26. Februar 2011

Eistaucher erfolgreich

Dūkuris - diese lettische Bezeichnung für eine Vogelart müsste wohl mit "Seetaucher" übersetzt werden. Die Skeleton-Fahrer - mit dem Kopf voran durch die Eisrinne - und ihre Fans wissen aber mit einem ganz ähnlichen Namen auch etwas anzufangen - spätestens seit gestern. Der Lette Martins Dukurs ist Weltmeister der Skelettonis, mit beeindruckenden 1,74 Sekunden Vorsprung aus vier Läufen vor dem Russen Alexander Tretjakow und dem Deutschen Frank Rommel. Respekt hatte Dukurs vor allem gegenüber seinen deutschen Konkurrenten auf deren "Heimbahn" am Königsee geäussert und deren starkes Abschneiden erwartet. Am Ende war der Erfolg jedoch deutlich.

Tomas (links) und Martins Dukurs,
mit dem Vater als Traine
r (Foto: sporto.lv)
Ganz überraschend kam der Erfolg nicht. Wikipedia kennt Martins, ebenso wie seinen ebenso als Skelleton-Sportler bekannten Bruder Tomas, schon lange. 2011 ist er bereits Europameister und Sieger im Gesamt-Weltcup. 2010 in Vancouver holte er Olympiasilber und wurde zu Lettlands Sportler des Jahres gewählt. 

Günstige Einstiegsmöglichkeiten in ihren Sport bestanden für die Gebrüder Dukurs schon dadurch, dass ihr Vater Dainis Dukurs lange Jahre Direktor der Bobbahn in Sigulda war (und 2010 übrigens auch "Trainer des Jahres" wurde). Schon als Kinder seien sie immer wieder um die Bahn herumgelaufen und hätten den Sportlern zugesehen, erzählt Tomas. Die Skeleton-Fahrer hätten ihnen damals schon immer am besten gefallen. Als die beiden jungs auf den Vorschlag des Vaters eingegangen seien, sich ernsthaft als erste Sportler professionell dem Skeleton zu widmen, habe der Vater sein Haus verkauft um dies finanzieren zu können, ist in lettischen Sportzeitungen zu lesen. Martins Dukurs ist nun der erste Wintersport-Weltmeister nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands.

17. Februar 2011

Europa und Lettland verstehen sich schlecht

Es gehört zum Selbstverständnis einer liberalen Demokratie – darunter versteht die Politikwissenschaft vor allem Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – alle Einwohner am politischen Prozeß zu beteiligen. Daß sich Lettland und sein nördlicher Nachbar Estland 1991 dagegen entschieden, allen Einwohnern automatisch die Staatsbürgerschaft zuzugestehen, stieß immer wieder auf heftige Kritik im Westen und Besuche des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten der OSZE, Max van der Stoel, gehörten in den 90er Jahren zu den besonders pikanten Ereignissen.

Auf der einen Seite wollten die baltischen Staaten dazugehören, möglichst schnell allen westlichen Organisationen beitreten, was ihnen bei Europarat und OSZE auch zügig gelang. Andererseits gab es noch erhebliche Schwierigkeiten, die Werte dieser westlichen Gemeinschaften zu teilen. Aber beide Organisationen hatten auch seit ihrer Gründung in der Zeit des kalten Krieges die Aufgabe, Forum für den Dialog von Staaten mit unterschiedlichen Werten zu sein.

Gleichzeitig fiel es den westlichen Organisationen schwer zu verstehen, wie der Osten tickt, der sich doch gerade anscheinend die westlichen Werte zu übernehmen anschickte. Und im Falle von Estland und Lettland und der Staatsbürgerschaft wurde vermutlich manchmal weder ordentlich zugehört noch in die Geschichtsbücher geschaut. Eine willkürliche Entscheidung war es in beiden Ländern nicht. Der Kompromiß sah schließlich so aus, daß die OSZE in Estland und Lettland 1993 Missionen eröffnete, die beide Staaten in der Ausarbeitung ihrer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der recht großen „Minderheit“ beriet und unterstützte. Diese Arbeit genügte schließlich für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zur EU. Bereits drei Jahre vor dem erfolgreichen Abschluß wurden die Missionen 2001 schließlich geschlossen.

