29. November 2012

Träumen wir mal ....

Pünktlich zum Nationalfeiertag - ein Jahr später als geplant - kam in Lettland ein neuer Film in die Kinos, der mit einigem Recht auch ein wenig als Motivationsmaßnahme für die eigenen Landsleute bezeichnet werden kann. Da ist auch nebensächlich, ob tatsächlich noch Basketball als Nationalsport Nr. 1 angesehen werden kann: im Jahr 1935 jedenfalls, bei der ersten Ausrichtung einer Europameisterschaft, damals in Genf, holte Lettland den Titel.
Nur die obersten gegenwärtigen Staatenlenker fehlten zur Filmpremiere am 19.11. im Kino Riga ("Splendid Palace"), aber neben mehreren amtierenden Ministern, gegenwärtigen wie ehemaligen Basketballgrößen, gaben sich mit Kārlis Ulmanis, Valdis Zatlers und Vaira Vīķe-Freiberga auch drei Ex-Präsidiale die Ehre.

Produzent Andejs Ēķis kurz vor der Filmpremiere
Im neuen Film von Regisseur Aigars Grauba und Produzent Andrejs Ēķis geht es nicht nur um Sport - obwohl man sich mit der exakten Ausstattung der Schauspieler mit der Originalbekleidung der verschiedenen lettischen Klubs von damals sehr bemüht hat. "Sapņu komanda" heißt ja, ins Englische übersetzt, nichts anderes als "Dream Team" - und wer wollte sich schon mit dem unter diesem Label unumstrittenen US-Amerikanern vergleichen? Schon die südlichen Nachbarn Lettlands, die Litauer, würden bei so einer Anmaßung wohl nur müde lächeln. Nein, ich glaube es hilft hier weiter, die beiden Bestandteile des Titels als getrennt Filmthemen zu betrachten: das eine ist der "Traum", das andere das "Team".

Im Gegensatz zum Monumentalfilm "Rigas Sargi", ebenfalls mit Grauba als Regisseur, und ebenfalls eines der nationalen Mythen bearbeitend, wird in "Sapņu komanda" nicht so hollywoodesk übertrieben: es wird nur auf dem Spielfeld gekämpft, und wenn man will (und schon mal zu Besuch im kurländischen Kinostädchen "Cinevilla" war) lassen sich die Begrenztheiten dieser Produktion auch klar erkennen. So muss der Bahnsteig von Cinevilla gleich für die Darstellung mehrerer Städte in Europa herhalten, zur Illustrierung Schweizer Verhältnisse muss ein einzelnes auf Karton aufgeklebtes historisches Tourismusplakat herhalten, und auch ein Telefonapparat aus dem Museum kommt zum Einsatz. Und auch wenn im Film die Spielberichte aus der Zeitung ausgeschnitten werden, sieht es eher aus wie Schnippeleien an Kopierpapier. - Dafür wird umso mehr Mühe darauf verwandt den lettischen Kinobesucherinnen und -besuchern deutlich zu machen, was ein "Team" ist - und vor allem, was es nicht ist. Im Lettischen steht ja der Begriff "Komanda" an dieser Stelle, der eher an kommandieren denn an sich gegenseitig helfen erinnert. Und nur allzu bekannt ist der Spruch von der Lieblingsspeise der Letten (ein anderer Lette!). Auch in der Gegenwart ist nur allzu bekannt, dass eher gewartet wird bis andere Fehler machen, um dann vielleicht dessen Position einnehmen zu können - Teamarbeit aber, die eigene Leistung zurückzustellen im Dienste des gemeinsamen Erfolgs - vielen Letten scheint es sogar mit lettischer Mentalität nicht vereinbar.

Sicherlich sind die Muster in "Sapņu komanda" sehr einfach geschnitten: ein Spiel, ein Match wird nur verloren, wenn entweder der Gegner Foul spielt oder die eigene Mannschaft unkonzentriert ist. So ist es schon im Spiel der beiden besten lettischen Mannschaften gegeneinander, und so ist es bei den Spielen der Europameisterschaft. Im Vorbereitungsspiel gegen Litauen kommt eine kleine Variante hinzu: am Abend zuvor trinken alle Spieler (bis auf einen) Wein, es bleibt nicht genug Energie für kraftvolles Spiel. Dennoch ist der Film nicht von moralischen Lehrsätzen durchzogen: vor allem Schnitt und Musik überzeugen, bringen Schwung in die Handlung, erweitern das Filmerlebnis über die reinen Sportergebnisse hinaus. Erstaunlich auch, wie es Regisseur Grauba gelungen ist, einige Charakterzüge europäischer Nationen erstens witzig herauszukehren und zweitens komplett mit lettischen Schauspielern zu inszenieren. So wirkt etwa der spanische Basketballtrainer wie eine Mischung aus gemütlichem Weinbergbesitzer und unwiderstehlichem Schwerenöter, und Schweizer Funktionäre scheinen der Inbegriff menschlicher Schlechtigkeit zu sein. Ob den Schweizern auch im Gegenzug die Darstellung eines Schweizer Volksmusikabends durch lettische Komparsen gefallen werden, wird ihnen selbst überlassen werden müssen.

