27. Juli 2011

Nachtrag: ist Norwegen selbst Schuld?

Manchmal sind auch die Stürme im Wasserglas heftig genug, dass unerfahrene Fische darin ertrinken können. Jānis Iesalnieks, Vorstandsmitglied der Partei "Für Vaterland und Freiheit / Alles für Lettland" (TB/VL), der mit seinen merkwürdigen Äußerungen über die Ereignisse in Norwegen in der lettischen Öffentlichkeit Diskussionen über ein möglicherweise ähnliches rechtsradikales Gedankengut auch in Lettland ausgelöst hatte (siehe voriger Beitrag), trat inzwischen von einer Kandidatur bei den kommenden Wahlen zurück. Gründe dafür werden allerdings - weiter als bis zu den Wänden des Wasserglases kann man offenbar nicht sehen - allein bei "Lügenkampagnen" des politschen Gegners gesehen. 

Justizminister Aigars Štokenbergs soll nach Ansicht von TB/VL-Parteichef Raivis Dzintars für die "Organisation" solcher "Lügenkampagnen" verantwortlich sein. Das ist immerhin kein Russe - aber das zweitbeste Feinbild, was man wohl als Nationalist haben kann, ist dann Lette gegen Lette. Ob die kühle Analyse von Fakten und Tatsachen noch die Oberhand behält? Ob Herr Iesalnieks wenigstens einsieht, dass es der eigenen Reputation als Politiker in einer demokratischen Gesellschaft nicht unbedingt gut tut, wenn halbausgegorene Theorien und pauschale Schuldzuweisungen in die Öffentlichkeit gestreut werden? Schon wird behauptet, auch der Wahlkampagne der neuen Partei von Ex-Präsident Zatlers wolle Štokenbergs schaden. Zatlers als Beschützer der nationalradikalen Interessen - interessant wird sein zu beobachten, wie lange Zatlers derartiges Inanspruchnehmen mitmacht. Wie schon früher mal angemerkt: vor dem Parlamentsgebäude in Riga standen vor allem auch die protestierende Anhänger der Nationalradikalen, als Zatlers abgewählt wurde. Die neue "Zatlersche Reformpartei" (ZRP) hat sich ein sehr allgemein lautendes Programm gegeben - was sie konkret machen würde in einer Koalitionsregierung bleibt vorerst unklar. Aber in Lettland werden offenbar gern weiter Debatten geführt, die so aussehen als wolle man möglichst viele "heilige Kühe" platzieren: Zatlers paktiert schon mal nicht mit der Lembergspartei (der Liste der Bauern und der Grünen), und die Nationalisten dann auch nicht mit der "Russenpartei" Saskanas Centrs (Harmoniepartei). 94% derjenigen, die sich an der Volksabstimmung letzte Woche beteiligt haben, entließen mal eben schnell das von ihnen selbst gewählte Parlament. 
Wohin Lettland aber STATT DESSEN hingehen soll - momentan sieht die Auseinandersetzung darüber wie eine riesige, mit dubiosen Inhalten gefüllte Nebelsuppe aus ...

25. Juli 2011

Lettlands Rechte: Norwegen ist selbst Schuld am Massenmord

Lettland nationalkonservative Parteien sind im nun erneut beginnenden Wahlkampf offenbar besorgt, ihr Image könnte unter dem weltweiten Mitgefühl für den Massenmord in einem Jugendlager in Norwegen leiden. Dabei erweist sich eine interessante Diskussionsstruktur: während Rechtskonservative ja meist offen dafür plädieren, "russische Interessen" eher bewusst zu vernachlässigen und zu ignorieren, gilt es in diesen Kreisen nicht als opportun, sich in russischsprachige Diskussionen zu Themen des Landes überhaupt einzumischen. Dem entgegengesetzt ist es aber eine nicht zu leugnende Tatsache, dass immer mehr gerade der jüngeren in Lettland lebenden Russinnen und Russen auch Lettisch verstehen und sprechen - und sich auch in lettischsprachige Diskussionen einmischen.
auch in den lettischen Medien dieser Woche
vorherrschend: Trauer und Mitgefühl wegen
der Ereignisse in Norwegen
(hier:DIENA)
Diskutiert wird in dieser Woche ein aktueller Fall des lettischen Nachwuchspolitikers und Vorstandsmitglieds der Partei "Alles für Lettland" ("Viss Latvijai" - seit dem vergangenen Wochenende frisch vereinigt mit "Tevzemei un brivibai/LNNK") Jānis Iesalnieks, der seinen Gefolgsleuten mal kurzerhand twittern wollte, die Norweger seien mit ihrer Förderung einer multikulturellen Gesellschaft selbst Schuld, wenn vor diesem Hintergrund Probleme entstehen würden. Der 22-jährige Iesalnieks ist selbst Redakteur der "nationalpatriotischen" Internetseite seiner Partei und versuchte bisher dreimal erfolglos, für Stadtrat Riga oder Parlament zu kandidieren. Seine Äußerungen griffen russischsprachige Medien wie die Zeitung CHAS auf und sahen in Iesalnieks einen Sympathisanten der blutigen Taten in Norwegen. - "Wir alle sind Nordmänner!" (sic! nur "Norweger" sein reicht offenbar nicht...) twittert dieser zurück, nicht ohne mal wieder zu lamentieren, in den Medien falsch zitiert worden zu sein. Andererseits ist der junge Lettlandpatriot kundig (und juristisch gebildet!) genug, "sicherheitshalber" schon mal einen ausführlichen Eintrag bei Wikipedia über sich selbst geschrieben zu haben.

