28. Januar 2012

Lettlands Verfassungsreferendum

Es gibt in Europa verschiedene Länder mit mehr als nur einer Amtsprache und dies aus verschiedenen Gründen. Die Iren wollen mit dem Gälischen eine Tradition bewahren, die Schweiz mit Rätoromanisch eine kleine Sprache vor dem Aussterben schützen, während die Finnen ihren früheren Herren, den Schweden, die Sprache als offizielle zugestehen. In keinem der genannten Fälle bedeutete dies freilich, daß jede Amtsperson die entsprechenden Sprachen auch alle beherrschen müßte.
In Lettland wird nicht zum ersten Mal verlangt, Russisch solle zweite Amtssprache sein. Aber der Fall verhält sich hier ganz anders. Die russische Beherrschung bis zum Ersten Weltkrieg liegt zwar schon länger zurück, nicht jedoch die sowjetische. Das war ein halbes Jahrhundert, in dem, ohne daß dies heute mit einem zentralen Dokument aus Moskau beweisbar wäre, Russen in großer Zahl in Lettland angesiedelt wurden. Auf dem Papier war in der lettischen sozialistischen Sowjetrepublik zwar das Lettische Amtssprache, im Alltag war darauf aber nicht unbedingt Verlaß. Als das Land 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unabhängig wurde, stand es vor der Realität, daß etwa 100% der Bevölkerung des Russischen mächtig waren, aber bei weitem nicht so viele des Lettischen. Die Majorisierung im eigenen Land, auch Russifizierung genannt, die Sorge vor dem Überleben der eigenen Kultur, war eine wesentliche Triebfeder des Widerstands gewesen.
Die Letten setzten 1993 ihre alte Verfassung wieder in Kraft, deren Artikel 4 Lettisch als Staatsprache vorsieht. (Ergänzung: Die Amtssprache wurde erst 1998 hinzugefügt. Nach dem Putsch 1934 war ebenfalls Lettisch einzige Amtsprache geworden, vorher war sie es nicht) In den folgenden Jahren gab es Sprachkommissare, die beispielsweise auf dem Rigaer Zentralmarkt ihre Kontrollgänge machten und der nunmehr einzigen Staatssprache nicht mächtige russische Verkäuferinnen mit harten Strafen belegten. Damit schaffte es Lettland in die Berichterstattung in Westeuropa nicht nur einmal.
Die politische Vertretung der russischsprachigen Bevölkerung, unter der nach wie vor rund 300.000 Menschen nicht Staatsbürger sind, verlangte den Status der Staatssprache für das Russische nicht nur einmal.. Jetzt versucht es erneut Vladimir Linderman.
Linderman stammt aus Lettland und beherrscht Lettisch. Er ist ein Aktivist der Nationalbolschewisten, einer teils nationalistisch und antikapitalistischen wie auch antiwestlichen Partei. Einst wegen Sprengstoffbesitzes in Lettland verhaftet, flüchtete sich Linderman für einige Jahre nach Rußland, wurde aber auch dort schließlich verhaftet und ausgeliefert. In Lettland konnte man ihm anschließend nichts nachweisen, er kam auf freien Fuß.
Unter seiner Führung wurden nun Unterschriften für eine Verfassungsänderung gesammelt, die Russisch als zweite Amtssprache anerkennen soll. Und das ist nicht nur ein emotionales Problem, sondern auch ein juristisches. Der Präsident muß laut Verfassung einen von 10% der Wahlberechtigten unterzeichneten fertigen Gesetzesentwurf dem Parlament vorlegen, So geschehen, lehnte das Parlament wenig überraschend die Änderung von Artikel 4 der Verfassung ab, welcher Lettisch als Amtssprache festlegt. Gleichzeitig ist Artikel 4 einer derjenigen, die das Parlament gar nicht ohne anschließendes Referendum ändern könnte. Bei einem solchen Urnengang müßten der unübersichtlichen Regelung zu Beteiligungs- und Votenquoren in der lettischen Verfassung 50% der Wahlberechtigten nicht teilnehmen, sondern mit ja stimmen.
Das hat nun in Lettland eine Debatte darüber ausgelöst, was die Grundlagen des lettischen Staates sind, und ob diese durch eine Volksabstimmung überhaupt ausgehebelt werden können und dürfen oder nicht. Die Diskussion ist vergleichbar mit der Frage, ob via Referendum etwa die Todesstrafe eingeführt werden könnte oder abstrakter formuliert, sind verfassungswidrige Verfassungsänderungen per Volksentscheid möglich. Da hier Zweifel bestanden, wurde das Verfassungsgericht angerufen. Gerade nationalistische Kräfte erhofften sich, den von der Zentralen Wahlkommission angesetzten Termin der Abstimmung am 18, Februar gänzlich auszusetzen.
Das Verfassungsgericht ließ die Abstimmung zu. Und so wird ein interessantes Referendum stattfinden. Daß 50% der Wahlberechtigten Russisch als zweite Amtssprache wünschen, kann wohl ausgeschlossen werden. Schon aber beginnen die Debatten, welche Aktion zur Ablehnung besser ist: mit nein stimmen oder boykottieren. Präsident Andris Bērziņš hat bereits gesagt, daß er dem Urnengang seine Stimme verweigert. In der Tat, Enthaltung und Nein-Stimme haben denselben Effekt.

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