Wer sich nicht zu schade ist für eine Bahnfahrt
3.Klasse, der darf mitspielen im lettischen "Dream team"
"Latvieši var" - Letten können etwas leisten, wenn sie wollen; ähnlich auch oft die Intonation der Ermutigungsreden Vīķe-Freiberga's zu ihren Präsidentenzeiten. Was die Darstellung historischer Verhältnisse bei Basketballspielen angeht, so zeigte sich die lettische Basketballlegende Valdis Valters in einem Beitrag für die Zeitschrift "IR" sehr zufrieden. Ob die Lebensrealitäten im Lettland von damals hier von Interesse sind - sie sind im Film kein Thema. Gezeigt werden luxeriöse Wohnverhältnisse mit prunkvollen Jugendstiltapeten, treusorgende Ehefrauen und spendable Verwandte. Alles was lettische Museen heute so zu bieten haben, könnte man meinen - eine Art "Retro-Film", wie auch der Filmrezensent in der "Diena" meint. Wie es tatsächlich aussah in Lettland, ein knappes Jahr nach dem "Ulmanis-Putsch", das ist hier kein Thema. Keine einzige Straßenszene, und selbstverständlich keine Politik. Statt dessen hetzen die Sportler in historischen Trainingshosen immer wieder durch den Stadtpark am Bastejkalns. Ziemlich gehäuft treten korrupte Sportfunktionäre und Mäzene mit zweifelhaftem Ruf auf; in dem Moment, als es diesen mit vereinten Kräften zu gelingen scheint, die Fahrt der lettischen Mannschaft nach Genf zu verhindern - da ruft der Präsident an, und alle erstarren vor Ehrfurcht. Selbstverständlich, Herr Präsident, natürlich fahren wir nach Genf!

Vielleicht eine Spur zu ausgesucht vorbildlich geht es
auch im Familienleben bei " "Sapņu komanda" zu:
Familienerbstücke an der Wand, schmucke Tapeten,
und Schwiegeropa hilft bei Geldproblemen gern aus

Nun mögen zwar selbst einige lettische Filmrezensenten daran zweifeln, ob das allzu einfache Grundrezept zur "Teambildung" wirklich realistisch ist - erst Keilerei, dann plötzliche Besinnung auf höhere Ziele und Zack: das Team steht! Auch die Motive, warum Sportfunktionäre derart hartnäckig eine lettische Europameisterschafts-teilnahme behindern, bleiben klischeehaft. Selbst die Details der gezeigten Spielszenen gehen über höchst simple Kommunikation zwischen den Beteiligten nach Art des "Los, wir können es schaffen!" nicht hinaus, wie Kritikerin Laura Lasmane zurecht anmerkt.
Vieles bleibt rein symbolischer Natur: da muss erst ein edler Trainer kommen, hart gegen sich selbst, der selbst noch das lettische Endspiel verlor durch hinterhältige Fouls der Gegner, diesen aber verzeiht und sie nach Genf zum Sieg führt. Aber aus dem täglichen Leben wird jede Lettin und jeder Lette das Thema kennen: etwas mehr Zusammenarbeit kann wirklich nicht schaden!
Der Film ist aber sicher nicht dafür gedacht, mit offenem Geschichtsbuch die Einhaltung historischer Details mitzuverfolgen - dazu bestand eher Grund bei "Rigas Sargi". Bisher existiert nur eine lettische Fassung, aber nicht einmal allen Letten werden angesichts der vielfältigen heutigen Alltagsprobleme solche Ereignisse präsent sein, die unter dem Motto "was in Lettland einmal alles möglich war" laufen könnten.  
Die Kinosäle in ganz Lettland waren in der ersten Aufführungswoche jedenfalls überall voll. Kinobesitzer berichten von vielfachen Applausbekundungen nach Filmende.