Da träumt ein junger Nationalist von Anerkennung in den Massenmedien - das wird leicht auch aus den Diskussionen seiner Twitternachrichten sichtbar. Aber was passiert statt dessen? Nun melden auch lettischsprachige Nachrichtenportale wie "kasjauns": "Ein Mitglied der Partei 'Alles für Lettland' tätigt ähnliche Äußerungen wie der norwegische Massenmörder." Nun twittert offenbar ganz Lettland. "Eine völlig kranke Ansicht" - so mischt sich der gerade von langer Krankheit genesene Rigaer Bürgermeister Užakovs in die Diskussion ein. Und Iesalnieks' Parteichef Raivis Dzintars, gefragt nach den seltsamen Ansichten seines Parteigenossen, zeigt sich "überrascht": es sei völlig überflüssig, diese irrationale Tat einer Ideologie in die Schuhe zu schieben, so Dzintars. Und eine andere "national gesinnte" Bloggerin bedauert, dass diese "Tat eines Kranken" den Nationalpatrioten Schaden zufügen könne.
Auch Užakovs‘Partei „Saskaņas Centrs“("Harmoniezentrum") sieht nun erste Chancen für Wahlkampfstoff und überlegt öffentlich, Iesalnieks wegen "Anstachelung zum Rassenhass" zu verklagen. Immerhin sind bei sorgfältiger Lektüre der Reaktionen vermeintlicher "Gleichgesinnter" auf Iesalnieks bei Twitter auch Zitate nachlesbar, die auf einen mehrfachen Mord im ostlettischen Städtchen Gulbene verweisen mit der Bemerkung, auch diese Tat (der Beschulidgte ist ein Russe) sei "von langer Hand geplant gewesen" (wie der Mord in Norwegen?). Iesalnieks' "wirre Gedanken" sind also kein Einzelfall.

Interessant aus deutscher Sicht, dass für die radikalnationalen lettischen Kreise - ebenso wie für den norwegischen Attentäter ja offensichtlich auch - gerade Bundeskanzlerin Merkel eine Bezugsgröße bildet. Nur hoffen die nationalen Letten, Merkel habe die "Kehrtwendung" schon vollzogen, und berufen sich dabei auf Pressekonferenzen in Riga anläßlich des Merkel-Besuchs im vergangenen Herbst. "Die Vorstellungen von einer multikulturellen Gesellschaft sind vollkommen gescheitert", so beispielsweise eine Schlagzeite im lettischen Portal TVNET damals, auf Merkels Äußerungen verweisend. Vielleicht sollte jemand mal erzählen, was mit Merkels damaligen Äußerungen zur Laufzeitverlängerung veralteter Atomkraftwerke seither passiert ist? Da kann Merkel fast froh sein, dass niemand ihr die eigenen Riga-Zitate in der deutschen Öffentlichkeit vorliest. Allerdings haben auch die (oft der deutschen Sprache nicht kundigen) lettischen Diskutanten sicher eine falsche Vorstellung davon, auf welchen Stand die Diskussion in Deutschland ist: lettische Nationalradikale gehen offenbar davon aus, dass Merkel die Einzige sei, die Einwanderer in Deutschland zum Erlernen der deutschen Sprache aufrufe.

Sind das nur vereinzelte Äußerungen eines unbedeutenden Nachwuchspolitikers? Andere Portale wie www.civciv.lv greifen die Diskussion auf und üben sich in Gegenargumenten. Dabei muss sich Iesalnieks - im Gegensatz zur gesicherten Diskussion auf selbst administrierten Webseiten - auch irritierte Fragen von anderen nicht parteigebundenen Lettinnen und Letten gefallen lassen. Schnell getwittert, wenig nachgedacht - das ist der überwiegende Tenor. "Ich habe nicht den Massenmord gerechtfertigt!" wehrt sich der Angegriffene, "und erst recht nicht den Mord an Kindern!" Die Überschrift seiner viel diskutierten Twitternachricht aber lautet zumindest: "Den Massenmord in Norwegen hat der Multikulturalismus auf dem Gewissen." - Was ja wohl soviel heißt: Selbst Schuld, Norwegen. Herzlichen Glückwunsch, Lettland, zu solchen "geistigen Führern"!

Tröstlich allein, das solches Gedankengut inzwischen in Lettland nicht ohne Widerspruch bleibt.

23. Juli 2011

Rote Karte fürs Parlament

Die ersten Ergebnisse der heute in Lettland durchgeführten Volksabstimmung deuten darauf hin, dass sich voraussichtlich über 94% der Stimmberechtigen für eine Entlassung des erst im Herbst 2010 gewählten Parlaments ausgesprochen haben. 

Die Möglichkeit darüber zu entscheiden hatte der bis vor wenigen Wochen noch im Amt befindliche Ex-Präsident Valdis Zatlers mit seiner Initiierung der Volksabstimmung eingeleitet.
Nun wird das lettische Parlament voraussichtlich Mitte September neu gewählt werden müssen. Zatlers selbst gründete inzwischen eine neue Partei mit dem Namen "Zatlers Reform Partei" (ZRP), die ebenfalls heute ihren Gründungskongreß abhielt. 