Während der Vorsitz Litauens in der OSZE, die in den vergangenen zehn Jahren deutlich an Bedeutung verloren hat, bevorsteht, bleiben alle drei baltische Republiken Mitglied. Und einen Hochkommissar gibt es immer noch. Nach dem Niederländer Max von der Stoel ist es derzeit der Norweger Knut Vollenbek, der jetzt Lettland besuchte und die lokale Politik erneut provozierte. Er schlug vor, den Staatenlosen Lettlands das Wahlrecht zuzugestehen.

Das wäre freilich ein Präzedenzfall. Während in den USA ohne Melderegister selbst der Wahlbürger nur theoretisch einer ist, solange er sich nicht aktiv um seine Rechte gekümmert hat, würde eine Wahlberechtigung von nicht Staatsbürgern dieses Institut in Frage stellen.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß Estland den Staatenlosen das kommunale Wahlrecht wegen deren Konzentration im Nordosten des Landes gewährt. Ein vergleichbarer Schritt in Lettland hätte zur Folge, daß die Zahl der Wahlberechtigten gerade in der Hauptstadt Riga sprunghaft steigen würde. Das ist insofern bemerkenswert, als in Ermangelung anderer Spielfelder für Politiker und Parteien die kommunale Politik in den Hauptstädten des Baltikums stark politisiert ist.

Vollenbek begründet seinen Vorstoß mit einer stärkeren Einbindung der Staatenlosen in die Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte in Frankreich und Deutschland darf behauptet werden, daß in Estland und Lettland in der Tat viele Menschen, die der Titularnation nicht angehören, eine Parallelgesellschaft bilden, nur ihresgleichen treffen und auch medial in einem anderen Informationsraum leben.

Außenminister Ģirts Valdis Kristovskis von der Einigkeit widersprach diesem Anliegen wie erwartet. Erwartet nicht nur als Vertreter der Regierung und des größeren Koalitionspartners, sondern auch durch seine politische Vergangenheit, die ihn über mehrere Parteien vor seinem Schritt zur Einigkeit eine politische Heimat bei den Nationalisten hatte finden lassen, für die er bis 2009 im EU-Parlament saß. Sein Argument ist jedoch entlarvend: ein Teil der Gesellschaft betrachte es sowieso nicht für erforderlich wählen zu gehen und viele seien an einem Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht einmal interessiert.

Ersteres kann mit Fug und Recht ein wissenschaftlicher oder journalistischer Beobachter behaupten. Aus dem Munde eines Politikers klingt es nach Kapitulation oder stiller Freude. Daß viele Staatenlose tatsächlich kein Interesse an einer Einbürgerung zeigen, hat hingegen verschiedene Gründe. Ein wichtiger sind die besseren Reisemöglichkeiten nach Rußland mit dem grauen Paß, der in Richtung Westen wiederum kaum Einschränkungen gegenüber Staatsbürgern kennt. Würde man den Staatenlosen das Wahlrecht zugestehen, widerspricht sich Kristovskis schließlich selbst, nähme man ihnen die letzte Motivation zur Einbürgerung.

Vollenbek wiederum betonte verstanden zu haben, daß Lettland noch viel zur Integration zu leisten habe. Sprachkurse seien wichtig, so der Hochkommissar, wie ihm viele Menschen versichert hätten. Aber dies ist bei in Lettland lebenden Russen sicher auch gern ein vorgeschobenes Argument, während andererseits viele Letten sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, in Anwesenheit von Russen zu schnell und bereitwillig in deren Sprache zu wechseln und ihnen damit die Möglichkeit zur Praktizierung der eigenen Sprachkenntnisse zu nehmen.

Fest steht wohl nur so viel, auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist dieses Thema noch nicht abgehakt.

14. Februar 2011

Wie korrupt ist Lettland wirklich?