Die historischen Vorbilder des Films:
Die Meistermannschaft von 1935
Es darf also geträumt werden. "Damals war Genf für Europa das was heute Brüssel ist", hatte Produzent Ēķis schon bei der Vorstellung der Filmidee gesagt. So gesehen, haben auch die lettischen Bauern etwas vom Film, die kürzlich eher erfolglos für höhere Direktzahlungen in der Landwirtschaft vor dem Europaparlament demonstrierten.
Das Tandem Ēķis und Grauba gilt in Lettland als führende Vertreter von Filmleuten, die "Filme fürs Volk” machen wollen und dazu große Themen und Epochen der lettischen Geschichte ins Visier nehmen. Das galt auch schon für "Baiga vasara" ("der schreckliche Sommer") aus dem Jahr 2000, der den letzten Friedenssommer vor Ausbruch des 2.Weltkriegs zum Thema hat.
Aber selbst der Traum des damals erfolgreichen Meistertrainers Baumanis war im realen Leben nur kurz: er wurde direkt nach dem triumphalen Sieg entlassen (über die Gründe ist auch im Film nichts zu sehen). Eindrucksvoll auch die Liste der weiteren Schicksale der Mitglieder der Meistermannschaft, die im Abspann zu sehen ist: nie wieder spielte diese Mannschaft zusammen. Viele kamen im Laufe des Krieges um, auf Seiten verschiedener Kriegsparteien, andere landeten in Sibirien, oder gingen nach dem Krieg ins Exil.

Eine teilweise offene Frage bleibt vorerst die Filmmusik: leider sagen die verschiedenen Infos der Produzenten nichts darüber aus. Vom ersten Eindruck her eher eine Musik der 40er und 50er Jahre als zum Jahr 1935 passend. Eingespielt worden ist sie, einzelnen lettischen Presseberichten folgend, vom Orchester der lettischen Armee unter Leitung von Dainis Vuškāns und Guntis Kumačevs. Komponist einiger Stücke ist Uģis Prauliņš, es werden aber auch sogenannte "Traditionsstücke der lettischen Armee" gespielt, Benny Goodman, und anderes. Wie gesagt - Schnitt und Musik machen für mich eines der wichtigesten Elemente des gesamten Films aus und heben die Handlung auch für unsportliche Zuschauer hervor aus aller lettischer Provinzialität, so dass mindestens ein unterhaltsamer Filmabend jedem Zuschauer möglich sein sollte.
Filmkritiker Raivis Žvagiņš meint sogar ironisch, "Sapņu komanda" hätte auch zum besten lettischen Musical aller Zeiten werden können - wenn die Schauspieler eben auf dem Spielfeld gesungen und getanzt hätten. Über eine Million Lat hat der Film gekostet - auch wer ihn nicht zu seinem persönlichen Lieblingsfilm machen sollte, kann "Sapņu komanda"  als gutes Anschauungsbeispiel nehmen für die Sehnsüchte, Möglichkeiten, politischen Ansprüche und Grenzen des gegenwärtigen Filmschaffens in Lettland.

26. November 2012

Kolka uncool ....

Wenn die Touristen weg sind ....
Auto- wie Radfahrer stöhnten bisher über die Qualität der Überlandstraßen in Lettland: lehmig, staubig, mit dicke Schottersteinen belegt. Ausgerechnet in einem der bisher abgelegensten Winkel des Landes ist es nun damit vorbei: eine der für lettische Verhältnisse luxuriös ausgebaute Asphaltstraße ("eben wie eine Tischplatte" - sie können endlich unbesorgt während der Fahrt Kaffee trinken) führt von der lettischen Hafenstadt Ventspils schnurgerade zum "Kap Kolka" und zu den wenigen Häusern ehemaliger (livischer) Fischerdörfer.

Und da es auch auf dieser neuen Strecke - wie in Lettland leider üblich - weder einen Randstreifen noch begleitende Fahrradwege gibt, wurden Radler und Wanderer auf Waldwege verbannt. Wer das nicht als super Einladung versteht, mit dem Auto einen Tagesausflug zum "Kap Kolka" zu machen ....? Logisch, dass einige bereits von einem stark steigenden Zustrom von Autotouristen träumen.

Schade nur: zwischen den touristischen Freizeit-verlockungen und ihrer Verwirklichung liegt nun nur noch ein Hindernis: die Küstendünen und der Schutzstatus des Küstenstreifens hier als Nationalpark. Bisher führen zu den wenigen verbliebenen Fischerhäusern und lettischen Sommerhütten nur kleine Privatwege. Von existierenden Parkplätzen aus müssten die Gäste bisher noch 200-300m zum Strand laufen - da hatten offenbar einige bereits den Gedanken, mit Parkplätzen direkt am Meer Fakten zu schaffen, die alle als "ganz normal" empfinden werden, wenn es sie erst mal gibt. Als nächstes vielleicht eine Imbissbude - und der Rummel könnte losgehen!

