13. April 2011

Ein wahrer Tag der Arbeit

auf einer Baustelle in Riga
Aus unterschiedlicher Perspektive wartet die Arbeitswelt gespannt auf den 1.Mai 2011. Dann fallen die Beschränkungen für den Arbeitsmarkt, die sich unter anderem Deutschland beim Beitritt der neuen EU-Mitglieder 2004 gesichert hatte.

Flammendes Zeichen
Offenbar in keinem direkten Zusammenhang dazu steht die versuchte Selbstverbrennung einer Lettin vor dem Berliner Reichstag am vergangenen Samstag (siehe WELT, MORGENPOST, STERN, RP-online). Allerdings zeigen die lettischen Reaktionen darauf, dass in Lettland viele sich einer wirklichen Protestaktion anschließen würden - wenn Sie denn ernst gemeint und ernst zu nehmen wäre.In den lettischen Medien werden Äußerungen des lettischen Botschafters Klava zitiert, die Frau sei bereits in Lettland in psychologischer Behandlung gewesen und habe bereits einen Selbstmordversuch hinter sich gehabt. Botschaftsangehörige hätten die Frau im Krankenhaus besucht um sie zu fragen, was ihrer Meinung nach weiter geschehen solle (Tvnet). Der Botschaft war die Frau bekannt: schon 2010 soll sie um Schutz angefragt, da sie angeblich in Lettland mit dem Tode bedroht würde. Damals schickten die Verwandten Geld für die Rückreise.

Kommentare in lettischen Internetportalen zeigen durchaus Sympathie gegenüber öffentlich inszeniertem Protest. Allerdings schwankt die Stimmung irgendwo zwischen Durchhalteparolen und Zynismus, und klingt weniger nach Solidarität unter gleichsam Betroffenen. Die einen bezeichnen die Berliner Tat als "Akt einer Patriotin, die darauf hinweisen wollte was mit Lettland geschieht", andere lästern "hat denn die Grasbrennsaison schon begonnen?" TVnet (jedes Jahr gibt es in Lettland regelmäßig Feuerunfälle aufgrund der Tradition altes Gras des vergangenen Jahres großflächig abzubrennen).

Lettische Stimmungslage
skeptischer Blick: wie wird es weitergehen
mit dem lettischen Arbeitsmarkt?
Die Frau, die sich da selbst zu verbrennen versuchte, hatte wohl die optimistischen Prognosen unseres Regierungschefs Dombrovskis noch nicht vernommen, kommentiert Sandris Točs in der Zeitung DIENA. Točs konstatiert "Kommunikationsprobleme" zwischen Regierenden und Regierten: viele verlassen seiner Meinung nach das Land, weil sie nicht weiter im Namen des Staates leiden wollen. "Normal leben" sei der schlichte Wunsch unter Lettinnen und Letten. Während die Regierung die Wünsche der internationalen Kreditgeber zu erfüllen versuche, wanderten die qualifizierten Arbeitskräfte in großer Zahl wegen des niedrigen Lebensstandards in Lettland aus.

Sind also in Deutschland massenhafte Anfragen von lettischen Arbeitssuchenden zu erwarten? 
Eher nein, meint  Kristaps Kārkliņš in der Neatkarīga (NRA). Zwar habe der deutsche Arbeitsmarkt nicht nur Bedarf an Spargelstechern, sondern auch an speziell ausgebildeten Technikern, Mathematikern, IT-Spezialisten und Naturwissenschaftlern. Aber bisher sind vor allem Deutschkenntnisse in Lettland wenig verbreitet, um wettbewerbsfähig zu sein. Selbst um einen Hilfsarbeiterjob auf dem Bau bewältigen zu können, müsse man doch wenigstens Gespräche in Deutsch führen können. Die zuständigen lettischen Behörden werden nicht müde zu betonen, dass trotz erweiterten Arbeitsmöglichkeiten in der EU alle, die nicht ihren ständigen Wohnsitz ins Ausland verlegen, in Lettland weiterhin steuerpflichtig bleiben. Laut amtlichen Regeln wird spätestens bei denjenigen nachgefragt, die sich innerhalb einer Periode von 12 Monaten weniger als 183 Tage in Lettland aufhalten, und es werden harte Geldstrafen angekündigt.
Da fallen auch die Zahlen ins Auge, die zu bei ihren Schulen als abwesend gemeldeten Schulkindern in dieser Woche in der lettischen Presse nachzulesen waren. Im laufenden lettischen Schuljahr sind 11.327 Schüler nicht mehr zur Schule erschienen (siehe IR). In dieser Statistik sind laut Aussagen lettischer Behörden auch solche Kinder zwischen 7 und 18 Jahren erfasst, die schulplichtig sind aber noch an keiner Schule registriert wurden. 5.646 dieser Kinder sind offiziell als ins Ausland verzogen gemeldet, aber zu 4.484 Kinder haben die Ortsverwaltungen keinerlei Hinweise (der Rest sucht die Schule wegen anderer Gründe nicht auf). Hier könnten also auch Hinweise zu finden sein, dass noch eine größere Zahl Eltern allenfalls vorläufige Lösungen zwischen Jobs im Ausland und der Sehnsucht nach zu Hause gefunden haben. Unter anderen diese Fragen möchte man ja mit der gegenwärtig laufenden Volkszählung auch aufklären.

