19. Oktober 2011

Rote Linien

Das Maximum des Parteiprogramms in konkrete Politik umsetzen - das mag vielleicht ein Leitgedanke vieler Politikerinnen und Politiker in Europa sein, die als Folge von mehr oder weniger erfolgreichem Werben um Wählerstimmen am Ende ihre Mandate zusammenzählen und sich überlegen, in eine Regierung einzutreten oder nicht. Anders in Lettland: hier scheinen die konkreten Zahlen von errungenen repräsentativen Mandaten und die sich daraus ergebenden Machtverhältnisse und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Parteien immer aufs Neue alle völlig zu überraschen.
Nachdem wir das demokratische Experiment, ein ganzes Parlament einfach mal so per Volksabstimmung zu entlassen, nun hinter uns haben muss die Frage erlaubt sein, ob die politische Praxis oder die Arbeit des Parlaments sich nun verbessert hat. Aber die zurückliegenden Koalitionsverhandlungen mit dem Ergebnis, dass Präsident Bērziņš Valdis Dombrovskis heute mit der Regierungsbildung beauftragte, zeigen wohl vor allem eines: die individuelle Lust, vermeindlichen Gegnern und Andersdenkenden einen Erfolg gezielt zu verderben ist wesentlich ausgeprägter als die Genugtuung, gemeinsam mit anderen etwas zu erreichen was vielleicht (mit weniger öffentlicher Aufmerksamkeit) nur einen ersten Schritt auf dem richten Weg darstellen könnte.

Ein Volk von Tugendwächtern
Vieles von dem, was in Lettland an Meinungen und Stellungnahmen zur politischen Situation in diesen Tagen zu lesen und zu hören ist, klingt fast wie in alten "Gutsherren-Tagen" - nur mit umgekehrten Vorzeichen. Der allein bestimmende Gutsherr (das Volk) entließ alle seine hohen Angestellten auf einen Schlag, gab vermeintlich neuen Nachwuchskräften eine Chance, meint aber gleichzeitig das Recht zu haben schon mit der Peitsche in der Hand hinter der Scheune zu warten, falls diese auch nur eine Handlung unternehmen die nicht in seinem Sinne ist.Und diese neuen Angestellten selbst - im vollen Bewußtsein darüber, dass jemand mit der Peitsche drohen könnte - tun alles um sich selbst als die besten, ehrlichsten und tugendhaftesten Interessenvertreter darzustellen, im Gegensatz natürlich zu allen anderen Kolleginnen und Kollegen.
Welche Rahmenbedingungen sind es die verursacht haben, dass so wenig Vertrauen besteht in einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessengruppen in Lettland? Warum meinen einzelne Politiker, durch kurzfristig Schlagzeilen machende Aktionen dem Interesse des eigenen Landes mehr dienen zu können als durch ein offenes Ohr für Interessen anderer, die dann schrittweise gemeinsam erreicht werden könnten?
Eines wurde aber vor allem weit verfehlt: diejenigen, die im Bewußtsein endlich auch mal mitbestimmen zu können das alte Parlament entlassen haben beobachten mit Grausen, wie dieser mögliche Gewinn an demokratischem Bewußtsein von vielen der neuen Amtsträger wieder diskreditiert wird.

Es geht jedenfalls um mehr als nur um das international so viel diskutierte Recht von russischstämmigen Letten (denn um Russen geht es hier ausdrücklich NICHT) auf Mitbestimmung der Geschicke des Landes. Im Vergleich zu den Verhandlungen nach den Wahlen im Oktober 2010 wurden jetzt erheblich mehr Zwischenergebnisse von Gesprächsthemen öffentlich, aus denen durchaus der Wille erkenntlich war Beweglichkeit zu zeigen, den Spielraum eigener Einstellungen zu erweitern und gemeinsame Positionen mit anderen zu suchen. Die Spiegelung dieser verschiedenen Handlungsoptionen in der lettischen Öffentlichkeit zeigt aber, dass viele den politischen Akteuren lieber keinen Handlungsspielraum zubilligen möchten. Ein Mißverständnis der Vorstellungen von "direkter Demokratie"? Möge meine persönliche politische Grundüberzeugung möglichst direkt von den Politikern umgesetzt werden, scheinen sich die meisten zu wünschen - und dabei viel mehr Lust zu empfinden an vermeintlichen Gegensätzen zu anderen, statt das Maß an möglichen Gemeinsamkeiten möglichst offen und ehrlich bei allen demokratisch denkenden Kräften wirklich auszuloten. Es wird diskutiert, als wäre die Frage "Was ist Demokratie?" in den vergangenen 20 Jahren noch unbeantwortet geblieben, und als sie eng verknüpft mit der anderen Frage: "Gibt es Demokratie überhaupt, und wenn ja, was nützt sie mir?"