"Wir sind umgezogen" - ein Hinweis an der Eingangstür
der Nationalparkverwaltung Slitere. Am neuen Ort jedoch
nicht einmal das: Keine Info zu Öffnungszeiten und Zustän-
digkeiten. Nationalparkverwaltung schon im Winterschlaf?
... wird am "Kap Kolka" einfach mal "umgestaltet"
Die Einwohner von Sikrags sind beunruhigt: einerseits über die Radikalität der beauftragten Baufirma, die in der vergangenen Woche nur wenige Stunden brauchte um wenige Meter vom Strand entfernt die Dünen ganz einfach zu einem großen Haufen zusammenzuschieben. Die beauftragten Arbeiter zeigten sich weder gesprächs- noch kompromissbereit, und keinerlei Informationsschild klärt auf über Auftraggeber oder Zweck des Vorhabens.
Der Ärger richtet sich aber auch an die zuständigen Behörden, von denen nicht einmal bekannt ist auf welchem Wege sie zu erreichen wären: dort, wo die Nationalparkverwaltung einmal zu erreichen war (am Ortsausgang von Dundaga), informiert ein schlichtes Schild über einen Umzug, und die "Liquidierung" aller bisher gültigen Telefon- und Faxnummern der Behörde. Am dort benannten neuen Ort, in der Nähe des Leuchtturms Slitere, nicht einmal das: geschlossene Türen, Nationalparkverwaltung im Winterschlaf. Sind es diese Umstände, die private Geschäftemacher ermutigen, sich die bisher streng geschützte Küstenzone einfach mal nach eigenem Gutdünken umzugestalten?

Der Nationalpark Slitere und das Kap Kolka - dort wo die Wasser der Ostsee und der Rigaer Bucht zusammenfließen. Mit dem Slogan des "Grünen Bandes" wurden EU-Projektgelder eingeworben, unter dem Signet des "nachhaltigen Tourismus". Aber im Herbst, wenn die Touristen weg sind, spart sich offenbar das lettische Umweltministerium die Inspekteure vor Ort ein und geht auf Tauchstation - zu einer offiziellen Stellungnahme war bisher keine der zuständigen Stellen bereit.
Wer es selbst versuchen möchte:
Slitere Nationalpark / lettisches Umweltministerium / Baltic Green Belt /

19. November 2012

Erneut Posse um lettischen Oligarchen Lembergs

Aivars Lembergs gilt seit mehr als zwanzig Jahren als einer der wichtigsten Oligarchen Lettlands. Der aus dem armen Osten des Landes stammende Bürgermeister der an der kurländischen Küste im Westen gelegenen wichtigen Hafenstadt Ventspils ist dort seit 1988 im Amt, also schon seit der Sowjetzeit! Lembergs ist eine schillernde Persönlichkeit im politischen Leben seines Landes, gleichzeitig Unternehmer, sehr wohlhabend und beliebt in seiner Stadt, weil wie die Leute sagen, er im Gegenteil zu anderen korrupten Politikern eben nicht ALLES in die eigene Tasche stecke, sondern dem kleinen Mann auch etwas abgebe. Das soll hier nur so weit bewertet werden, als er fraglos seit zwei Jahrzehnten immer wieder Zweifel auf sich zieht, bei seinen Geschäften ginge irgend etwas nicht mit rechten Dingen zu, weshalb er sich immer und immer wieder in verschiedensten Fällen vor Gericht hat verantworten müssen – freilich ohne je eine nennenswerte Strafe kassiert zu haben. Im Gegenteil zu Silvio Berlusconi in Italien mußte er dafür nicht einmal in die nationale Politik einsteigen und dessen Tricks anwenden. Vielleicht aber ist genau dies das Geheimnis seines im Vergleich zum Bunga-Bunga Italiener bemerkenswerteren Erfolges der Unantastbarkeit.

So viel zum Hintergrund. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr trat die Zatler Reformpartei des nicht wiedergewählten Präsidenten als neue Saubermann-Partei an. Sie zog sogleich die rote Linie, unter keinen Umständen mit der Bauernunion zusammenarbeiten zu wollen, die als politisches Projekt Lembergs gilt. Die Partei nominierte den damals erst 31jährigen Edmunds Sprūdžs als Kandidaten für das Amt des Regierungschef. In die Staatskanzlei schaffte es dieser freilich nicht, doch Sprūdžs wurde Minister für Umwelt und Regionalpolitik.

In dieser Funktion steht es dem jungen Minister zu, Chefs der Lokalverwaltungen des Amtes zu entheben, wenn Rechtsverstöße vorliegen oder das Ministerium der Ansicht ist, der Amtsträger stünde in einem Interessenkonflikt. Der in der Politik noch unerfahrene Jungunternehmer scheint sich Lembergs als Intimfeind auserkoren zu haben und versucht seither gegen ihn mit diesem Mittel vorzugehen. Sprūdžs suspendierte Lembergs vom Amt mit einer entsprechenden Verlautbarung im Amtsblatt Ende Oktober.