Details zum Abstimmungsergebnis

21. Juli 2011

Glanz und Elend der vierten Gewalt in Lettland

Ein persönlicher Absatz sei vorweg erlaubt: Als der Autor dieser Zeilen begann, Lettisch zu lernen, stellte sich zügig ein gewisses Unverständnis ein, warum es so schwierig ist, eine Zeitung zu lesen. Erst später mit zunehmender Sprachkompetenz wurde erkennbar, daß die meisten Beiträge extrem unstrukturiert waren. Abgesehen von der Lauyout-Krankheit, fast jeden Artikel, wenn auch nur mit wenigen Zeilen, auf der ersten Seite beginnen zu lassen, um ihn dann auf einer der folgenden Seiten fortzusetzen – was eine optische Erkennung der Wichtigkeit des Themas sozusagen verunmöglicht – wurde bald verstanden, daß eben nicht im ersten Absatz auf die Fragen, „wer, wann, was?“ und schließlich auf wo und warum geantwortet wurde, die Struktur der Sätze glich eher einem Palaver beim Bier, was ebenfalls nicht ausschloß, daß ein und derselbe Satz bis zu drei Mal in ein und dem gleichen Artikel zu finden war.

Probleme hat seit vielen Jahren auch das lettische Fernsehen vor allem wegen des allgegenwärtigen Geldmangels. Ein großer Teil des dringend nach Renovierung rufenden Gebäudes auf der Insel Zaķusala (Hasenholm) in Riga ist aus diesem Grund vermietet. Es gibt keine Rundfunkgebühren, das Fernsehen ist staatsfinanziert mit allen Konsequenzen für Vorwürfe der Einflußnahme.

Die Situation beim lettischen Radio ist geradezu noch schlimmer. Während der Finanzkrise wurde wegen Finanzierungsproblemen ernsthaft seine Schließung diskutiert.

Nun kam es beim lettischen Radio zu einem kleinen Eklat. Justizminister Aigars Štokenbergs war zum Interview geladen. Das Thema war der Kampf gegen die Schattenwirtschaft. Nachdem die fragende Journalistin nicht aufgeben wollte, den Minister danach zu fragen, wie er die wahren Nutznießer irgendwelcher Aktien der lettischen Luftfahrtgesellschaft Air Baltic etwa auf den Cayman Inseln ermitteln wollte, sagte dieser, das Gespräch mache keinen Sinn mehr und verließ das Studio.

Während des elfminütigen Interviews wird schnell klar, daß die fragende Journalistin nicht über die geringsten juristischen Kenntnisse verfügt, nicht in der Lage ist zu unterscheiden zwischen Ermittlungen in internationalen Kriminalfällen und der Verfolgung von Steuerhinterziehung oder auch zwischen deklarierten Einnahmen eines Unternehmens und den beim Unternehmensregister eingetragenen Eigentümern desselben.

Andererseits tat sich Štokenbergs auch selbst schwer, bestimmte Sachverhalte zu erklären. Zunächst einmal geht es um eine Novelle des Unternehmensgesetzes, daß künftig helfen soll, fiktive Überweisungen zwischen verschiedenen Parteien, hinter denen eigentlich keine geschäftliche Aktivität steht, aufzudecken und damit der Steuerhinterziehung auf die Spur zu kommen. Wenn Štokenbergs also im Interview nicht mehr sagt als „glauben Sie mir, wir haben unsere Mechanismen, diese fiktiven Verbindungen zu erkennen“, klingt das eher ausweichend. Wichtig wäre an dieser Stelle gewesen, die Mechanismen in möglichst einfachen Worten zu erklären, also, welche Geldbewegungen mit dem neuen Gesetz erkannt werden können, die dann wiederum Verdachtsmomente begründen, mit anderen Mechanismen weitere Untersuchungen einzuleiten.

Und dann begeht Štokenbergs noch einen Kardinalfehler: nachdem die Journalistin erneut wissen will, wie eine Novelle des Unternehmensgesetzes, das ja nun vorgesehen ist, Geldströme inländischer Akteure zu erkennen, es Lettland ermöglichen soll, in einem Offshore-Land nach den wahren Nutznießern zu fragen – ein Unterschied, den der Justizminister gerade erklärt hatte – zieht dieser als Beispiel ausgerechnet die erwähnte Air Baltic heran. Dieses Unternehmen und sein deutscher Chef Bertold Flick befinden sich seit Jahren regelmäßig mit verschiedenen Skandalen im Fokus der Aufmerksamkeit, nicht jedoch unter dem Verdacht der Förderung der Schattenwirtschaft.

Jetzt will die Radio-Reporterin plötzlich ganz generell wissen, wer die Nutznießenden der Dividenden der Air Baltic Aktien sind. Der Minister kann natürlich nur antworten, daß dies im Rahmen eines Kriminalprozesses möglich wäre. In diesem Moment beißt sich die Journalistin komplett an einer Verschwörungstheorie fest, Aktionäre dieser Gesellschaft müßten überführt werden. Während Štokenbergs ist schon längst wieder zu allgemeinen Antworten zurückgekehrt ist, spricht die Journalistin von „einem“ Unternehmen. Der Minister fragt, welches sie meint, und die beruft sich auf das vom Minister selbst genannte Beispiel: die Air Baltic.

Mit einem Wort: der Minister ist nicht in der Lage für nicht-Ökonomen und nicht-Juristen, den Sachverhalt in einfachen Worten zu erklären und die Journalistin ist mit dem Thema absolut überfordert.

Štokenbergs verläßt das Studio, als die Journalistin konkret fragt, wie die Schattenwirtschaft bekämpft werde, wenn geklärt sei, daß ein Staatsbürger der Niederlande die Aktien halte. Štokenbergs antwortet, wenn dieser im Gefängnis sitze. Daraufhin will die Journalistin aber wissen, wie der denn dahin komme ...

Vergangenheitsbewältigung auf Lettisch

Lettland geriet in Westeuropa und vor allem in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder in die Schlagzeilen wegen der alljährlichen Parade der Veteranen der Waffen-SS. Das Thema ist ein mit Fettnäpfchen übersätes heißes Eisen, auf das rein deutsch nur von der Schreckensherrschaft Hitlers ausgehend zu schauen, gewiß zu kurz greift.