Vergebene Chancen
Vorerst bleibt nur, ein wenig den Scherbenhaufen zusammenzukehren, der bereits angerichtet worden ist. Das gegenwärtige Hin und Her bei der Regierungsbildung hat genug Bemerkenswertes gebracht, um es zumindest in Erinnerung zu behalten, je nach dem wie die weitere Entwicklung in Lettland läuft. Einige Eindrücke, der Reihe nach.

Saskaņas Centrs und die Karte Ušakovs
Die Verhandlungen zur Beteiligung der Partei mit den meisten Wählerstimmen (28,4%) bezüglich einer Beteiligung an der lettischen Regierung waren diesmal so ernsthaft wie nie zuvor. Zwar endete alles im bloßen Konjunktiv, aber einiges deutete sich an, was besonders der auf seine Popularität als Riger Bürgermeister setztende Nils Ušakovs mit in die Waagschale zu geben bereit war:
- eine Koalitionsvereinbarung nur durch die Partei "Saskaņa", also ohne die lettischen Sozialistische Partei - die nur Teil der gemeinsamen Liste Saskaņas Centrs (SC) ist - wäre möglich gewesen (von den 31 neu gewählten Abgeordneten der SC sind nur drei Sozialisten). Damit wäre Alfred Rubiks, einer der erklärtesten Gegner eines unabhängigen Lettland - denn mit seinem Beharren auf dem sowjetischen als dem besseren System wird er als solcher in Lettland angesehen - außen vor geblieben und seine extremen Positionen könnten nicht mehr mit der Politik der "Saskaņa" identifiziert werden. Kaum begannen derartige Verhandlungspositionen in der lettischen Presse durchzusickern, beeilte sich Rubiks gegenüber der russischen Presse (sic!) von Ušakovs zu distanzieren.
- Ušakovs hatte kurz vor den Wahlen, anläßlich eines (englischsprachig durchgeführten) Diplomatenemfpangs, erstmals von einer "Okkupation Lettlands" gesprochen. Auch das wurde als Schritt in Richtung einer Kompromißbereitschaft in Richtung lettisch-orientierter Parteien gewertet, denn diese hatten eine Anerkennung des ihrer Meinung nach "historischen Faktums" der Okkupation Lettlands zwischen 1940 und 1990 als Vorbedingung für jegliche Zusammenarbeit genannt. Auch wären dann Ewig-Getrige wie Rubiks im Abseits verblieben, nach dessen Ansicht "die sowjetische Armee 1940 auf Bitten der lettischen Regierung" einmarschierte.
- bei den Gesprächen zwischen dem SC-Tandem Ušakovs/ Urbanovics und der Zatlers Partei bzw. Vienotība hatte es kaum inhaltliche / sachliche Differenzen gegeben. Die SC hatte lediglich auf ihrer Rentenkonzeption als eines ihrer Schwerpunktthemen bestanden, aber war bereit Dombrovskis als Ministerpräsident und eine Fortsetzung der strikten Finanzpolitik (für die Dombrovskis steht) mitzutragen.