Lettland schneidet in Untersuchungen über Korruption regelmäßig schlecht ab. Dabei geht es meist nicht um die kleinen Dinge, daß etwa Verkehrspolizisten Strafen auf dem kurzen Dienstweg erledigen, sondern es häufig um die Erlangung von Vorteilen unter Ausnutzung der Dienststellung Viel ist ein offenes Geheimnis, ohne daß es je gelungen wäre, die „großen Fische“ zur Strecke zu bringen. Die Hafenstadt Ventpils mit ihren Unternehmen Ventsbunkers und Ventspils Nafta und der Bürgermeister der Gemeinde, Aivars Lembergs, der nicht erst einmal vor Gericht stand und 2007 sogar einige Monate inhaftiert war, gehört zu den bekanntesten Fällen.

Ein wenig in Vergessenheit geraten ist der Skandal um die drei Millionen verschwundenen Lat. 1995 war die Banka Baltija dank ihrer Pyramidengeschäfte zusammengebrochen. Der Liquidator David Berry wollte acht Millionen vom Energieversorger Latvenergo zurückbekommen, um die Ansprüche der Gläubiger zu bedienen, doch das Unternehmen erklärte sich für außerstande zur Rückzahlung. Daraufhin wurde ein Geschäft über Liechtenstein eingefädelt, von wo aus Berry sofort fünf Millionen erhalten sollte, und die Liechtensteiner sollten sich die acht von Latvenergo dann später holen. Nachdem Berry sein Geld erhalten hatte, wurde bekannt, daß Latverngo acht Millionen bereits vorher nach Liechtenstein überweisen hatte.

Ein großer moralischer Skandal damals auch, weil viele Kleinanleger ihr Geld verloren hatten. Der Chef der Bank, Aleksander Lavent, erklärt sich seit nunmehr fünfzehn Jahren für verhandlungsunfähig aus gesundheitlichen Grünen. Ob ein Prozeß jedoch etwas würde klären können, ist nicht gewiß. Der damals eingesetzte Untersuchungsausschuß des Parlamentes scheiterte ebenso. Der Journalist Jānis Domburs und die damalige Mitarbeiterin von Transparency International, Inese Voika, veröffentlichten das Buch „Kurš nozaga 3 miljonus?“ – wer stahl die drei Millionen. Eine anstrengende Lektüre, bei der es nach drei Seiten schwierig wird, den Ausführung ob der Vielzahl der erwähnten Personen zu folgen.

Ebenso undurchsichtig ist die Figur Vladimir Vaškevičs, dessen Geschichte im Gegenteil zu den vorherigen eine unendliche zu werden droht. Im Mai 2007 wurde das Fahrzeug des damaligen Chefs der Kriminalabteilung des Zoll durch einen Sprengsatz zerstört. Verhaftet wurde Edgars Gulbis, der vorher unter anderem im Sicherheitsdienst der Staatskanzlei und der Präsidentenkanzlei tätig gewesen war. Im Herbst flüchtete Gulbis unter mysteriösen Umständen während einer Überführung aus einem Wagen der Polizei, als dieser gerade den Fluß Daugava überquerte. Gulbis sprang in die Daugava und wurde von seiner Lebensgefährtin aufgelesen, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Gulbis wurde dennoch erneut festgenommen. Weder der Anschlag noch der Fluchtversuch sind aufgeklärt worden. Vaškevičs wurde ins Finanzministerium versetzt, wo er für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität verantwortlich war.

Jetzt ist Vaškevičs von der Anti-Korruptionsbehörde verhaftet worden. Man wirft im vor, 50.000 Euro Bestechungsgelder an Mitarbeiter des Finanzamtes gezahlt zu haben, um eine Kontrolle der Steuern konkreter Personen zu verhindern. Finanzminister Andris Vilks erklärte, unter diesen Umständen könne Vaškevičs freilich nicht mehr im Finanzministerium arbeiten. Nach Aussagen seines Anwalts hatte Vaškevičs kurz zuvor Briefe ans Finanzministerium und die Anti-Korruptionsbehörde gesandt und mitgeteilt, daß er Provokationen gegen seine Person erwarte.

Journalisten haben inzwischen weitere Details ermittelt, demnach hat Vaškevičs im Interesse einem konkreten Unternehmer im Rigaer Freihafens gehandelt. Es soll sich um Vasilij Roskov handeln, der im Transitgeschäft tätig ist. Probleme gab es demnach mit einer Ladung gefrorenem Hühnerfleisch. Üblicherweise hat man solche Waren als Transitgeschäft nach Rußland deklariert, letztlich aber in Lettland verkauft, wobei der lettische Staat um die entsprechenden Steuereinnahmen betrogen wird.

