17. November 2012

Sind wir schon arm, oder wenigstens noch Patrioten?

Der herannahmende Nationalfeiertag, vermischt mit besinnlich-trüber Novemberstimmung, funktioniert auch jedes Jahr aufs neue ein wenig als Stimmungsbarometer. Wie geht es den Lettinnen und Letten? Wo der eine vielleicht den Tatendrang und Optimismus erstmal auf's neue Jahr verschiebt ("wenn die Sonne wieder höher steht"), üben sich andere im Ablästern in den einschlägigen Internetforen.

Treffen der Eiropas Latviešu apvienība" (ELA)
im September in London: wenig Interesse der
Landsleute (Bildquelle: www.ela.lv)
Aufsehen erregte so zum Beispiel Aldis Austers, Vorsitzender der lettischen Vereinigungen in Europa (Eiropas Latviešu apvienība), als er über angebliche Gewohnheiten seiner außerhalb Lettlands wohnenden Landsleute schrieb (siehe delfi.lv). Austers hatte eigentlich nur vom Jahrestreffen der Mitgliedsorganisationen seines Verbandes berichten wollen. Zusammen mit dem lettischen Außenministerium bemühen sich die lettischen Gemeinschaften ("Kopienas") darum, mit den aus Lettland meist arbeitssuchend ausgewanderten Landleuten irgendwie im Gespräch zu bleiben. Doch: "Die meisten der zu Zeiten der Wirtschaftskrise ausgewanderten Letten interessieren sich nur wenig für die lettischen Gemeinschaften", beklagte sich Austers, und hatte zudem noch das Pech, dass vielerorts aus der Formulierung "zu Zeiten der Wirtschaftskrise Ausgewanderten ("emigrējuši ekonomiskās krīzes laikā") die Überschrift von den "Wirtschaftsflüchtlingen" ("ekonomiskie emigranti") gemacht wurde. "Was für Wirtschaftsflüchtlinge?" empört sich die Lesergemeinde bei "Delfi.lv". "Wenn hunderttausende Spezialisten auf diskriminierende Art und Weise plötzlich ihren Arbeitsplatz verlieren, dann sind sie nicht Wirtschaftsflüchtlinge, sondern es sind die Kennzeichen eines pathologischen Systems." Oder: "Wenn in Lettland die Korruption nicht so weit verbreitet wäre sähe die Lage anders aus."

Ironie von Werbestrategien in Riga,
Fundsache aus dem Jahr 2012
Solche Äußerungen zeigen aber, wie schwer es fällt die Verhältnisse im eigenen Land zu denen in anderen Ländern in Beziehung zu setzen. Und man wehrt sich dagegen, dass angeblich die Schlauen schon irgendwie in Lettland überleben, die Dummen und geistig Zurückgebliebenen aber ausreisen würden. - In dieses Bild der unsicheren Selbsteinschätzung paßt eine Äußerung von Präsident Andris Bērziņš, der kürzlich gegenüber lettischen Medien Zweifel an Armutsstatistiken in Lettland geäußert hatte, die über 20% aller Einwohner Lettlands als armutsgefährdet eingestuft hatten. Demgegenüber behauptete der Präsident, es seien noch zu wenig Daten vorhanden um eine solche Einschätzung wirklich abgeben zu können, und erntete damit teilweise heftigen Widerspruch. 425.000 Einwohner Lettlands, so Daten des Sozialministeriums, müssten mit 150 Lat (ca.275 Euro) im Monat auskommen und seien so armutsgefährdet. Bērziņš dagegen meinte auf den unklaren Umfang von Schwarzmarktaktivitäten und "Lohnzahlungen in Briefumschlägen" (in Lettland schon ein "geflügeltes Wort") anspielen zu müssen - und packte damit wohl viele seiner Landleute bei der Ehre, denn wer will sich schon unterstellen lassen nur scheinbar arm zu sein, heimlich aber "Schwarzgeld" zur Verfügung zu haben? Auch die betroffenen Wissenschaftler der lettischen Universität wehrten sich gegen die Unterstellung, die erhobenen Statistiken seien nicht in objektiver Weise erfasst worden: "das ist eine leichtfertige Art, sich vor der Verantwortung zur Problemlösung zu drücken", schrieben die Wissenschaftler in einem offenen Brief an den Präsidenten.
Nach Meinung vieler politischer Beobachter nicht ganz weise hatte sich Präsident Bērziņš schon am 1.September, am Tag des Schulanfangs verhalten, als er scheinbar schlecht gelaunt unwirsch Fotografen androhte handgreiflich zu werden, nur weil ihn diese dabei ablichten wollten wie er seinen Sohn beim ersten Schulgang begleitete.

