Volkspartei, Andris Šķēle. Erst als dieser während seiner beiden ersten Regierungen das vertrauen von Bevölkerung und journalistischen Beobachtern verspielt hatte, wendete sich die Politik der Zeitung. Damit stand die Redaktion erstmalig vor dem Problem, nicht mehr die Befürworterin der Regierungspolitik zu sein.

Aber nicht nur der Abgang an sich ist dramatisch, sondern die ultimative Forderung des Eigentümers an die Chefredakteurin Nelija Ločmele etwa, die Büroräume unverzüglich zu Räumen und keinerlei Kontakt zu den anderen Mitarbeitern aufzunehmen, um etwa eine Erklärung abzugeben.

Undurchsichtige Ereignisse bleiben aber auch in staatlichen Organen keine Seltenheit. Just am Tag der Bundestagswahl wurde bekannt, daß es Zweifel an der lettischen Staatsbürgerschaft beim Vorsitzenden des Obersten Gerichtes, Ivars Bičkovičs gibt. Er stammt offenbar von polnischen Einwanderern ab, die in der Zwischenkriegszeit auf der Such nach Arbeit eingewandert waren. Von der zuständigen Behörde war zu hören, daß dieselben Zweifel bereits angemeldet wurden, als Bičkovičs den lettischen Paß nach der Unabhängigkeit beantragt hatte. Einen Monat später gab nun aber die mit der Untersuchung des Falles beauftragte Generalstaatsanwaltschaft bekannt, die Staatsbürgerschaft habe der Vorsitzende des Obersten gerichtes rechtmäßig erlangt.

Von aller Krise und Ungereimtheiten sorgte der zweite Mobilfunkanbieter in Lettland, Tele2, für ein wenig Ablenkung. Ende Oktober gab es eine Meldung in der Presse, nahe Mazsalaca im Norden des Landes sei ein Meteorit eingeschlagen. Die Angaben über Größe und Tiefe wichen sehr stark voneinander ab. Polizei, Feuerwehr und Experten wurden in den Einsatz geschickt, die schnell erkannten, daß es sich in Wahrheit um eine Grube handelt, die mit Spaten und sogar ohne Bagger gegraben worden war. Gleich am folgenden Tag räumte Tele2 ein, es handele sich um einen Reklamegag. Der ist dem Unternehmen gelungen, es war in aller Munde – nicht nur in Lettland.

Innenministerin Linda Mūrniece erzürnte sich erneut und drohte mit juristischen Konsequenzen. Die Polizei jedoch wiegelte ab, daß man keine juristische Person ins Gefängnis stecken könne, die Firma die Einsatzkräfte nicht gerufen habe und der Anrufer jede Verbindung zu Tele2 leugnen werde. Tele2 wiederum erklärte, für alle angefallenen Kosten aufzukommen. Während viele Beobachter bedauern, daß Lettland erneut mit Unsinn eher negative für Schlagzeilen sorgt, räumen Marketingspezialisten ein, daß der Mobilfunkanbieter nun für rund 30.000 Euro die Publicity bekommen habe, die mit anderen Mitteln das Zehnfache koste.