13. Juli 2013

Präsidentenmenü, fein sortiert

Zwei Tage dauerte das Besuchsprogramm von Bundespräsident Joachim Gauck in Lettland. Zwar war auch hier die Überschrift "Besuch im Baltikum" zu lesen, tatsächlich aber lohnt ein erweiterter Blick auf die von Gauck ausgewählten Themen während seiner gesamten Reise, also auch auf Finnland, Estland und Litauen.

Oberflächlich betrachtet mag es ein ziemlich gewöhnlicher Besuch gewesen sein: Mittagessen mit Präsidentenkolleg/innen, Blumen niederlegen an Nationaldenkmälern, Gedenken an Krieg und Holocaust. Hoffen auf mehr Wirtschaftskontakte und Menschen die Deutsch lernen. Beim näheren Hinsehen ergeben sich interessante Details.

Vier Staaten, viele Eigenarten
Es war ein sehr günstiger Zeitpunkt für einen Besuch. Gauck, der ja dafür bekannt ist sich gut in Befindlichkeiten osteuropäischer Staaten hineinfühlen zu können, webte einen ganz neuen roten Faden: Von Finnland nach Lettland, von Lettland nach Estland, von Estland nach Litauen. Die enge Sicht aufs "Baltikum" erweiternd, haben alle drei "baltischen" Staaten momentan einen eigene Schwerpunkte aufzuweisen: Lettland steht kurz vor der Einführung des Euro, ein Schritt der für die einen den Anschluß an Europa bedeutet, für die anderen erneut Ängste hervorruft. Estland hat den Euro bereits eingführt, fühlt sich trotz inzwischen einsetzender Preissteigerungen als modernes Land Europas, nicht nur wegen des überall verfügbaren drahtlosen Internets. Und Litauen hat seit dem 1.Juli die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union übernommen, ebenfalls ein historisch wichtiger Moment (den Lettland 2015 erleben wird).

Gemeinsame Sicht auf die Geschichte Lettlands:
Bundespräsident Gauck, Dr. Nollendorfs, Margers Vestermanis
Kein Vergleich also mehr zu den "mageren Jahren" 1990-1998, als Riga, Vilnius oder Tallinn zwar oft in geradezu heroischen Farben in der deutschen Presse auftrauchten, deutsche Spitzenpolitiker es aber peinlich vermieden ihre frisch gewählten Regierungen auch mal zu besuchen. Neben einem Kurzbesuch von Bundespräsident Weizäcker im Juli 1993 war es die allerletzten Auslandsreise der Amtszeit von Roman Herzog 1998, welche diese Abstinenz durchbrachen. "Der Hunger nach Kultur, geistiger Erneuerung ist in diesem Lande immens," so zitierte Herzog damals der "Spiegel". Kanzler Schröder kam ein Jahr später, aber verdarb sich baltische Sympathien bald wieder durch seine offensichtliche Honorartätigkeit in Diensten Putins - auch dies konnte, wer wollte, schon während seines Baltikum-Besuchs aus einem Spiegel-Zitat abgelesen werden:"Wir setzen sehr viel Hoffnungen in die Politik Putins".
Erst mit Merkel, Steinmeier und jetzt Gauck kehrte Alltäglichkeit ein - ohne das allerdings die hohen Erwartungen wieder erreicht wurden, die gegenüber Deutschland vor 10-15 Jahren einmal gehegt wurden.

Geschichte mit vielen Perspektiven
Lettland, Estland und Litauen werden jetzt also mit eigenständigem Konzept, als unabhängige Staaten, und nicht mehr nur als Teil der Russland-Politik besucht. Dabei werden sensible Themen fein sortiert, national symbolisches mischt sich mit bilateralen Dauerbrennern - als Beispiel mag Gaucks Besuch im lettischen Okkupationsmuseum stehen, wo er wie selbstverständlich auch Margers Vestermanis traf, Holocaust-Überlebender und unermüdlicher Mahner zum Umgang der Letten mit den Juden.
Weiterhin weiß Gauck wohl, dass in Richtung der deutschen Berichterstattung Themen gesetzt werden, die Lettland fast nur als Teil des Europäischen Markts verstehen. Was in Lettland selbst gerade wichtig ist, was diskutiert wird oder politisch umstritten ist - außerhalb der Lettisch-Kundigen bleibt es weitgehend unbekannt. Also wird lettische Politik so gelobt, als sei diese nicht von einer eigenen lettischen Dynamik geschaffen, sondern nur entweder als Beispiel oder als Mahnung für andere Länder Europas - so als sei es für Deutschland am wichtigsten, hier keine griechische, spanische oder Berlusconi-Mentalität vor sich zu haben. "Es wäre in Deutschland schwer gefallen, Reformen im öffentlichen Dienst durchzuführen, so wie sie Lettland vorgenommen hat", so Gauck. Ist das provozierend gemeint? Für die Deutschen, weil sie ja wissen, dass kurzfristige Kürzung von Gehältern um 20-30% schwerlich als "Reform" bezeichnet werden kann, gerade wenn das allgemeine Lohnniveau sowieso niedrig ist. Und für die Letten, da ansichts der Auswanderung Zehntausender (auf der Suche nach angemessenem Lohn für die eigenen Hände Arbeit) die Frage im Raum stehen bleiben muss, warum Gauck lettische Politiker als "mutig" bezeichnet.