Das Geld wurde bei einem Treffen auf einer Bowlingbahn an den Chef der Zollverwaltung in der Finanzverwaltung, während die Nation gebannt auf die Ereignisse in Jēkabpils schaute, Tālis Kravalis, übergeben. Die beiden Amtspersonen kennen sich seit den 80er Jahren, als sie etwa gleichzeitig beim Rigaer Zoll zu arbeiten begonnen hatten. Dabei meinen die Journalisten einem Kampf innerhalb der Finanzverwaltung auf die Spur gekommen zu sein, in dem Kravalis versucht, den Einfluß von Vaškevičs einzuschränken. Zu diesem Zweck wird um die Frage gerungen, wem die Kriminalabteilung des Zolls unterstellt ist.

Die Summe von 50.000 Euro gilt als ein großer Fall von Korruption, für den eine Haftstrafe von drei bis acht Jahren droht.

Das wirklich Überraschende an diesem neuen Vorwurf ist die Summe. Wieviel Geld muß mit "Hühnerbeinen" in Lettland verdient werden können, daß allein zur Verhinderung einer Steuerprüfung 50.000 Euro aufgewendet werden? Auch bleibt die Frage ungeklärt, wenn es sich um "durchfahrende Hühnerbeine" handelt, woher sie eigentlich stammen. Dieser neue Fall ist nicht weniger undurchsichtig als der oder die alten.

13. Februar 2011

Babylonische Sprachverwirrung im neuen Gewand

Zwanzig Jahre lang hat die lettische Politik sich mit der Frage beschäftigt, wer wann wo in welcher Sprache spricht. Es war erst nach der Wahl im vergangenen Oktober, aus der die als russisch geltende Partei Harmoniezentrum als zweitstärkste Fraktion hervorging, diskutiert worden, wie mit russischstämmigen Abgeordneten zu verfahren sei, die den Ausschußsitzungen nicht folgen können, obwohl die Entscheidung, wer das Volk vertritt, in einer Demokratie dem Volk überlassen werden sollte. Immerhin wurde richtig konstatiert, daß kein Abgeordneter gezwungen werden könne, im Plenum eine Rede zu halten.

Bereits Anfang der 90er Jahre war Lettland in den westlichen Medien wegen vorgeblicher Diskriminierung der Russen in die Schlagzeilen geraten. Fernsehteams verfolgten Sprachinspektoren auf dem Rigaer Zentralmarkt, die dort bei den Marktfrauen prüften, ob sie auf Lettisch einen Kauf abwickeln können. Im Falle fehlender Sprachkenntnisse wurde ein Bußgeld fällig. Es ist auch zwanzig Jahre später keine Schwierigkeit, an diesem Ort auf des Lettischen nicht mächtige Verkäuferinnen zu stoßen.

Gleichzeitig hat sich ein allen sichtbarer Prozeß schleichend vollzogen, der plötzlich die Sprachfrage in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Während die lettischen Jugendlichen früher beim Spielen im Hof oft schon im Vorschulalter Russisch lernten, es so später wie eine zweite Muttersprache beherrschten und dies als Lingua Franca der Sowjetunion vielerorts auch erforderlich war, ist Russisch nun kein Pflichtfach mehr an den Schulen, während die russischen Schüler Dank der 2004 heftig diskutierten Novelle des Bildungsgesetzes bis zu 60% des Unterrichts in Lettischer Sprache erhalten.

Die Verhältnisse haben sich also umgekehrt. Früher konnte in Lettland eigentlich jeder Russisch, während sich viele Zuwanderer um das heimische Lettisch nicht scherten. Heute ist dies die Staatssprache, ohne die beruflich mehr als Marktfrau zu sein schwierig ist. So können viele junge Letten kein Russisch, während die Lettischkenntnisse ihrer russischen Altersgenossen zunehmend besser werden.