Doch während des Krieges handelte es sich um Ereignisse unter Einfluß fremder Mächte. Daneben gibt es in Lettland auch ureigenst lettische historische Themen, die einer gesellschaftlichen Diskussion harren.

Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurde im Zentrum von Riga an der Kreuzung von Raiņa bulvāris und Valdemāra iela Präsident Kārlis Ulmanis ein Denkmal gesetzt. Diese historische Figur genießt im lande viel Ansehen, obwohl sie aus einem demokratischen Blickwinkel kritisch zu betrachten wäre.

Da sind zunächst einmal seine Taten, die jenen von Politikern in anderen europäischen Ländern gleichen. Der vormalige Ministerpräsident Ulmanis putschte sich 1934 an die Macht, löste das Parlament ersatzlos auf und verbot schließlich die Parteien. Das Land wurde durch ein obligatorisches System der Beteiligung mehr oder weniger gleichgeschaltet und mit Abrissen und Neubauten in der mittelalterlichen Altstadt von Riga viel historisch-hanseatisches zerstört.

Neben dieser Politik steht aber noch eine Formalie. Staatspräsident Alberts Kviesis war zum Zeitpunkt des Putsches gewählt bis 1936. Er blieb zurückhaltend und auch so lange im Amt. Danach proklamierte sich Ulmanis als Führer und Präsident, das heißt, formal auf dem Boden der Verfassung von 1922, die 1993 reaktiviert worden ist, war Kārlis Ulmanis nie Präsident der Republik Lettland.

Die Politologen der Stradiņš Universität in Riga, Veiko Spolītis und Andris Sprūds hatten schon vor Jahren einen Leserbrief an die wichtigste Tageszeitung des Landes, diena, geschrieben, und kritisiert, daß selbst in einem liberalen Blatt die Journalisten Ulmanis in ihren Artikeln als Präsident bezeichnen. Nun haben die beiden einen neuen Vorstoß unternommen und angeregt, das Porträt des „Diktators“ der 30er Jahre von der Ahnentafel in der Rigaer Burg, dem Amtssitz des Präsidenten, zu entfernen.

Der Schritt ist mutig, denn Ulmanis ist im kollektiven Gedächtnis der Letten positiv verankert. Er beendete die zeit einer turbulenten Demokratie und unter seiner Regierung nahm die Wirtschaft einen Aufschwung, der für viele Letten mit Wohlstand verbunden war. Sogleich wandten sich die Leser der konservativen Lettlands Zeitung besorgt an die Redaktion und verlangten eine Erklärung. Journalisten dieses Blattes fragten daraufhin in der Universität der beiden Politologen nach, erhielten jedoch eher ausweichende Antworten. Wenn die beiden Wissenschaftler auch formal im Recht sind, so bleibt doch Kritik an Ulmanis unerwünscht. Rektor Jānis Vētra erklärte beispielsweise, wenn man die Porträts von Politikern aus der Galerie nehmen müsse wegen ihrer Neigung zur Selbstauszeichnung, dann gehöre auch jenes von Ministerpräsident Aigars Kalvītis wegen seines Verhaltens nicht mehr in die Staatskanzlei. Kalvītis war von 2004 bis 2007 Regierungschef während der in Lettland als fette Jahre bezeichneten Zeit nach dem Beitritt zur EU. Dekan Andrejs Vilks argumentiert, daß man nicht umsonst die Ära des genannten Politiker als die Ulmanis-Zeit bezeichne, die als licht und erfolgreich und das Selbstbewußtsein der Nation hebend im Gedächtnis geblieben sei.

Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga hatte in ihrer Amtszeit Ulmanis als Politiker gewürdigt, der nicht im eigenen, sondern im Interesse des Staates unter widrigen außenpolitischen Umstände gewirkt habe. Zur Eröffnung der 9. Saeima 2006 jedoch sprach sie von Ulmanis als einem Mann, der den politischen Disput an sich negiert und die Legitimität und Würde des Parlamentes in den Dreck gezogen habe, und diese negative Einstellung gegenüber demokratischen Prozessen habe sich bis in die Sowjetzeit hineingezogen.

Es ist nicht zu vermuten, Daß Spolītis und Sprūds Erfolg haben werden. Vielleicht aber kommt der Tag einer kritischen Diskussion über die historische Figur Ulmanis, die hinerfragt, ob Ulmanis für die ihm zugeschriebenen positiven Aspekte überhaupt wirklich verantwortlich ist. Mehr hinter vorgehaltener Hand wird schon einmal zugegeben, daß Ulmanis sich 1940 kampflos der sowjetischen Okkupation unterworfen hat. Sein berühmter Satz lautete damals: „Sie bleiben an ihrem Platz, ich an meinem“. Im Gegenteil zu den Finnen, die im Winterkrieg 1940 nur Karelien, nicht aber ihre Unabhängigkeit verloren, konnten sich die baltischen Republiken nicht einigen, Ein wichtiger Konflikt war die Vilnius-Frage. Polen hatte die litauische Hauptstadt nach dem Ersten Weltkrieg besetzt, weshalb diese beiden Staaten zu keiner Einigung kamen, während Estland und Lettland Polen mit ins Boot hatten holen wollen.