Zatlers und die doppelte Zurückweisung
Kurz nach den Wahlen konnte sich Ex-Präsident Valdis Zatlers noch als Wahlsieger fühlen: alle "Oligarchen-Parteien" abgestraft, er selbst ging als Verhandlungsführer aller denkbaren Koalitionsvarianten in die Gespräche. Nun bleibt ihm gar nichts. Vielleicht ist ihm noch abzunehmen ernsthaft versucht zu haben einen konstruktiven Weg abseits eingeretener Pfade und Sackgassen finden zu wollen. Aber ein Zwischenergebnis der Gespräche mit dem Satz "davon bringen uns nur noch Panzer ab" zu charakterisieren und sich damit angreifbar zu machen, erinnert wieder an die Zeit als etwas unbeholfen und etwas hölzern agierender, mäßig populärer, durch undurchsichtige Parteiabsprachen ins Amt gekommener Präsident. Überrascht von den Protestaktionen des lettischen Elektorats schwenkte er dann doch auf die "nationale Seite" um und spaltete durch diese Vorgehensweise seine gerade erst frisch gegründete Partei.
Die Jung-Nationalisten dagegen, denen sowohl die auf offener Bühne erfolgende Diskreditierung des alten Parlaments, die Möglichkeit von dessen Entlassung im Rahmen einer "Volksbewegung", wie auch die Stimmung gegen die "Oligarchen-Parteien" viel Wasser auf die eigenen Mühlen gab und die ihre Kandidaten sämtlich in weißen Westen gekleidet präsentierten, sehen das öffentliche Hochjubeln und Niederschreiben sicherlich mit Befriedigung - ein demokratischer Held war Zatlers nicht. Zatlers dagegen saß am 17.Oktober fast an denselbem Platz im Parlament wie am 2.Juni - und erlebte zum vierten Male seine Nicht-Wahl (Bērziņš wurde im 2.Wahlgang mit 53 Stimmen gewählt, gegen 41 Stimmen für Zatlers). Die nun ins Auge gefasste Koalition war bei der ersten Sitzung des neuen Parlaments nicht in der Lage, mit ihren 56 Stimmen ihren Kandidaten Zatlers auch zum Parlamentspräsidenten zu wählen, und nach zweimaliger Nicht-Wahl bekam dann Kandidatin Solvīta Āboltiņa mit 51 Stimmen eine knappe Mehrheit. Was nun? Für Zatlers bleibt außer dem Fraktionsvorsitz (die ihm ja sowieso nicht folgt, wie der Austritt von 6 frisch gewählten Abgeordneten zeigt) nichts mehr übrig, und Finanzkungler Lembergs lachte sich schon am 2.Juni ins Fäustchen mit seiner Aussage: "Zatlers ist der Nachfolger von Nero, der Rom selbst niederbrannte".

Geübte Uneinigkeit: "Vienotība" als Platzhirsch
Auch "Vienotība" vereinigte sich erst vor wenigen Wochen, gebildet von drei Parteien. Nach den Wahlen zunächst als Verliererin dastehend, hat sie sich nun erfolgreich gegen die neue Konkurrenz der "Zalters Partei" behauptet und wird voraussichtlich - wenn auch mit viel Abstimmungsglück - den nächsten Regierungschef, den Finanzminister, und die Parlamentspräsidentin stellen. Zudem ist Klāvs Olšteins, der "Wortführer" der sechs Abtrünnigen der Zatlers Partei, ein ehemaliger Vienotība-Mann und nach Ansicht einiger Kommantatoren immer noch ein "U-Boot" derselben. Olšteins, dessen Frau lange als Mitarbeiterin im Büro von Solvīta Āboltiņa arbeitete, der mit Tränen in den Augen noch am 2.Juni sein Abgeordnetenmandat niederlegte - angeblich aus Protest gegen die Nicht-Wahl Zatlers - hat nun selbst den Erfolg von Zatlers an entscheidender Stelle torpediert. Allerdings wird der Erfolg der Vienotība nun ganz davon abhängen, wie erfolgreich die Regierung Dombrovskis nicht nur die Finanzen stabilisiert, sondern auch andere dringende Themen wie soziale Fragen, Verkehr, Familienpolitik, Gesundheitspolitik und Regionalpolitik in den Griff bekommt und sich gegen die geschlossenen Reihen der Saskaņas Centrs, die keine radikalen und möglicherweise populistischen Posititionen für eine Regierungsbeteiligung aufgeben musste, wird behaupten können.

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