Das hat Folgen auf dem Arbeitsmarkt. Selten, daß bei einer ausgeschriebenen Stelle nicht Kenntnis des Russischen verlangt wird. Die offizielle Staatssprache mag Lettisch sein, doch im Geschäftsleben ist es selbstverständlich, dem Kunden entgegen zu kommen. Die Abgeordneten der nationalistischen Fraktion „Alles für Lettland!“ / Für Vaterland und Freiheit brachten jetzt einen Gesetzentwurf ein, der lettische Jugendliche ohne Kenntnis der russischen Sprache vor Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt schützen soll. Die Nationalisten argumentieren, daß inzwischen sogar in vielen staatlichen Unternehmen Russisch-Kenntnisse Voraussetzung für jedweden Arbeitsplatz seien. Eine solche Diskriminierung der eigen Nation gebe es in keinem anderen europäischen Land. Die Partei verlangt, es dürften Fremdsprachkenntnisse zumal in einer nicht offiziellen Sprache der EU nur dann verlangt werden, wenn diese für die Tätigkeit unerläßlich seien.

Der langjährige Verkehrsminister Ainārs Šlesers berichtete im Plenum von einer Anekdote. Mit einem estnischen Gast in einem Restaurant russisch parlierend habe ein junges lettisches Mädchen die Bestellung auf Englisch aufnehmen wollen, weil sie überhaupt kein Russisch verstand. Seither habe er sie dort nicht mehr gesehen. In der Hotellerie sei es erforderlich, neben lettisch wenigstens noch Englisch und Russisch zu können, und jede weitere Sprache erhöhe die Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Den Gesetzentwurf der Nationalisten bezeichnete er als Rache an der während der Sowjetzeit vorherrschenden russischen Sprache. Eine Verordnung der Regierung, welche die Forderung nach Russisch nur für Jobs mit Kundenkontakt erlaube, halte er im reellen Leben für nicht umsetzbar, weil die Arbeitsgeber einen anderen Grund finden würden, den Kandidaten mit Russisch-Kenntnissen einzustellen.

Obwohl die Nationalisten im Parlament nur über acht von einhundert Mandaten verfügen, stimmten für ihren Antrag immerhin insgesamt 34 Abgeordnete, während sich 22 enthielten und 32 mit nein votierten.

Die Nationalisten blieben allerdings die Antwort schuldig, ob in irgendeinem europäischen Land Arbeitssuchende mit weniger Kenntnissen als die Konkurrenz geschützt werden.

5. Februar 2011

Anderer, neuer Menschenhandel

Es ist bekannt, daß viele Menschen in den armen und unterdrückten Ländern dieser Welt nach Europa wollen. Aber sind sie erst einmal da, ist das Bleiben das nächste Problem. Ein einfacher Kniff ist die Ehe mit einer Person, die EU-Staatsbürger ist. War der Menschenhandel (Beitrag von Sintija Langenfelde) früher darauf orientiert, junge „langbeinige Blondinen“ zur Prostitution zu zwingen, werden nun potentielle Bräute für fiktive Ehen geworben.

Über konkrete Fälle berichtet jüngst mehrfach die lettische Presse, da es sich nicht mehr nur um Einzelfälle handelt. Auch das Eurasische Magazin schrieb über in Irland lebende Männer vorwiegend aus Indien und Pakistan, die wegen der dortigen Gesetzgebung auf Frauen aus Drittstaaten angewiesen seien, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Im katholischen werden die meisten Ehen demnach vor einem Priester geschlossen, dessen Dokument dann aber überall anerkannt wird.

Dem neuen, anderen Menschenhandel ist mit dem bekannten gemein, daß die Opfer vorwiegend junge Frauen sind, auf deren Armut und Hoffnungslosigkeit im Heimatland spekuliert wird. Ähnlich werden auch lukrative Arbeitsangebote gemacht. Es gab zwar bereits früher immer wieder im ganzen Baltikum Plakataktionen, um die Menschen aufzuklären. Neben dem Schriftzug „tevi pārdos kā lelli – netici vieglai peļņai ārzemēs“ – Du wirst verkauft wie eine Puppe – glaub nicht an einfachen Verdienst im Ausland, war ein wie eine Marionette an Strippen hängendes Mädchen abgebildet. Doch auf dem Land erreichen solche Kampagnen die Betroffenen kaum, aber gerade dort ist die soziale Lage besonders prekär und fern der Stadt sind die Menschen sicher auch ein wenig leichtgläubiger.

