12. Januar 2012

Cēsis international

Ungewohntes Aufsehen diese Woche um das nordlettische Städtchen Cēsis: die englische BBC nahm den Ort als plakatives Beispiel für einen Vergleich der heutigen Situation Lettlands mit der Euphorie am Abend des EU-Beitritts 2004. Die lediglich 100 Sekunden lange Fernsehbeitrag zeigt eine graue Stadt, in der Läden und Schulen leerstehen, heruntergekommene Hausfassaden und zumeist junge Menschen am Flughafen Riga, denen die Absicht der Ausreise zum Geldverdienen in anderen EU-Ländern unterstellt wird.
Was prägt den Ruf der Stadt Cēsis mehr? Zufällige
Eindrücke (wie z.B. auch auf diesem Foto), böswillige
Journalisten, oder das Image der ganzen Region?
Eine neue Studie würde 100.000 weitere Arbeitsemigranten in den kommenden drei bis vier Jahren vorhersagen, so kommentiert die TV-Sprecherin, und das seien zumeist junge Leute direkt nach dem Schulabschluß, die Lettland selbst so dringend brauchen würde.

Außer der erwähnten Studie sind zwei mündliche Äußerungen von lettischer Seite filmisch eingebaut: ein junger Mann bestätigt dass viele Arbeit im Ausland suchen, und eine inzwischen nach Riga umgezogene Lettin bestätigt den krassen Unterschied zur Hauptstadt. - Amtsträger und Lokalpolitiker allerdings zeigen sich in der lettischen Presse empört: die im Film gezeigte Schule sei schließlich bereits seit 10 Jahren geschlossen, und trotz der Kürze des Beitrags würde der Name Lettlands international eben so selten genannt, als dass eine solche Darstellung einfach hingenommen werden könne.
Blick auf Cēsis - durch die Werbebrille der Touristik
(ein Foto des örtlichen Tourismuszentrums)
Natürlich schaut in Cēsis nicht jeder englisches Fernsehen. Um so eifrigere Antworten können lettische Medien aber auch von aktiven Bürgern erwarten, die sich für die Stadt einsetzen. "Ich weiß nicht, warum man ausgerechnt unsere Stadt so negativ herausstellt. Das Kulturleben ist sehr aktiv, ist gibt viele aktive Bürgergruppen", erzählt Kadrija Mičule, Mitarbeiterin des Kulturzentrums in Cēsis, der Zeitung Neatkarīgā. Aber auch sie weiß, dass der gute Ruf der Stadt nicht noch weitere Jahrzehnte nur von Symbolveranstaltungen wie den "Imanta-Dienas" (erstes Juliwochenende) oder dem Cēsu Mākslas festivāls (Festival der Kunst) leben kann - es geht um Arbeitsplätze.

Auch Vertreter des örtlichen Tourismusbüros zeigen sich überrascht, dass die BBC gerade Cēsis, die Stadt die 2007 ihren 800.Geburtstag feierte, als schlechtes Beispiel herausgestellt habe. Die Stadt sei im Vergleich sehr sauber und aufgeräumt, und auch die Gästenzahlen seien in letzter Zeit nicht zurückgegangen. Jānis Rozenbergs, stellvertretender Bürgermeister der Stadt, läßt sich sogar mit Äußerungen zitieren, ähnliche Filmchen wie bei der BBC könne man "überall auf der Welt" herstellen (LETA/Apollo.lv). Seinen Angaben zufolge könne man den Steuereinnahmen nach nicht behaupten, dass gerade hier die größten Einbußen vorzufinden seien. Was einen möglichen Rückgang der Bevölkerungszahlen angeht, so möchte er aber auf die offiziellen Ergebnisse der 2011 vorgenommenen Volkszählung abwarten. Gerichtlich habe die Stadt nicht vor, gegen die BBC vorzugehen - es gäbe Wichtigeres zu tun.

Auch die meisten Leserreaktionen auf den verschiedenen Internetportalen verteidigen ihre Stadt. Zwar gibt es auch Reaktionen direkt zum Film, die schlicht "ist doch alles genau die Wahrheit!" sagen, aber viele verweisen auch darauf, dass sicherlich in London auch schmuddelige Ecken zu finden seien. "Gerade die Menschen aus Cēsis sind doch als diejenigen bekannt, die immer wieder nach Hause zurückkehren", zitiert auch die "Lauku Avize" eine Einwohnerin. Unverkennbar ist auch, dass die meisten Lettinnen und Letten besonders die vorhandenen kulturellen Werte der Stadt verteidigen und herausstellen - unklarer werden die Perspektiven, wenn es um die Wirtschaft außerhalb des Tourismus geht. Gerade jüngere Leute werden zitiert mit Aussagen, dass sich der Kreis derjenigen die wegziehen erweitert habe: früher seien es nur die Arbeitslosen gewesen, heute bereits die Kleinunternehmer. Zu wenig Perspektiven in der Landwirtschaft, zu viele schicke Supermärkte, die anderen das Geschäft verbauen? "Beim Arbeitsamt gibt es Kurse für Spezialisten der Nagelpflege - aber wo sollen die reichen Damen herkommen, die dann unsere Kunden sein sollen?" wird eine Arbeitslose zitiert.

Dem stimmte auch der lettische Präsident Andris Bērziņš bei einem Besuch Ende November zu: bei der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmern gäbe es noch viel zu tun.
Die Tourismuswerbung führt für Cēsis ganze fünf Beispiele unter der Rubrik "hergestellt in unserer Stadt" auf: Bier, Honig, Webstoffe, ein Konditor und das Wasser einer "heiligen Quelle".
Oder sollte man nicht von Glück reden, dass die Fernsehleute nicht gerade vorbeischauten, als vor wenigen Wochen Tausende Kontoinhaber von einer Bank zur anderen geschickt wurden, nur um an Bargeld zu kommen? Zur Imageverbesserung wird inzwischen einiges getan - in die Tourismuswerbung fließen üppige EU-Millonen. Hoffentlich bleibt auch noch etwas für die Entwicklung einheimischer Perspektiven übrig, denn es kann ja kein Ziel sein, nur noch zu einem sauber geputztes Museumsdorf zur Erbauung von Kurzzeittouristen zu werden.

Der BBC-Fernsehbeitrag
ein offizielles Werbevideo von Cēsis

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