11. Juli 2011

Die Facebook-Partei

Nein, der deutsche Ex-Präsident Köhler hat nach seinem Rücktritt keine Partei gegründet - auch wenn er offensichtlich so einige Kritik daran hatte, was sich in Berlin im Politik- und Mediengeschäft so tut. In Lettland liegen die Verhältnisse schon deshalb etwas anders, weil Ex-Präsident Zatlers (seit dem 8.Juli ist sein Nachfolger Bērziņš im Amt) kurz vor Ende seiner Amtszeit eine Volksabstimmung zur Auflösung des im vergangenen Herbst frisch gewählten Parlaments eingeleitet hatte. 
Diese Volksabstimmung wird nun am 23.Juli stattfinden. Im Radio sind lettische Nachrichtensendungen zu vernehmen, die mit dem Satz anfangen: "noch X Tage bis zur Volksabstimmung." Die lettischen Medien hatten versucht, die Erklärung Zatlers zu seiner konkreten politischen Zukunft möglichst spannend darzustellen. Zunächst folgte die Absage an die Regierungspartei "Vienotība", der auch Regierungschef Dombrovskis entstammt. Zatlers machte sich dabei eine Devise zu eigen, die am allerbesten den momentanen Zustand der lettischen Gesellschaft zu beschreiben scheint: NICHT zusammenzuarbeiten. 
NICHT zusammenzuarbeiten, das bedeutet in Zalterschen Qualitätsmaßstäben: sich den sogenannten "Oligarchen-Parteien" in jeder Hinsicht verweigern. Gut, dachten sich vielleicht viele Lettinnen und Letten, NICHT zusammenarbeiten, das können wir, da machen wir mit. So war denn kurz bevor der offiziellen Verkündung der Zatlerschen politischen Absichten auf der zunächst provisorisch eingerichteten Webseite www.reformupartija.lv zu lesen, dass angeblich über 11.000 Facebook-Nutzer der Absicht zur Gründung dieser Partei zustimmten. Ob nun Zatlers diesen "Facebook-Freunden" vertraute, oder anderen politischen Beratern, ist nicht überliefert. Seit vergangenem Wochenende ist die "Reformpartei" zumindest virtuell am Start: nicht mehr mit 11.000 virtuellen Freunden, sondern mit 10 allgemeinen Thesen. 

Vorläufig schlossen sich bisher nur zwei andere im politischen Leben Lettlands bekannte Personen der "Zatlers-Bewegung" an: die Parlamentsmitglieder Klāvs Olšteins und Guntars Galvanovskis. Olšteins? Ja richtig, es ist derjenige Abgeordnete, der unter Tränen nach der Abwahl Zatlers seinen Rückzug als Parlamentarier verkündet hatte. Nun hält er, wenn man seinen Äusserungen in den lettischen Medien glauben kann, die Zeit für gekommen dass "eine junge und entscheidungsfreudige Generation" für eine "bessere Staatsführung" arbeiten solle. Beide Politiker entstammen der Fraktion "Vienotība" bzw. "Jaunais Laiks", und das könnten auch die Vorzeichen für erneute Identitätsverwirrung im rechtskonservativen Lager sein (Olšteins ist 28, Galvanovskis 29, Zatlers 56 Jahre alt). Waren nicht gerade diese Gruppierungen es gewesen, die sich für die Wiederwahl Zatlers eingesetzt hatten? Wenn nun aus diesem Lager wirklich alle "Reformpartei" wählen würden, was würden diese damit sagen oder erreichen wollen? 

Ex-Präsident und Ex-Arzt Zatlers scheint jedenfalls auf eine Heilung dieser Brüche und Widersprüche zu hoffen (ohne Medizin zu verschreiben). Und nicht nur das: Der Gründungskongreß der "Reformpartei" wurde auf den 23.Juli - also den Tag der Volksabstimmung - gelegt. Daraus ergibt sich zumindest noch eine zweite Reaktionsmöglichkeit der lettischen Wählerinnen und Wähler: wieder einmal werden "Stimmungen im Volke" zugunsten kurzfristigen Nutzens für bestimmte Parteiinteressen vor den Karren gespannt. Wer das leid ist, wählt vielleicht gar nicht mehr. Denn Zatlers "10 Prinzipien" können, für sich genommen, kaum der Grund für eine Bewegung sein, die alles bisherige auf den Kopf zu stellen in der Lage wäre. Hier ist lediglich von der Stärkung der Familien, der Ehrung der lettischen Sprache, der Selbstverantwortung der Steuerzahler, der Unabhängigkeit der Gerichte und einer ausgewogenen Konkurrenz in der Wirtschaft die Rede. Aber wie Zatlers das erreichen will - und in welcher Form konkret anders als die bisherigen Parteien - Fehlanzeige. In dieser Form ist genau dies viel eher typisch und ähnlich dem gewöhnlichen lettischen Politikgeschehen wie alles andere: auf Programme und inhaltliche Ziele vertraut kaum jemand, starke Personen und Lichtgestalten sollen alles herausreißen. 

Konsequenterweise thematisierte auch schon die Protestbewegung nach Zatlers Nicht-Wiederwahl "den Oligarchen in uns" zu suchen. "Jeder ist ein bischen selbst Schuld" - ein schon fast religiöses oder esoterisches Verständnis von politischer Analyse. Ob's weiterhilft? Jugendwahn in der lettischen Politik? Vorerst - und vor dem 23.Juli - muss Zatlers Reformschwung vielleicht nur eines fürchten: dass in Lettland jemand auf die Idee käme, Facebook-Parties zu verbieten ...

Quo vadis Lettland?