Auf seine Suspendierung vom Amt reagierte Lembergs Ende Oktober mit einer Sondersitzung des Stadtrates in Ventspils, der ihm erwartungsgemäß fast einstimmig das Vertrauen aussprach. Lembergs betonte, der Minister habe kein Recht, ihn zu suspendieren, sondern nur des Amtes zu entheben, was zwei völlig verschiedene Dinge seien. Absetzen könne ihn wiederum nur der Stadtrat durch Entzug seines Vertrauens. Das Gesetz besagt in der Tat, daß eine Suspendierung nur möglich ist, wenn ein Bürgermeister seinen Amtspflichten nicht nachkommt.

Der Stadtrat von Ventspils forderte nun seinerseits den Minister auf, er möchte entsprechende Dokumente vorlegen, die seine Vorwürfe gegen Lembergs bestätigen. Sprūdžs hatte sich zwar auf ein konkretes Gesetz berufen, aber seine Vorwürfe kaum konkretisieren können. Das Ministerium verlautbarte nur allgemein, Lembergs habe über Jahre hinweg die nötige Transparenz in seiner Arbeit vermissen lassen und stelle deshalb eine Gefahr für die Demokratie dar.

Das Handeln Sprūdžs’ stößt auch beim großen Koalitionspartner, der Einigkeit, auf Unverständnis. Parlamentspräsidentin Āboltiņa nannte das Vorgehen kindisch und pflichtete im Grunde den Einwänden der Stadträte aus Ventspils bei, der Minister könne sich eigentlich nicht erklären. Daß Sprūdžs, nachdem er den Bürgermeister bereits supendiert hatte auch noch abzusetzen trachtete, führte schließlich in eine komplette Verwirrung darüber, wie ein abgesetzter Amtsträger suspendiert werden könne und oder umgekehrt. Der Minster versuchte sich aus diesem Dilemma herauszureden, indem er von sich sagte, er sei ein Politiker, der politische Entscheidungen treffen müsse. Dazu gehöre die Garantie eines verantwortungsvollen Handelns der Regierung auch auf der kommunalen Ebene auch als Signal an andere Gebietskörperschaften.

Ministerpräsident Valdis Dombrovskis räumte ein, daß Minister Sprūdžs für die kommunalen Behörden zuständig sei, zeigte sich jedoch verwirrt, da Lembergs derzeit in verschieden Gerichtsverfahren involviert ist, in denen ihm ernsthafte Strafen drohen und dort die Richter bereits eine Suspendierung vorgenommen hätten. Wie könne jemand, der bereits suspendiert ist, noch einmal suspendiert werden? Der Minister antwortete etwas hilflos mit einem Vergleich, man müsse einen Dieb eben ins Gefängnis stecken, damit er kein schlechtes Vorbild für andere sei. Lembergs machte sich derweil über Sprūdžs lustig. In seinem Leben habe sich nichts verändert, er war und sei der Bürgermeister von Ventspils und er sei wohl eindeutig mehr Bürgermeister als Sprūdžs Minister. Lembergs kündigte an, vor Gericht gegen den Beschluß des Ministers vorzugehen. Dazu bleibt ihm eine Frist von 30 Tagen.

17. November 2012

Sind wir schon arm, oder wenigstens noch Patrioten?

Der herannahmende Nationalfeiertag, vermischt mit besinnlich-trüber Novemberstimmung, funktioniert auch jedes Jahr aufs neue ein wenig als Stimmungsbarometer. Wie geht es den Lettinnen und Letten? Wo der eine vielleicht den Tatendrang und Optimismus erstmal auf's neue Jahr verschiebt ("wenn die Sonne wieder höher steht"), üben sich andere im Ablästern in den einschlägigen Internetforen.

Treffen der Eiropas Latviešu apvienība" (ELA)
im September in London: wenig Interesse der
Landsleute (Bildquelle: www.ela.lv)
Aufsehen erregte so zum Beispiel Aldis Austers, Vorsitzender der lettischen Vereinigungen in Europa (Eiropas Latviešu apvienība), als er über angebliche Gewohnheiten seiner außerhalb Lettlands wohnenden Landsleute schrieb (siehe delfi.lv). Austers hatte eigentlich nur vom Jahrestreffen der Mitgliedsorganisationen seines Verbandes berichten wollen. Zusammen mit dem lettischen Außenministerium bemühen sich die lettischen Gemeinschaften ("Kopienas") darum, mit den aus Lettland meist arbeitssuchend ausgewanderten Landleuten irgendwie im Gespräch zu bleiben. Doch: "Die meisten der zu Zeiten der Wirtschaftskrise ausgewanderten Letten interessieren sich nur wenig für die lettischen Gemeinschaften", beklagte sich Austers, und hatte zudem noch das Pech, dass vielerorts aus der Formulierung "zu Zeiten der Wirtschaftskrise Ausgewanderten ("emigrējuši ekonomiskās krīzes laikā") die Überschrift von den "Wirtschaftsflüchtlingen" ("ekonomiskie emigranti") gemacht wurde. "Was für Wirtschaftsflüchtlinge?" empört sich die Lesergemeinde bei "Delfi.lv". "Wenn hunderttausende Spezialisten auf diskriminierende Art und Weise plötzlich ihren Arbeitsplatz verlieren, dann sind sie nicht Wirtschaftsflüchtlinge, sondern es sind die Kennzeichen eines pathologischen Systems." Oder: "Wenn in Lettland die Korruption nicht so weit verbreitet wäre sähe die Lage anders aus."