Mit dem neuen Phänomen beschäftigt sich nun zunehmend die Botschaft Lettlands in Irland, an die sich verschiedene Mädchen hilfesuchend gewandt hatten. Für die lettische Öffentlichkeit schockierend dabei, daß zehn Prozent aller in Irland bekannt gewordenen Fälle von Scheinehen Frauen aus Lettland betreffen, das sind demnach 4.600 Fälle in zwei Jahren. Nach offiziellen Angaben sind 50% der in Irland lebenden Frauen aus Lettland mit Pakistani verheiratet, denen als Flüchtling oder Student die Aufenthaltsgenehmigung auslief. Das tribine.lv meldet empört, daß vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vier Personen Recht bekommen hatten, nachdem sie erfolgreich die Immigrationsgesetzgebung umgangen hatten.

Auch wenn die Warnungen nicht alle potentiell gefährdeten erreichen, so hat das Problem doch über Jahre eine gewissen Publizität genossen und viele Menschen wissen von den Gefahren, was nicht unbedingt abschreckt. So schreibt eine anonyme Kommentatorin bei tribine.lv im Internet, ihr werde das Gleiche angeboten und sie werde trotz der gelesenen Informationen darauf eingehen, schließlich könne man in Lettland so viel Geld nicht verdienen. Dabei seinen die Preise durch die Krise gefallen. Erhielt eine Scheinbraut früher 10.000 Euro, so könne das „Entgelt“ inzwischen auf nur ein Zehntel davon schrumpfen.

Das Eurasissche Magazin schildert Beispiele, in denen es nur zu psychischem Druck gekommen war. Das betroffene Mädchen habe den Bräutigam angefleht, sie gehen zu lassen, doch der habe ihr erklärt, wieviel Geld er bereits bezahlt habe. Die lettische Tageszeitung Diena berichtete von zwei 21 und 23 Jahre alten Lettinnen, die auch gewaltsamen Druck ausgesetzt waren. Es sei Arbeit bei Mc Donalds versprochen worden, doch vor Ort bekannt der fiktive Gatte das Leben des Mädchens zu kontrollieren, dessen Einkommen auf sein überwiesen wurde und der drohte, sie und ihren in Lettland verbliebenen Sohn zu töten. Die andere Lettin beklagte sich über das Desinteresse der irischen Polizei, brachte aber ihren Fall dennoch zu Anzeige, weil sie ihrer Freundin, die selbst in Dublin mit einem Pakistani verheiratet lebt und sie angeworben hatte, nicht verzeihen könne.

Freilich bleibt nicht aus, daß in den Internetkommentaren über die „latviešu zeltenes“ diskutiert wurde, die in aller Regeln eher nicht Anastasija hießen, um nur ein Beispiel zu nennen. Damit spielt der Kommentar auf den hohen Anteil russischer Bevölkerung in Lettland an, der zu einem großen Teil auch über die Staatsbürgerschaft verfügt. Es ist deshalb schwierig, glaubwürdige statistische Angaben darüber zu machen, wie häufig junge Russinnen Opfer sind, wenn die Presse von Mädchen aus Lettland spricht.

4. Februar 2011

Grenzgänger

Seit jeher lag die Stadt Walk auf der Grenze des estnisch bzw. Lettisch besiedelten Territoriums. Einzig gehörte die Stadt zum gemischtethnischen Livland, eine Grenze zu ziehen wurde erst nach der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands 1918 erforderlich. Damals verblieb der größere Teil der Stadt den Esten. Während des kalten Krieges in der Sowjetunion durchzog den Ort dann wieder keine Grenze mehr, die Ironie der Geschichte nach dem Ende des kalten Krieges 1991 wieder gezogen wurde.

Innerstädtisch gab so es zeitweilig zwei Grenzstationen und einige gesperrte Straßen. Das bedeutete natürlich nicht, daß keine Esten mehr nach Lettland und Letten nach Estland fahren konnten. Probleme gab es trotzdem zahlreiche. Zunächst nämlich wurde zum Grenzübertritt noch gestempelt, Personalausweise gab es damals überhaupt nicht. Auf diese Weise waren die Pässe aber zügig voll und die Betroffenen waren gezwungen, vor Ablauf der Gültigkeit neue Dokumente zu beantragen. Manche Menschen wohnten im einen Teil der Stadt, arbeiteten aber im anderen. Für verwitwete Personen wurde sogar der Friedhofsbesuch damit plötzlich eine Geldfrage.