Die lettische Politik ist seit der Unabhängigkeit 1991 nie stabil gewesen, die anfänglich gegründeten Parteien haben sich bis zur Unkenntlichkeit gewandelt und vermischt. Fast jeder hat schon einmal mit jedem, ausgenommen die verschiedenen russischen Fraktionen. Mit einem Wort, Politiker wie Wähler waren alles andere als beständig, was während zweier Jahrzehnte in einer ebenso unbeständigen und an kurzfristigen Zielen orientierten Politik niederschlägt, nimmt man den Beitritt zu NATO und EU aus. Die Überhitzung der Wirtschaft danach wurde auch ohne Finanzkrise nicht bekämpft.

Zweifelsfrei liegt die Ursache im fehlenden Verständnis des politischen Prozesses in der Bevölkerung, die nur zu gerne den Staat populären Personen anvertraut hat, um sich anschließend enttäuscht abzuwenden und der daraus resultierenden subjektiven Einschätzung der Politiker über ihre politischen Zukunft. Nicht selten waren dabei persönliche Animositäten wichtiger als Sachfragen, Personalentscheidungen schwierig und Ursache von Regierungsstürzen. 1999 wurde die später populäre Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga unterstützt von der konservativen Regierungsfraktion Für Vaterland und Freiheit zusammen mit der damals größten Oppositionskraft, der Volkspartei des beliebten Andris Šķēle, gegen welche sie sich an einer Minderheitsregierung unter der Führung von Lettlands Weg beteiligt hatte.

Nach den Wahlen 2010 gibt es nur noch fünf Fraktionen im Parlament – historisch wenig, doch Lettland hat nie wie das benachbarte Estland Listenkoalitionen verboten, weshalb nunmehr keine einzige dieser Fraktion aus nur einer Partei besteht. Der lettische Politologe Andris Runcis zählte vergangenen Herbst 18 Parteien. Die Koalition besteht nun erst mals nach der Wiedererlangten Unabhängigkeit nur aus zwei Fraktionen von denen eine zweifelsfrei unter dem Einfluß des als wichtigem Oligarchen geltenden Bürgermeisters der Hafenstadt Ventspils, Aivars Lembergs, steht. Lembergs gilt als Kandidat für das Amt des Regierungschefs ohne je zu kandidieren. Diese Union aus Grünen und Bauern hat dieses Jahr bereits in der Ombudsmann-Frage einem anderen Kandidaten zum Sieg verholfen, als ihn die Partei des Regierungschefs Valdis Dombrovskis, Einigkeit, favorisierte. Zugestanden haben sich die Parteien in beiden Nominierungen lange geziert, konkrete Namen zu nennen. Nunmehr ging es mit gleichem Ergebnis um die ungleich wichtigere Präsidentschaftswahl.

Dabei überschlugen sich die Ereignisse in diesem Frühjahr. Pikant ist neben dem Umstand, daß Valdis Zatlers damit vom Parlament das Mißtrauen ausgesprochen wurde und eine zweite Amtszeit versagt blieb, daß der Präsident wenige Tage zuvor der Verfassung entsprechend die Parlamentsauflösung angeregt hatte, worüber nun im Hochsommer das Volk wird abstimmen können. Grund für diesen ebenfalls historischen Schritt war die Ablehnung des Parlamentes, dem als weiterer Oligarchen geltenden Ainārs Šlesers die Immunität zu entziehen, wie es die Staatsanwaltschaft gewünscht hatte. Der kleinere Koalitionspartner beeilte sich später zu erklären, man sei mit der Abstimmung überrumpelt worden und habe jetzt mehr Informationen, die auf jeden Fall für einen Entzug der Immunität sprächen und die Fraktion würde jetzt anders abstimmen.

Die lettische Politik wird immer undurchsichtiger, Prognosen für die vermutlich anstehende vorgezogene Neuwahl schwieriger. Das russische Harmoniezentrum kann eigentlich nur gewinnen, während von der Einigkeit viele Wähler auch enttäuscht sind. Wie viele sie dennoch als das kleinere Über betrachten werden, ist gegenwärtig völlig offen. On das Hin und Her der Union aus Grünen und Bauern das eigene Klientel überzeugt ebenso. Sicher ist, daß diese Partei vor allem auf dem land bevorzugt wird, wo wiederum die konservative Lettlands Zeitung die bevorzugte Lektüre ist. Diese steht einer Kooperation mit der russischen Partei alles andere als wohlwollend gegenüber. Nachdem nach der letzten Wahl die konservativen Teile der Einigkeit eine Koalition mit dem Harmoniezentrum blockiert hatten, scheint diese in zwanzig Jahren immer von der Macht ausgeschlossene Partei die Partnersuche zu erweitern. Bereits jetzt gäbe es theoretisch eine Mehrheit für das Harmoniezentrum mit der Union der Grünen und Bauern, die mit einer Stimme reichlich knapp ist. Die Fraktion des nun verschonten Šlesers hätte noch einmal acht Sitze.

Man mag Ministerpräsident Valdis Dombrovskis zugestehen, daß er wirklich Lettland erfolgreich durch die Krise steuern möchte, aber obwohl bei der Wahl im Oktober 2010 sehr viele neue Gesichter ins Parlament eingezogen und zwei der drei Oligarchen, Ainārs Šlesers und Andris Šķēle mit ihrer nun gemeinsamen Liste mit nur acht Abgeordneten abgestraft worden waren, nach wie vor genug alte Seilschaften im Parlament vertreten sind. Weder Šlesers noch Lembergs Verpflichtungen wurden je hinreichend untersucht. Eine Steuererklärung ist auch nach 20 Jahren nicht eingeführt und auch die Privatisierungsvoucher, welche in Estland von vornherein auf eine Gültigkeit von zwei Jahren beschränkt waren, ist diese in Lettland immer wieder verlängert worden und die von der Durchschnittbevölkerung lange verkauften Papiere sind inzwischen im Wert gestiegen und werden aller Wahrscheinlichkeit von Einzelpersonen gehalten, die auf die letzten Filetstücke der Privatisierung warten wie etwa den lettischen Wald.