Ironie von Werbestrategien in Riga,
Fundsache aus dem Jahr 2012
Solche Äußerungen zeigen aber, wie schwer es fällt die Verhältnisse im eigenen Land zu denen in anderen Ländern in Beziehung zu setzen. Und man wehrt sich dagegen, dass angeblich die Schlauen schon irgendwie in Lettland überleben, die Dummen und geistig Zurückgebliebenen aber ausreisen würden. - In dieses Bild der unsicheren Selbsteinschätzung paßt eine Äußerung von Präsident Andris Bērziņš, der kürzlich gegenüber lettischen Medien Zweifel an Armutsstatistiken in Lettland geäußert hatte, die über 20% aller Einwohner Lettlands als armutsgefährdet eingestuft hatten. Demgegenüber behauptete der Präsident, es seien noch zu wenig Daten vorhanden um eine solche Einschätzung wirklich abgeben zu können, und erntete damit teilweise heftigen Widerspruch. 425.000 Einwohner Lettlands, so Daten des Sozialministeriums, müssten mit 150 Lat (ca.275 Euro) im Monat auskommen und seien so armutsgefährdet. Bērziņš dagegen meinte auf den unklaren Umfang von Schwarzmarktaktivitäten und "Lohnzahlungen in Briefumschlägen" (in Lettland schon ein "geflügeltes Wort") anspielen zu müssen - und packte damit wohl viele seiner Landleute bei der Ehre, denn wer will sich schon unterstellen lassen nur scheinbar arm zu sein, heimlich aber "Schwarzgeld" zur Verfügung zu haben? Auch die betroffenen Wissenschaftler der lettischen Universität wehrten sich gegen die Unterstellung, die erhobenen Statistiken seien nicht in objektiver Weise erfasst worden: "das ist eine leichtfertige Art, sich vor der Verantwortung zur Problemlösung zu drücken", schrieben die Wissenschaftler in einem offenen Brief an den Präsidenten.
Nach Meinung vieler politischer Beobachter nicht ganz weise hatte sich Präsident Bērziņš schon am 1.September, am Tag des Schulanfangs verhalten, als er scheinbar schlecht gelaunt unwirsch Fotografen androhte handgreiflich zu werden, nur weil ihn diese dabei ablichten wollten wie er seinen Sohn beim ersten Schulgang begleitete.

Derweil machen sich Lettische Gemeinschaften im Ausland wie auch Außenministerium Gedanken, wo Landsleuten geholfen werden kann. Eine der Maßnahmen ist die Schaffung eines Nothilfefonds, der für im Ausland in plötzliche Notlage gekommene Lettinnen und Letten gedacht ist. In den ersten vier Monaten seiner Existenz seien aus diesem Fond bereits für 26 Personen Heimreisetickets nach Lettland gekauft worden, so ein Vertreter des Außenministeriums. Allerdings drängt das Ministerium auf Rückzahlung der Auslagen innerhalb von drei Monaten.
Aldis Austers dagegen bemüht sich eigenen Aussagen zufolge eher, die Landsleute "dort anzusprechen wo sie zu finden sind": im Internet. "Sie nehmen zwar wenig an Aktivitäten der Lettischen Gemeinschaften teil, aber sie nutzen Internetportale wie 'draugiem.lv' oder 'Facebook'," meint Austers. "Daher wollen wir stärker mit diesen Medien auch zusammenarbeiten." Auf Deutsche mag die für Letten im Ausland verwendete Bezeichnung als "Diaspora" ja ein wenig befremdlich klingen, aber manche Vertreter vermeintlicher lettischer Interessen scheinen wahrhaft religiösen Eifer an den Tag zu legen, um "Verstreute" (so die wörtliche Übersetzung im Griechischen) wieder für die Heimat zu sammeln. Wie aber im Ausland für Lettland werben, wenn auch die im Land lebenden verschiedenen (Volks-)Gruppen ein jeweils so unterschiedliches Selbstverständnis haben? Manchem lettisch national Gesinnten scheinen die ausgewanderten Arbeitsemigranten auch vor allem deshalb im eigenen Lande zu fehlen, weil sie die "Frontstellung" gegen eine befürchtete Übermacht des russischen Einflußes aufweichen.
"Lebe, sei glücklich, aber bleibe Lette und sei stolz auf Dein Lettischsein" - so lautet die Parole, die Auders gerne allen Landsleuten ans Herz legen möchte. Rolands Lappuķe, Beauftragter im Außenministerium für die Fragen der Auslandsletten, kündigt die Einstellung neuer Mitarbeiter in der eigenen Behörde an und definiert deren Aufgaben so: "die Hauptaufgabe wird das sein, was ich den 'globalen Letten' nenne, also ein Lette nicht nur in Lettland sondern überall auf der Welt. Jeder, der mit seiner eigenen Hände Werk am Aufbau Lettlands teilhaben möchte, soll dieses tun können."