Besonders betroffen waren die Einwohner russischer Nationalität, Migranten aus der Sowjetzeit, die wegen der Gesetzgebung in Lettland und Estland mit dem Status der Staatenlosen besonders große Schwierigkeiten beim Grenzübertritt hatten, weil sie für das jeweils andere Land auch noch ein Visum benötigten.

Am schlimmsten traf es jedoch eine Reihe von estnischen Staatsbürgern, Bewohner einer kleinen Straße, die auf estnischer Seite põhja, Nordstraße, und auf der lettischen Seite savienības, Unionsstraße heißt. Die Esten hatten sich hier in der Sowjetzeit Eigenheime errichtet, von denen ein Teil sich nach der Grenzziehung von 1920 aber auf lettischer Seite befand. Der Vorschlag eines Staatsgebietsaustausches wurde von lettischer Seite abgelehnt.

Diese Probleme haben sich mit dem Beitritt zum Schengener Abkommen erledigt und das gilt auch für jene russischen Einwohner, die nach wie vor im Staatenlosen-Status leben. Andererseits haben sich Estland und Lettland in den vergangenen zwanzig Jahren sehr unterschiedlich entwickelt. Die Esten zahlen ab 2011 mit dem Euro, während die Letten noch immer unter den Folgen der Krise leiten.

Das trieb nun rund 15 im estnischen Valga arbeitende lettische Staatsbürger dazu, einem Aufruf des Bürgermeisters zu folgen, und sich auf der estnischen Seite offiziell anzumelden. Zurück geht die Situation auf Jobs in stabilen Unternehmen wie der Möbelfabrik, dem Fleischkombinat und dem Depo der estnischen Bahn. Hinzu kommen Vorteile finanzieller Natur wie ein höheres Kindergeld, niedrigere Steuern, eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung – die Aufnahme von Letten ins Krankenhaus der estnischen Stadthälfte ist ansonsten nur mit EU-Versicherungsschein möglich, höhere Pensionsansprüche, deren zweite Säule im estnischen System vererbbar ist wie auch ein wenn auch geringfügig höherer Mindestlohn. Die Betroffenen tauschen ihren Verdienst in aller Regel nicht in die lettische Währung um, da Estland auch billiger sei.

Die Politik im lettischen Valka ist empört. Jeden Monat treffe man sich zur gemeinsamen Planung, offiziell heiße es, eine Stadt zwei Staaten, und dann müsse man von diesem Schritt aus der Presse erfahren. Pikant an der Einladung des estnischen Kollegen ist freilich, daß eine Anmeldung nur möglich ist für jene, die im estnischen Valga Freunde oder Verwandte haben, denn die Stadt hat einerseits keine Wohnflächen und wäre auch gesetzlich daran gehindert, diese Letten anzubieten. Insofern bedeutet die Ummeldung der 15 Personen nicht notgedrungen, daß diese auch physisch auf der estnischen Seite leben. Der Bürgermeister des estnischen Valga rechtfertigt sich jedoch mit dem Hinweis, daß ein Teil der Abgaben der in Valga Arbeitenden unabhängig davon, ob diese aus Lettland stammen oder in Estland in einer anderen Gemeinde leben, in die Hauptstadt überwiesen werden und nicht vor Ort verbleiben. Dies sei seine Motivation gewesen. Er versprach gleichzeitig, die entsprechenden Einnahmen in jedem Fall in die Verbesserung der Infrastruktur zu investieren.

Einen regen Verkehr und grenzüberschreitendes Wohnen gibt es auch in Hesinki und Tallinn, zwei Hauptstädte, die immerhin das Meer auf einer Entfernung von 80km trennt. Dennoch spricht man schon lange von Talsinki. Das Außenministerium in Riga hat bereits erklärt, daß es lettischen Staatsbürgern freistehe, ihren Wohnsitz in einem anderen Land zu nehmen.