Freilich, es wäre zu einfach, dies nur der politischen Elite vorwerfen zu wollen. Es ist nichts Neues, daß die genannten als Oligarchen geltenden Personen im Volk ihre Anhänger haben, was besonders für Aivars Lembergs gilt, den seine Partei als Kandidaten für den Regierungschef plakatiert ohne daß er jedoch auch nur für ein Mandat kandidieren würde. Insofern ist der Unmut in Lettland groß, die Zustimmung zu vorzeitigen Neuwahl wahrscheinlich. Doch gleichzeitig ist nicht zu erwarten, daß die Anhänger der verschiedenen politischen Kräfte sich so deutlich anders verhalten werden als vor einem Dreivierteljahr zumal auch völlig unklar ist, woher gegebenenfalls unverbrauchte Kandidaten kommen sollen – vom scheidenden Präsidenten einmal abgesehen.

War Valdis Zatlers von den Oligarchen 2007 aus dem Hut gezaubert worden, um einen Gegenpol zur politisch aktiven Vorgängerin zu werden, so hat sich dieser im Amt stark gewandelt. Der nun gewählte Andris Bērziņš, den die ausländischen Medien mit einem gleichnamigen früheren Ministerpräsidenten verwechselt haben, ist nicht unbedingt ein unbeschriebenes Blatt. Der 66jährige hat seine Karriere in der Sowjetzeit begonnen, leitete bis zum Verkauf an die schwedische SEB eine der größten Banken des Landes und gehört zum Dunstkreis von Lembergs, ist Abgeordneter der Union aus Grünen und Bauern. Wie er sich verhalten wird, bleibt abzuwarten. Abzuwarten bleibt ebenfalls, welche Kräfte in der regierenden Einigkeit, die vermutlich auch aus den kommenden Wahlen nicht deutlich geschwächt hervorgeht, wie stark werden und eine Koalition mit dem Harmoniezentrum möglich wäre. Neben allen tatsächlichen und geargwöhnten Kontakten dieser politischen Kraft mit Moskau ist sie nun mitverantwortlich für die Niederlage von Zatlers. Spannend dürfte folglich auch die Regierungsbildung werden, denn allein der Präsident nominiert einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Der wird dann aber bereits Andris Bērziņš heißen und seine Wahl muß weder auf einen gewählten Abgeordneten fallen noch einen Vertreter der stärksten Fraktion oder auch nur des größten Partners einer allfälligen Koalition. Der neue Regierungschef könnte also auch Lembergs heißen.

6. Juli 2011

Blaues am lettischen Himmel

Ein weiteres Beispiel, wie Film vielleicht zum gegenseitigen Verständnis zwischen verschiedenen Völkern beitragen kann, ist in diesem Jahr nach "Poll" (siehe Premierenbericht) und "Tanz zu Dritt" nun "Das Blaue vom Himmel".
Eines unternimmt auch dieser neue Film nicht, bei dem Hans Steinbichler Regie führt: sich ganz auf eine deutschbaltisch-traditionelle Sichtweise beschränken. Vor allem in Bezug auf "Poll" hat es diese Diskussionen gegeben: kann es auch eine andere Sicht auf die deutsche Vergangenheit in Riga und in Lettland geben als die übliche deutschbaltische Mehrheitsmeinung? Chris Kraus kämpfte darum, malte aber mit "Poll" auch ein teilweise bewußt überzeichnetes Bild. In "Das Blaue vom Himmel" geht es eher um die zarten, die sensiblen Töne. 

Der Film startet keineswegs beschaulich - nur einen kurzen Moment lang, als gleich am Anfang des Films alte lettische Volksweisen im Hintergrund erklingen. Ein gutes Stilmittel, denn es wirkt auf diejenigen, die Lettland kennen, gleich wie ein Versprechen dass es hier ernsthaft um Lettisches gehen wird. 
Eine alte Frau nimmt sich ein Taxi und verläßt plötzlich das Heim in dem sie untergebracht ist. Unvermittelt wird sie für ihre Umgebung zum unberechenbaren Faktor: menschlich, gesellschaftlich, emotional. Hannelore Elsner in einer schauspielerischen Paraderolle der Marga Baumanis: unglaublich präsent, authentisch, lässt sie auch den Zuschauer die wechselnden Zeit- und Personenebenen leicht überbrücken. Die Tochter Sofia erhält einen Anruf aus einer psychatrischen Klinik, wo Marga eingeliefert worden ist, nachdem sie in einer Villa im wahrsten Sinne des Wortes viel Porzellan zerschlagen hat. Es ist das Jahr 1991, und Sofia arbeitet als Journalistin bei einem Nachrichtensender, der gerade dabei ist Berichte über die Ereignisse in Riga zu zusammenzustellen. Kurz flackert im Film das Stichwort vom Hitler-Stalin-Pakt auf, vom unfreiwilligen Anschluß an die Sowjetunion, von Straflagern in Sibirien und von der Aussiedlung der Deutschbalten.

