21. Januar 2012

Von Sprache und Verständnis

Am Samstag, den 18.Februar 2012 werden alle wahlberechtigten Einwohner Lettlands erneut zu einer Volksabstimmung an die Wahlurnen gerufen werden. Nein - diesmal geht es nicht schon wieder um eine vorzeitige Entlassung des ganzen Parlaments (obwohl manche auch daran sicherlich Vergnügen hätten). Es geht - rein rechtlich gesehen - um die Änderung der Verfassungsparagraphen 4., 18., 21., 101. und 104., und damit um die Forderung nach Einbeziehung der russischen Sprache als gleichberechtigt nutzbarer Sprache auf den Ebenen des Parlaments, der regionalen Selbstverwaltung und der Informationen an Bürgerinnen und Bürger. Bis zum Freitag dieser Woche hatte ein Teil der Politiker und Parteien noch darauf gehofft, die Konfrontation einer Volksabstimmung vielleicht umgehen zu können; aber das lettische Verfassungsgericht wählte nicht diesen scheinbar bequemen Weg, das Referendum kann stattfinden. Nun könnte man fragen: kann das sein - darf das sein? Durch eine öffentliche Abstimmung essentielle Grundsätze der lettischen Verfassung in Frage stellen, die doch erst durch harte und langwierigen Einsatz im Zuge der lettischen Unabhängigkeitsbewegung wieder in Kraft gesetzt werden konnte?

Keine gemeinsame Sprache möglich?
Es runāju Latviski – tu ari?
Ein Volksbegehren kann von Bürgern in Lettland dann eingeleitet werden, wenn mindestens 10.000 der Wahlberechtigten ihre Unterschrift dazu geben. In den vergangenen Jahren war eher zu beobachten gewesen, dass zwar radikal lettisch-nationalistische und radikal russisch-nationalistische Aktivisten sich gegenseitig zu immer neuen lautstarken Versuchen anstacheln den angeblich großen Rückhalt ihrer Pauschalisierungen und vereinfachten Denkweisen in der Gesellschaft nachweisen zu müssen - aber immer glaubten die eher liberal Eingestellten darauf hoffen zu können dass beide extreme Richtungen eine Randerscheinung bleiben. Unterschriftenaktionen der Nationalisten zum weitergehenden Ausschluß des Russischen aus dem öffentlichen Leben (z.B. Schulunterricht nur in Lettisch) waren zwar immer wortgewaltig und erzeugten die (gewünschte?) Reaktion in Moskau und in der russischen und manchmal in der internationalen Presse, waren aber weit davon entfernt mehrheitsfähig zu sein. Für viele Letten wurde das Zusammenleben mit russischsprachigen Mitmenschen in sofern auch nach der lettischen Unabhängigkeit normal, als dass man sich gegenseitig in Ruhe ließ. 

Warum hätte es also mit dem Versuch, Russisch als zweite offiziell gleichberechtigte Sprache per Volksabstimmung durchzusetzen, anders ausgehen sollen? Vielleicht war es aber die allgemeine Stimmungslage nach den politischen Hängepartien des Jahres 2011, vielleicht auch die wiederholte Nicht-Berücksichtigung der russisch orientierten Parteien bei der Regierungsbildung. Bis gestern haben vielleicht viele Letten gedacht: es wird schon an uns vorüber gehen, uns überhaupt zu einer von russischer Seite vorgetragenen Initiative verhalten zu müssen. Wer wird schon für eine solche Initiative unterschreiben, wenn nur Unterschriften volljähriger lettischer Staatsbürger gezählt werden dürfen? 12.533 Unterstützer gaben im November die Antwort (siehe Blogbeitrag). Nun gut, wenn es schon stattfinden muss, vielleicht könnte man einfach gar nicht hingehen? Wenn die Initiative schon gegen Teile der Verfassung gerichtet ist - vielleicht verbietet das Verfassungsgericht die Abstimmung? Jetzt erst schwenken die Politiker um: Regierungschef, Parlamentspräsidentin und Präsident rufen nun unisono zur Beteiligung am 18.Februar auf.

Wir und die anderen
Dabei erscheint die Atmosphäre zunehmend vergiftet. In Diskussionen wird kaum ein Argument akzeptiert, das "der anderen Seite" nützlich sein könnte. Manchmal scheint die Denkweise der lettischen Seite auch immer noch von Verächtigungen gegenüber "Agenten" und "Verrätern" bestimmt, und von Mißtrauen gegenüber "Wende-Kommunisten" sowieso. 
Vom Eingeständnis der Okkupation Lettlands durch die Sowjettruppen schwenkte auch Bürgermeister und Oppositionsführer Ušakovs auf die Unterstützung der Unterschriftenkampagne um – seine Partei „Saskaņas Centrs“ hätte vielleicht in der Gefahr gestanden, die Initiative und damit an Ansehen zu verlieren innerhalb der potentiellen Wählerschaft. Auch nach 20 Jahren Unabhängigkeit, 20 Jahre selbst für die Geschicke des eigenen Landes verantwortlich sein, haben Korruption, soziale Ungleichheit, fehlende angemessen bezahlte Arbeitsplätze und individuelle Extratouren vieler Politiker und Geschäftsleute immer noch kein ausreichendes Vertrauen darin hervorrufen können in den Nutzen demokratischer Instutionen. Viele denken allenfalls in "Notlösungen": wer überlebt, seine Familie ernähren kann und dafür nicht gleich auswandern muss, hat schon viel erreicht. Das Vertrauen, mitbestimmen zu können, gehört zu werden, gerecht behandelt zu werden, gehört bei vielen immer noch nicht dazu - ob russisch oder lettisch sprechend. Und diejenigen, die sich vielleicht materiell selbst einigermaßen absichern konnten - wer von denen zeigt sich dann noch sensibel und gleichzeitig engagiert für die Belange der gesamten Gesellschaft, also nicht nur der eigenen?
Wird eine per Volksentscheid entschiedene Frage der offiziellen "Staatssprache" etwas zum Positiven ändern? Momentan sieht es eher aus wie einer neue Chance zur Verhärtung der Extreme. Auf der einen Seite werden Reden gehalten, nun müssten "alle Letten zusammenstehen" um "Freiheit, Sprache und unsere alten Werte" zu retten (so Nationalistenführer Raivis Dzintars). Und während absehbar ist, dass auf dem Referendumswege keinesfalls eine Mehrheit für Russisch als zweite Amtssprache erreichbar sein wird, reden sich eben andere auch schon wieder für die Beschimpfungen warm, ganz Lettland sei eben undemokratisch. Wie das Klima zwischen den beiden großen Volksgruppen in Lettland nach dem Referendum aussehen könnte, bleibt im Hinblick auf hier notwendige pragmatische Visionen ziemlich unklar.

Lettische Verfassung (engl. Sprachfassung)
Lettische Verfassung (lettischer Text)
Übersicht zu den vorgeschlagenen Änderungen (lettisch)

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