Deutsche Erwartungen
Und wie sieht es aus deutscher Sicht aus? Hier stehen naturgemäß eher die Arbeitssuchenden aus den bevölkerungsreicheren Ländern im Vordergrund. 300.000 arbeitssuchende Polen prophezeiht der polnische Botschafter - der ausgerechnet mit Nachnamen "Prawda" heißt - Deutschland in den nächsten vier Jahren im Tagesspiegel. In Ostdeutschland vermutet man (vielleicht zurecht), dass andere Regionen in Deutschland für Zuwanderer attraktiver seien. So meldet etwa die Agentur für Arbeit in Halle und Anhalt/Bitterfeld 450 offene Stellen auf 4.800 arbeitslos Gemeldete. Arbeitsagenturen im Süden Deutschlands sehen es mit etwas anderer Stimmungslage. Nürnberg befürchtet "sozialen Sprengstoff" (Nürnberger Zeitung).
Dem gegenüber benennt das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln laut Süddeutscher Zeitung 117.000 offene Stellen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, die gegenwärtig nicht besetzt werden könnten. Auch die Pflegebranche meldet einen Bedarf von 20.000 Fachkräften. 
In der Südwest-Presse warnt SPD-Politikerin Steinruck vor Dumpinglöhnen und der Notwendigkeit eines Mindestlohnes für Zeitarbeiter (Leiharbeiter). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Einbahnstraße sei: bereits im Jahr 2009 sind 140.000 Deutsche nach Polen übergesiedelt. 
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert seinerseits Bund und Länder auf, ein Sieben-Punkte-Programm zur Sicherstellung von "gleichem Lohn für gleiche Arbeit" umzusetzen. Dazu zählt nach DGB-Ansicht ein Mindestlohn von 8.50 Euro, stärkere Kontrollen als Vorsorge gegen Schwarzarbeit, ein Vorgehen gegen Mißbrauch durch Scheinselbständigkeit, und ein Verbot von Streikbrucharbeit. Auch ein Wirtschaftsmagazin des Westdeutschen Rundfunks sieht "Lohndruck aus Osteuropa".
immer höher hinaus - das war die Devise
in Lettland vor der Wirtschaftskrise
Aus Norwegen (kein EU-Land) ist zu vernehmen, dass es dort einen Fall von "Billig-Piloten" aus Estland gegeben hat (die Presse) - wir lernen, dass es auch bei Piloten Leiharbeiter geben kann. Die Frankfurter Neue Presse geht dagegen offenbar davon aus, dass die neue Arbeitsnehmerfreiheit vornehmlich denen zu gute kommt, die ihre (osteuropäische) Putzfrau "legalisieren" wollen. Dass auch die Schweiz das Thema schon erfasst hat (ebenfalls kein EU-Land), zeigt nicht nur der Beitrag in der Basler Zeitung, sondern auch die folgenden hitzigen Kommentare der Leser/innen.

Schon Ende März waren in der lettischen Presse Zahlen nachzulesen, worauf sich die Nachfrage von am deutschen Arbeitsmarkt interessierten lettischen Arbeitssuchenden am meisten richtet (siehe Financenet, Apollo.lv). Demnach fragten 33,7% Arbeit in der Landwirtschaft nach, 14,5% im Gesundheitswesen, 11% in der Industrie, 8.1% im Hotel- und Gaststättengewerbe und 5,8% im Transportwesen.

Es sind wohl keine Freudenfeiern am 1.Mai zu erwarten - wie es mehrheitlich in Lettland noch am 1.5.2004 der Fall war. Aber der Einstellung "es ist eh nichts zu ändern", die vielfach von lettischer Seite zu vernehmen ist, kann auch nicht zugestimmt werden. Erstens war es auch der Energie und Entschlossenheit der Menschen der Unabhängigkeitsbewegung in Lettland zu verdanken, dass Europa heute soweit schon aufeinander zugewachsen ist wie es der Fall ist - trotz aller bedenklichen Tendenzen im Finanzsystem und bei selbstsüchtigen Politiker/innen. Nun wäre es an der Zeit, die Möglichkeiten eines demokratischen Systems auch einzufordern und wahrzunehmen - allerdings ist das nicht gleichzusetzen mit einem bequemen Weg ins Konsumparadies. Mitbestimmung, demokratische Rechte und gleiche Chancen stehen zwar genügend aufgeschrieben in den Verfassungs- und Gesetzestexten, aber es liegt an den Bürgerinnen und Bürgern, in wie weit sie auch tatsächlich umgesetzt werden und wie ein gemeinsames Europa in Zukunft gestaltet werden kann. 

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