Sofia (Juliana Köhler) merkt bald, dass ihre Mutter von Dingen erzählt, von denen sie nie vorher etwas gehört hatte. Die Kommunikation mit der Mutter scheint schon vor langer Zeit versiegt zu sein (Sofia zu ihrem Mann: "Du hast Dich doch immer besser mit ihr verstanden"). Da sie von ihrer Chefredaktion sowieso den Auftrag hat etwas zur Situation in Riga auszuarbeiten, entschließt sie sich zusammen mit ihrer Mutter hinzufahren. Auf diese Weise werden zwei dramatische Zeitebenen in der Filmhandlung zusammengeführt: einerseits die letzten Tage von Deutschen und Letten im beschaulichen Jurmala, kurz bevor zunächst die Okkupation durch Sowjetrussland und dann der Krieg beginnt. Und andererseits die Ereignisse im Januar 1991, als Tausende Menschen in der Altstadt mittels Barrikaden ihr Parlament, das gerade die Erneuerung der Unabhängigkeit beschlossen hat, vor anrückenden paramilitärischen pro-sowjetischen Einheiten schützen wollen. Im Gegensatz zu "Poll" braucht es hier keine Versicherungen, dass die Filmhandlung auf historischer Grundlage entstanden sei - das eine ist klar sichtbar, und das übrige wird in die Vergleichbarkeit einer Mutter-Tochter-Beziehung verlagert, die zumindest alle Mütter und alle Töchter gut kennen. Ich weiß nicht wie es anderen Kinobesuchern gehen wird: in meinem Fall war die Zahl der im voll besetzten Kino anwesenden Männer sehr übersichtlich. 

Aber auch wenn dieser Film auf einem weiblich besetzten Beziehungsnetzwerk zu bauen scheint, ist es weit mehr als nur ein "Frauenfilm". Vielleicht werden Deutschbalten ein weiteres Mal beleidigt sein, weil "zu wenig" vom realen Leben deutschbaltischer Familien zu sehen ist. Das im Film dargestellte Familiengefüge, mit samt der sie umgebenden Dienerschaft, erweist sich als sehr stark lettisch orientiert. Und wenn es denn so ist, dass Lettinnen und Letten sich plötzlich als Familienmitglieder oder zumindest enge Freunde herausstellen, dann muss auch etwas getan werden für die lettische Sichtweise, so wie sie sich bereits vor 1939 entwickelt hatte und wie sie danach in Sowjet-Lettland weiterging. Für die gewöhnlichen deutschen Kinobesucher ist diese Sichtweise meist genauso unbekannt wie die seltsamen Geschichten von Juris und Osvalds, die Mutter Marga plötzlich so erzählt, als ob die erwähnten Personen lebendig im selben Zimmer ansprechbar seien. Zusammen mit höchst emotionalen Geständnissen werden auch Kenntnisse vermittelt - eine höchst effektive Art des Lernens. Denn im Gegensatz zu manchen handelnden Protagonisten haben ja die Zuschauer noch nicht das Ende ihres Lebenshorizonts erreicht und können weiter denken und handeln.

Gegen Ende wird im Film immer mehr Lettisch gesprochen - erfreulich echt und ungekünstelt (es hätte ja auch synchronisiert werden können, wie in den meisten in Deutschland gezeigten Filmen üblich). Sogar das meistert Hannelore Elstner professionell (Lettisch als Sprache der verschollenen Kindheit - in den deutschsprachigen Passagen dann konsequent mit rollendem "R" ausgesprochen). Und auch Karoline Herfurth (als junge Marga) trägt mit ihrer eindrucksvollen Spielweise einiges zur Qualität des Films bei (vielleicht kann sie die Geschichte besonders gut nachempfinden, da auch ihre Eltern sich trennten als sie erst zwei Jahre alt war?). Bei den lettischen Filmfiguren wird darauf verzichtet, diese nun mit lettischem Akzent Deutsch sprechen zu lassen (was konsequent wäre, aber für die sich in einem einzigen Zimmer sich abspielende finale Dramatik verzichtbar ist). 
Vielleicht ist eine so sensible Umgangsweise mit potentiellen interkulturellen Schwierigkeiten auch der zwar deutschsprachigen, aber dennoch internationalen Crew der Filmemacher zu verdanken: der Regisseur ein Schweizer, einer der zwei Drehbuchautoren ein Österreicher. Steinbichler sagt allerdings auch, er habe den Teil des Drehbuchs, der ausführlich von weiteren Details lettischer Geschichte erzählt, erheblich zusammengestrichen. Es hat dem Film offenbar nicht geschadet - ein Film, den man sich in lettischer Fassung auch in lettischen Kinos wünschen würde. 

Noch ein Highlight des Films: die Filmmusik. Auch hier ist mit Niki Reiser ein geborener Schweizer aktiv. Es ist wahrlich ein musikalischer roter Faden geworden, der nicht zu pompös und nicht zu unscheinbar daherkommt, gerade genug um die leichte Unruhe aufrechtzuerhalten, die sich auch in der Figur der Mutter spiegelt, von der die Zuschauer nur ahnen kann, dass sie sowohl sehr schöne wie auch sehr schreckliche Dinge verbindet. 
"Der Film ist eine Geschichte über die Hürden und Möglichkeiten des Verzeihens," läßt sich Regisseur Steinbichler zitieren. Die Leistung des Films ist aber, dass es hier nicht nur einfach darum geht, ob nun die Tochter der Mutter oder die Mutter der Tochter verzeiht. Wer sich als Zuschauer einläßt auf die Geschichte, der (oder die) wird leicht erkennen, dass hier noch in manche Ecken der Erinnerung (und der Geschichte) hineingeleuchtet wird, in die bisher niemand hineinsah, der entweder nur die lettische oder nur die deutsche Geschichtsschreibung kannte. Auf welcher Seite der Geschehnisse man selbst steht, muss am Schluß jeder für sich selbst entscheiden. Der Film endet abrupt, aber mit einer Andeutung, dass dies nicht das einzige mögliche Ende ist. 

Webseite zum Film (mit Kinofinder)