Ob die Doppeldeutigkeit der lettischen Facebook-
Kampagne beabsichtigt ist? "Wenn Du Lettland liebst, liebt
Dich Lettland" - oder: nur wenn Du Lettland liebst, ...
Um lettische Aktivitäten im Ausland initiieren zu können bedarf es vor allem finanzieller Unterstützung. Den zahlreichen Internetforen ist aber gleichzeitig vielfacher Neid zu entnehmen: die einen bekommen Geld für eine Veranstaltungen, und schon werfen viele der Landsleute genau diesen Aktiven vor, solche Betrebungen nur eben des Geldes und eines persönlichen Vorteils wegen zu unternehmen. In diesem Licht sind wohl auch Argumentationen wie die Folgende zu sehen: "In Lettland hatte ich Zeit Leute zu treffen und Kaffee trinken zu gehen. Hier muss ich arbeiten." - Aber es gibt auch solche Reaktionen: "Alle meine heutigen Freunde sind Leute von hier, verschiedene Nationalitäten. 'Lettische Gemeinschaften' künstlich wieder formen zu wollen, davon halte ich nichts. Vielleicht brauchen das ja diejenigen, die irgendwo einer schlecht bezahlten Arbeit nachgehen wie Pilze suchen - und gleichzeitig dann mit den Einheimischen nicht kommunizieren können. Ich nicht!" - Wieder andere meinen, ihr "Lettisch-sein" beziehe sich nur auf ihre Herkunft, aber mit diesem "Betrügerstaat" von heute wollten sie nichts mehr zu tun haben (nachzulesen auf delfi.lv).

Die "lettischen Vereinigungen in Europa", denen Aldis Austers vorsteht, wehren sich derweil ihrerseits gegen Finanzmittelkürzungen für Veranstaltungen von Letten im Ausland, und benennen konkrete Zahlen zu den Notwendigkeiten für 2013 aus ihrer Sicht: 60.000 Lat für lettische Sommerlager, 45.000 Lat für lettische Nichtregierungsorganisationen im Ausland, 20.000 Lat für Kulturveranstaltungen der Lettischen Gemeinden, 50.000 Lat für Kinder- und Jugendwettbewerbe, 27.000 Lat für die Teilnahme von Auslandsletten an Sängerfesten, 60.000 Lat für Lettisch-Kurse im Ausland.

Derweil werden einige der obligatorischen Umfragen zum Nationalfeiertag heute publiziert: 74.6% der Einwohner Lettlands fühlen sich als Patrioten ihres Landes, so ist heute in lettischen Medien (siehe "LA") nachzulesen, 13,% lehnen eine solche Haltung für sich ab. Auf die Nachfrage, was denn nach Meinung der Befragten diesen Patriotismus kennzeichne, antworteten 23.8% mit dem Hinweis auf Traditionen und die Wertschätzung des Lettischen, 21,6% nannten Liebe zum Heimatland, 10,2% Arbeitsmoral und Strebsamkeit und 10% das Gefühl der Verbundenheit zum Ort wo man geboren sei. Da für die Umfrage auch soziale Medien im Internet herangezogen wurden, ist aus den Ergebnissen aber nicht definitiv zu schließen dass alle Befragten auch in Lettland momentan ihren Hauptwohnort haben. Derweil interpretierte die Ladenkette "Rimi" die Frage nach dem Lettisch-Sein rein materiell, und kürte die "lettischsten Produkte" (nach Kundenmeinung): Graue Erbsen mit Speck, dunkles Roggenbrot und Kümmelkäse.