Angeregter Informationsaustausch:
Hans-Joachim Schwolow, Daniela Schadt
Starke Regionen
Vieles wird also erst die Zukunft zeigen. Vertrauen auf diese Zukunft, das ist es wohl was Gauck gerne vermitteln würde. So war denn auch seine zweite Station in Lettland, die nordlettische Stadt Valmiera, auch möglichst nach pratischem Nutzen ausgerichtet: deutsche Unternehmer ließen sich vom Sachsen Jürgen Preiss-Daimler die erfolgreiche lettisch-deutsche Zusammenarbeit im Bereich der Glasfaserherstellung erläutern - mit 8 Standorten in Deutschland, Belgien, England, Lettland und Russland gehört die P-D FibreGlass Group (und damit auch das Werk in Valmiera) zu den größten Herstellern, Vermarktern und Veredlern von Glasfaserverbundwerkstoffen in Europa. Dabei blickt "Valmieras stikla šķiedra AG" sogar schon auf 50 Jahre Tradition zurück, seit 1996 (im Zuge der Privatisierung) beteiligt sich die deutsche Seite.

Sommerlied für Gauck from Albert Caspari on Vimeo.

Aber Valmieras Kontakte mit deutschen Partnern sind vielfältig. Auf 20 Jahre Zusammenarbeit mit Valmiera kann Hans-Joachim Schwolow, Partnerschaftsbeauftragter des Kreises Gütersloh, zurückblicken und wirkt dabei wie jemand, der hier nicht mehr nur als Gast, sondern auch als Mensch auf Augenhöhe angesehen wird (er ist Ehrenbürger mehrerer lettischer Gemeinden). Auch die "Hochschule Vidzeme" sorgt in Valmiera dafür, dass die Stadt attraktiv für ihre Einwohner bleibt.
Posieren fürs deutsch-lettische Abkommen
zur beruflichen Bildung: Botschafterin Andrea Wiktorin,
die Präsidenten Gauck und
Bērziņš, Bildungs-
minister Dombrovskis

Das extra eingeübte Lied, das eine örtliche Schulklasse für den hohen Gast eingeübt hatte, setzte Gauck kurzzeitig in Erstauen: "Daniela Schadt und ich, wir kennen ja viele Lieder, aber dieses war uns neu!"
Neu unterzeichnet wurde in Valmiera auch ein Abkommen zur Kooperation zwischen lettischen und deutschen Stellen auf dem Gebiet der Berufsbildung: für drei Jahre soll ein deutscher   Experte Firmen in Lettland zur Beteiligung an beruflichen Bildungsmaßnahmen motivieren. 

Vermisste Themen
Nicht alle deutsch-lettischen Themen wurden durch das Besuchsprogramm in Lettland aufgegriffen. Aber wer etwas vermisst, sollte zunächst den Blick auch aufs estnische und litauische Besuchsprogramm richten. Die Diskussion um Railbaltica etwa, ein schon jahrelang diskutiertes Bahnprojekt für eine Neubaustrecke zwischen Berlin und Tallinn, wurde lieber in Estland aufgegriffen - wo das Projekt weniger umstritten ist als in Lettland. Schon längst hat die estnische Regierung grünes Licht gegeben, während in Lettland neben der mißglückten Modernisierung der Bahn auch noch diskutiert wird, ob nicht eine Verbesserung der Verbindung nach Moskau für Lettland wichtiger sein könnte.
Für wirtschaftliche Kontakte wiederum, in Lettland ein wichtiger Faktor, besteht in Estland größerer Nachholbedarf: "Deutschland ist nur der acht-häufigeste Investor in Estland, hier besteht noch Spielraum nach oben," mit diesen Worten wird Mait Palts, Chef der estnischen Handelskammer, zitiert. Aber auch in Lettland (wie auch in Litauen) gab es ein eigenes Besuchsprogramm für eine mitreisende Wirtschaftsdelegation.
Standort zur Diskussion um europäische Vernetzung der Energieversorgung wiederum ist eher Litauen - neben der immer noch nicht beendeten Diskussion um die Atomkraft geht es auch um Flüssiggasgerminals.
Ein sonst viel zitiertes Thema sprach Gauck nirgendwo an: die Lage der Minderheiten. Meist werden hier die vielen immer noch staatenlosen ethnischen Russen erwähnt, für Gauck steht beim Thema Russland offenbar zunächst mal die Lage in Putins Reich selbst vorne an, mit allen den aktuellen Problemen dort.

Sängertreffen
Viele Lettinnen und Letten werden von der Anwesenheit des deutschen Präsidenten aber vor allem durch das Abschlußkonzert des Großen Sängerfestes erfahren haben. Keine Reden oder Versprechungen waren hier zu leisten, die Anwesenheit bei einem lettischen Großereignis reichte. Als Präsident Andris Bērziņš die Grüße und Glückwünsche seines deutschen Gastes im Rahmen seiner Konzerteröffnung bekanntgab, war nur die lettische Fernsehregie offenbar überrascht, die vergeblich eine Kamera zur Ins-Bild-Stellung des deutschen Gastes suchte. Lettlands anstrengende, aufregende Sängerfestwoche, der deutsche Präsident ist dabei - warum nicht. Wenn Ähnliches zur Selbstverständlichkeit wird, ist fürs lettisch-deutsche Verhältnis viel getan.

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