28. Mai 2011

Langstreckenlauf des Hoffnungsträgers

Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs, wenige Tage vor dem Unglücks-
fall: lässig, volksnah, selbstbewusst, fließend mehrsprachig -
war der Arbeitsstress doch nur geschickt verdeckt? (Foto: Caspari)
Seine Partei hat nach wie vor heftige Gegner und engagierte Unterstützer, aber er selbst hatte es längst geschafft, der beliebteste Bürgermeister Rigas seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit zu werden. Dies meldeten jedenfalls lettische Medien aller politischer Richtungen. Am vergangenen Sonntag brach Nils Ušakovs als Teilnehmer des "Riga-Marathon" (in diesem Fall der Halbstreckendistanz) kurz vor dem Zieleinlauf bewußtslos zusammen. Inzwischen wird er in einer Berliner Spezialklinik weiterbehandelt - als Ursachen werden neben einem vermutlichen Hitzschlag auch Vergiftungserscheinungen genannt. 

Jahr für Jahr mehr "Volksfest" und Teilnehmer/innen aller
Altersklassen - froh gestimmt auch noch nach dem Lauf,
so das bisher gewohnte Bild am lettischen Marathon-Maisonntag.
Politisch absolviert Ušakovs schon länger seinen ganz persönlichen Langstreckenlauf. Jedes Jahr im Mai wird das besonders offensichtlich. Am Vortag zum 1.Mai der "Talka-Tag" (Freiwilliger Einsatz, meist zum Saubermachen in Stadt, Land oder Natur), dann folgen der 1.Mai (eigentlich Tag der Arbeit, diesmal Startschuss für den Wegfall der Arbeitsmarktbeschränkungen für Letten in Deutschland), der 4.Mai (Tag der Verkündigung der lettischen Unabhängigkeit 1990), der 8.Mai (In Westeuropa als Kriegsende gefeiert - Lettland ehrt an diesem Tag seine insgesamt im Krieg Gefallenen, Europatag, zudem wie in diesem Jahr auch noch "Muttertag"). Dann der 9.Mai - für Letten die Fortführung des zwangsweisen Abfeierns sowjetsozialistischer Heldentaten unter konsequentem Verschweigen der gleichzeitig begangenen Verbrechen, für lettische Russen inzwischen nahezu der einzige Tag des Jahres, sich unter seinesgleichen frei von Etikette, political correctness oder lettisierten Regelungen mal ganz als Russe zu benehmen (im positiv gemeinten Sinne - aber durchaus auch unter Verwendung provozierend gemeinter Symbole der Sowjetzeit). Ušakovs war überall dabei - und dazu kommen natürlich die üblichen Termine, von der Eröffnung von Jugendzentren bis hin zu Ausstellungseröffnungen und Terminen mit ausländischen Delegationen.

Der Riga-Marathon - hier ein Foto aus dem Jahr 2009 - bisher
immer ein Ereignis zwischen Sport, Karneval und
Familienfest - diesmal mit anderen Schlagzeilen
Dazu kommen noch Ušakovs' ganz persönliche "Projekte", die auch eher langstreckenartig angelegt sind, aber viel schwieriger umzusetzen. Da wäre zum Beispiel sein Bemühen, andere Sprachregelungen zu finden im Umgang zwischen Letten und Russen. Statt von "Okkupation" und "Okkupanten" zu reden - letzteres ein Wort, mit dessen Hilfe radikale lettische Nationalisten gern jeden noch so jungen Russen dauerhaft beschimpfen - redet Ušakovs lieber von "unrechtmäßiger Besetzung Lettlands und zwangsweiser Eingliederung in die Sowjetunion". Für Lettland-Unkundige vielleicht kein Unterschied. Aber wer im politischen Alltag nicht nicht nur als eindeutiger Vertreter bestimmter Interessen identifiziert werden möchte, sondern zwischen verschiedenen Gruppen und Sichtweisen vermitteln möchte - ohne dabei das Große und Ganze kaputtzuschlagen - der hat es in Lettland nicht leicht. Einen kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte zu pflegen, darin sind bisher weder Letten noch Russen stark. Und gerade läuft wieder eine vom nationalen Block des lettischen Parteienspektrums losgetretene Kampagne, der Staat möge bitte nur noch diejenigen Schulen finanzieren, in denen ausschließlich Lettisch gesprochen und gelehrt wird. Na, gratuliere, Lettland! Mag man geneigt sein, auszurufen, und ich hörte auch schon Meinungen von lettischer Seite, diese ganze Geschichte sei vielleicht von interessierter Seite in Russland initiiert, um radikale "Gegenmaßnahmen" in der russischsprachigen Öffentlichkeit leichter gerechtfertigt zu bekommen. Dazwischen steht ein gebürtiger lettischsprachiger Russe als Bürgermeister und muss diese Kleinkriege überleben - nicht nur politisch.

Inzwischen liegt der Rigaer Bürgermeister also, in künstlichen Tiefschlaf versetzt, in der Berliner Charité. Ušakovs verbrachte bisher auch schon mehrfach Urlaubstage in Deutschland - auch "Berliner Luft" kann ja gut tun. Momentan läuft eine Spendenaktion in vielen lettischen Medien, um die zu erwartende teure Spezialbehandlung in der Berliner Charite finanzieren zu helfen - so wird "Spenden per SMS" plötzlich populär und zur einfachen Methode, sein Mitgefühl und seine Unterstützung zu zeigen. Die Kosten der laufenden Spezialbehandlung werden in den lettischen Medien auf mehrere Hunderttausend Euro geschätzt - während die deutschen Ärzte die bereits früher von den lettischen Kolleg/innen getätigten Diagnosen auf schwere Leber- und Nierenbelastungen bestätigten.

Am 8.Juni wird Nils Ušakovs (Nil Walerjewitsch Uschakow) Geburtstag feiern - hoffentlich wird er sich wie neugeboren (oder ähnlich) fühlen dürfen.


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