Meine Posts als Buch

Die Posts in diesem Blog von Axel Reetz kommen als Buch: Im Frühjahr wurde ich von dem book on demand Herausgeber bloggingbooks gefragt, ob ich nicht meinen Blog "axelreetz.blogspot.com" als Buch herausgeben möchte. Warum nicht? Ich habe mich dabei zunächst entschieden, nur die Texte über Lettland zu verwenden, die parallel auch in diesem Blog veröffentlicht wurden. Ich habe diese auf Relevanz für die Gegenwart überprüft und redigiert sowie aus der für den Blog charakteristischen chronologischen Sortierung in eine thematische erstellt.
Das Buch heißt nun: "Lettland. Wirtschaft, Politik, Land und Leute - eine aktuelle, kritische Betrachtung".
Der Klappentext lautet: "Dr. Axel Reetz liefert in seinem vorliegenden Buch eine spannende Analyse der jüngsten Geschichte und gesellschaftlichen Entwicklung Lettlands. Mal journalistisch, mal wissenschaftlich, mal erzählerisch nähert sich der Autor einem facettenreichen, jedoch für viele unbekannten Land. Kapitel wie "Absurdistan", "Totalbankrott" und "Regenschirmrevolution" zeichnen dabei die politische und wirtschaftliche Dramatik der Jahre 2007 bis heute nach. Die für diesen Band aufbereiteten Blogbeiträge des Autors bieten Lesern, die Lettland kennenlernen möchten, einen Einstieg, der sich deutlich von den üblichen Reiseberichten unterscheidet. Lettland - ein Land, das fasziniert."
ISBN 978-3-8417-7076-9, Preis 39 Euro
http://www.amazon.de/Lettland-Wirtschaft-aktuelle-kritische-Betrachtung/dp/3841770762/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1353596593&sr=8-1

13. November 2012

Trotz Krise immer beliebter: Immobilien als Spekulationsobjekte

Und wo hast Du Deine Häuser
hier in Riga? - das könnte
Gesprächsthema auch dieser
beider Herren sein.

(Straßenszene in Rigas Altstadt)
Seit dem 1.Juli 2010 ist ein Gesetz in Kraft, dass Ausländern Aufenthaltsgenehmigungen bis zu fünf Jahren zusichert, wenn zwischen 25.000 und 100.000 Lat mindestens (je nach Art der Einlage) in Lettland investiert werden. Bei Immobilienbeteiligungen in kleineren lettischen Städten reichen manchmal auch schon 10.000 Lat um in Reichweite dieser Vergünstigungen zu kommen. Der weitaus größte Anteil dieser Gelder, so analysiert Journalist Zigfrīds Dzedulis in der "Latvijas Avīze", fließt aber in die Spekulation mit Immobilien. Seinen Recherchen zufolge sind bisher Gelder mit einer Gesamtsumme von 276.259.488 Lat (rund 400 Millionen Euro) in Verbindung mit gewährten Aufenthaltsgenehmigungen ins Land geflossen. 219.562.230 Lat davon seien in Immobilien investiert worden. Banken, über die bevorzugt Investitionen abgewickelt würden seien die "Rietumu banka", die "ABLV banka", "Norvik", "Baltic International Bank", die "Trasta banka" und die Versicherungsgesellschaft "Baltikums".
Wie der Journalist aber von den zuständigen Behörden erfahren haben will, sind es keinerlei besondere Geschäftsaktivitäten die mit dem in Lettland angelegten Geld unternommen werden: es handelt sich schlicht um Ankauf und Verkauf von Immobilien, manchmal auch um Vermietungen des erworbenen Besitzes. Und aus den Daten des lettischen Unternehmensregisters schließt Dzedulis weiter dass in diesem Zusammengang auch keinerlei neue Arbeitsplätze in Lettland geschaffen werden: Angestellte gibt es in diesen Geschäftszusammenhängen nur wenige.

Im Unterschied zu anderen Schengen-Staaten verlangt Lettland von Investoren die im Gegenzug eine Aufenthaltserlaubnis bekommen nicht, auch ständig im Lande zu leben. Herkunftsländer seien zumeist entweder Russland oder andere osteuropäische Staaten: die Eigentümer kommen für kurze Zeit um nach dem Rechten zu schauen oder für einen Kurzurlaub, dann verschwinden sie wieder. Die "Latvijas Avize" zitiert den Ökonomen Dainis Zelmenis mit den Worten: "Die großen Hoffnungen in das neue Gesetz haben sich nicht erfüllt. Ich kenne keinen Fall, in dem Ausländer um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen ein Unternehmen gründen wo real etwas geschaffen wird." Weder sei sicher, ob über die erwähnten Banken investierten Gelder überhaupt in Lettland bleiben, noch habe der lettische Staat - außer einer Gebühr von 2% der Kaufsummen von Immobilien - irgend einen Nutzen davon.