Derweil machen sich Lettische Gemeinschaften im Ausland wie auch Außenministerium Gedanken, wo Landsleuten geholfen werden kann. Eine der Maßnahmen ist die Schaffung eines Nothilfefonds, der für im Ausland in plötzliche Notlage gekommene Lettinnen und Letten gedacht ist. In den ersten vier Monaten seiner Existenz seien aus diesem Fond bereits für 26 Personen Heimreisetickets nach Lettland gekauft worden, so ein Vertreter des Außenministeriums. Allerdings drängt das Ministerium auf Rückzahlung der Auslagen innerhalb von drei Monaten.
Aldis Austers dagegen bemüht sich eigenen Aussagen zufolge eher, die Landsleute "dort anzusprechen wo sie zu finden sind": im Internet. "Sie nehmen zwar wenig an Aktivitäten der Lettischen Gemeinschaften teil, aber sie nutzen Internetportale wie 'draugiem.lv' oder 'Facebook'," meint Austers. "Daher wollen wir stärker mit diesen Medien auch zusammenarbeiten." Auf Deutsche mag die für Letten im Ausland verwendete Bezeichnung als "Diaspora" ja ein wenig befremdlich klingen, aber manche Vertreter vermeintlicher lettischer Interessen scheinen wahrhaft religiösen Eifer an den Tag zu legen, um "Verstreute" (so die wörtliche Übersetzung im Griechischen) wieder für die Heimat zu sammeln. Wie aber im Ausland für Lettland werben, wenn auch die im Land lebenden verschiedenen (Volks-)Gruppen ein jeweils so unterschiedliches Selbstverständnis haben? Manchem lettisch national Gesinnten scheinen die ausgewanderten Arbeitsemigranten auch vor allem deshalb im eigenen Lande zu fehlen, weil sie die "Frontstellung" gegen eine befürchtete Übermacht des russischen Einflußes aufweichen.
"Lebe, sei glücklich, aber bleibe Lette und sei stolz auf Dein Lettischsein" - so lautet die Parole, die Auders gerne allen Landsleuten ans Herz legen möchte. Rolands Lappuķe, Beauftragter im Außenministerium für die Fragen der Auslandsletten, kündigt die Einstellung neuer Mitarbeiter in der eigenen Behörde an und definiert deren Aufgaben so: "die Hauptaufgabe wird das sein, was ich den 'globalen Letten' nenne, also ein Lette nicht nur in Lettland sondern überall auf der Welt. Jeder, der mit seiner eigenen Hände Werk am Aufbau Lettlands teilhaben möchte, soll dieses tun können."

Ob die Doppeldeutigkeit der lettischen Facebook-
Kampagne beabsichtigt ist? "Wenn Du Lettland liebst, liebt
Dich Lettland" - oder: nur wenn Du Lettland liebst, ...
Um lettische Aktivitäten im Ausland initiieren zu können bedarf es vor allem finanzieller Unterstützung. Den zahlreichen Internetforen ist aber gleichzeitig vielfacher Neid zu entnehmen: die einen bekommen Geld für eine Veranstaltungen, und schon werfen viele der Landsleute genau diesen Aktiven vor, solche Betrebungen nur eben des Geldes und eines persönlichen Vorteils wegen zu unternehmen. In diesem Licht sind wohl auch Argumentationen wie die Folgende zu sehen: "In Lettland hatte ich Zeit Leute zu treffen und Kaffee trinken zu gehen. Hier muss ich arbeiten." - Aber es gibt auch solche Reaktionen: "Alle meine heutigen Freunde sind Leute von hier, verschiedene Nationalitäten. 'Lettische Gemeinschaften' künstlich wieder formen zu wollen, davon halte ich nichts. Vielleicht brauchen das ja diejenigen, die irgendwo einer schlecht bezahlten Arbeit nachgehen wie Pilze suchen - und gleichzeitig dann mit den Einheimischen nicht kommunizieren können. Ich nicht!" - Wieder andere meinen, ihr "Lettisch-sein" beziehe sich nur auf ihre Herkunft, aber mit diesem "Betrügerstaat" von heute wollten sie nichts mehr zu tun haben (nachzulesen auf delfi.lv).

Die "lettischen Vereinigungen in Europa", denen Aldis Austers vorsteht, wehren sich derweil ihrerseits gegen Finanzmittelkürzungen für Veranstaltungen von Letten im Ausland, und benennen konkrete Zahlen zu den Notwendigkeiten für 2013 aus ihrer Sicht: 60.000 Lat für lettische Sommerlager, 45.000 Lat für lettische Nichtregierungsorganisationen im Ausland, 20.000 Lat für Kulturveranstaltungen der Lettischen Gemeinden, 50.000 Lat für Kinder- und Jugendwettbewerbe, 27.000 Lat für die Teilnahme von Auslandsletten an Sängerfesten, 60.000 Lat für Lettisch-Kurse im Ausland.

Derweil werden einige der obligatorischen Umfragen zum Nationalfeiertag heute publiziert: 74.6% der Einwohner Lettlands fühlen sich als Patrioten ihres Landes, so ist heute in lettischen Medien (siehe "LA") nachzulesen, 13,% lehnen eine solche Haltung für sich ab. Auf die Nachfrage, was denn nach Meinung der Befragten diesen Patriotismus kennzeichne, antworteten 23.8% mit dem Hinweis auf Traditionen und die Wertschätzung des Lettischen, 21,6% nannten Liebe zum Heimatland, 10,2% Arbeitsmoral und Strebsamkeit und 10% das Gefühl der Verbundenheit zum Ort wo man geboren sei. Da für die Umfrage auch soziale Medien im Internet herangezogen wurden, ist aus den Ergebnissen aber nicht definitiv zu schließen dass alle Befragten auch in Lettland momentan ihren Hauptwohnort haben. Derweil interpretierte die Ladenkette "Rimi" die Frage nach dem Lettisch-Sein rein materiell, und kürte die "lettischsten Produkte" (nach Kundenmeinung): Graue Erbsen mit Speck, dunkles Roggenbrot und Kümmelkäse.

Keine Kommentare: