10. Juli 2013

Gesungenes Gemeinschaftsgefühl

"Dieses Sängerfest war vielleicht genauso wichtig, wie das von 1990" - so beschrieb ein lettischer Zeitungskommentar die Stimmung beim Ausklang des 25.Sängerfestes und 15.Tanzfestes in Riga. Das Sängerfest 1990, wenige Wochen nachdem der Wille zur Erneuerung der Unabhängigkeit verkündet wurde, war ganz von der damaligen Umbruchstimmung geprägt gewesen - nach langer Zeit konnten wieder die lettischen "Seelenlieder" gesungen werden, ohne politische Zensur oder sozialistischer Umdeutung. Manche Lettin und mancher Lette verspürte diesmal ähnliche Emotionalität: angesichts einer langen Sängerfest-Veranstaltungswoche mit wenig Schlaf und vielen Aufführungen.

"Wir sind noch da!" könnte das eine Motto heißen. Zehntausende wandern als Arbeitsmigranten in andere Länder der EU aus, andere kämpfen in weit von den Städten um ihre bäuerlichen Traditionen und Lebensweisen. Manche fürchten immer noch die Rückkehr russischen Einflußes, andere fürchten den Westen, den Euro und die Macht kapitalkräftiger Firmen. Nur alle fünf Jahre scheinen alle Ängste vergessen - so gelassen und heiter wie beim großen Sängerfestumzug geht selten ein Lette / eine Lettin durch den Alltag. Wert gelegt wurde auf die Einbindung der "Kurzzeitrückkehrer" - Letten der sogenannten "lettischen Diaspora" aus Australien, Belgien, Brasilien, Dänemark, Estland, Finnland, Georgien, Großbritannien, Irland, Italien, Kanada, Kroatien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Japan, Rumänien, Russland, der Schweiz, Schweden, den USA, und aus Deutschland (1300 registrierte Teilnehmer/innen aus diesen Ländern insgesamt, 57 Auslandsgruppen beim Festumzug).

Beim Abschlußkonzert am Sonntag sangen 15.400 Sängerinnen und Sänger gemeinsam, 10.000 Tänzerinnen und Tänzer kamen zuvor im Stadion Daugava zusammen. 88 566 Tickets (96% der verfügbaren) Tickets wurden verkauft, im Laufe der Woche sollen es insgesamt etwa 500.000 Besucher bei den 62 verschiedenen Veranstaltungen (davon 21 mit Eintritt) gewesen sein. Verschiedene Rekorde wurden gezählt: 40.000 teilnehmende Sänger/innen und Tänzer/innen, 70.000 Menschen beim Abschlußkonzert (einschließlich Sänger/innen) im Mežapark, 603 Tanzgruppen, 388 Chöre. "Das geistige Selbstreinigungsritual des lettischen Volkes" - so bezeichnete es Ivars Cinkuss, künstlerischer Leiter und einer der Dirigenten des Abschlußkonzerts, "sei wieder einmal vollzogen".

"Beim Sängerfest sind alle Lettinnen und Lettinnen auf dieser Welt wieder vereint" - bei diesen Worten von Präsident Andris Bērziņš in seiner Ansprache auf der Sängerfestbühne klang Wehmut über verschiedene lettische Zerrissenheiten mit. Auch ein Stück lettische Mentalität: wenn wir uns freuen, dann im Wissen der Bürden die wir tragen. Mit fast beiläufiger Selbstverständlichkeit begrüßte Bērziņš dann seinen deutschen Gast und Präsidentenkollegen Joachim Gauck, der im Rahmen seines Staatsbesuches sich den Besuch des Sängerfestkonzerts nicht entgehen ließ. Wahrscheinlich war Gauck, der im Kreise der Sängerinnen und Sänger mit großem Beifall begrüßt wurde, sich ebensolcher Gradwanderungen bewußt: lobt er "mutige lettische Politiker" zu sehr, könnte das für die lettische Öffentlichkeit so klingen, als ob er die schwierige Situation der meisten Lettinnen und Letten nicht sähe (die viele ihrer Politiker eher so sehen dass diese erstmal für sich selbst sorgen). Eher schon wirkt es, beim lettischen Sängerfestfeiertag einfach dabei zu sein - ohne Reden halten zu müssen oder an Versäumnisse der Sozialpolitik erinnern zu müssen (was als Einmischung verstanden würde).

Schon am Tag nach dem Abschlußkonzert richteten lettischen Organisator/innen den Blick  aufs nächste Lettische Sängerfest: es wird 2018 stattfinden, rechtzeitig zur 100-Jahr-Feier des lettischen Staates.Noch ist unklar, ob beide Hauptveranstaltungsorte (im Mežapark und Stadion Daugava) dann in neuem Glanz strahlen können: für die Sängerfestbühne gibt es Neubaupläne, das Stadion soll möglichst modernisiert werden. Allerdings würden für eine Erweiterung des Sängerfestgeländes eine größere Anzahl Bäume weichen müssen, ein Plan der nicht allen gefällt; schon jetzt weist das staatliche Denkmalschutzamt darauf hin, dass die Sängerfestbühne ein Kulturdenkmal sei, dessen grundlegender Charakter erhalten werden müsse.

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