10. Oktober 2013

Der Rigenser-Test

Demnächst mit "Rigenser-Pass"
zum halben Preis? Riga positioniert
sich fürs Euro-Einführungs-
und Kulturhauptstadt-Jahr 2014
Die Häufigkeit, mit der in Riga in letzter Zeit über den Öffentlichen Nahverkehr diskutiert wird, scheint manchem überraschend: lange Zeit ging der Trend eher dahin, dass neugewonnene Freiheit mit einem eigenen PKW gleichgesetzt wurde, weg von überfüllten Bussen und Straßenbahnen. Es gab zwischendurch auch lettische Verkehrsminister, die mal laut nachzudenken wagten über die Abschaffung ganzer Sparten (wie den Trolleybussen zum Beispiel). Aber wahrscheinlich haben sich manche Denkweisen und Alltagsgewohnheiten auch mit der Wirtschaftskrise geändert: es gilt zunehmend als schick, zumindest im Sommer auch mit dem Rad zu fahren, und die Rigaer Verkehrsbetriebe bemühen sich durch ständige Modernisierung ihrer Fahrzeugflotte ihr Image auf ein europäisches Niveau zu heben (die Fahrpreise folgen Stufe für Stufe nach). Der Preis für eine Fahrt lag bisher bei 50Centimes (ca. 70 EuroCent), allerdings muss für jede Fahrt (und jedes Umsteigen) neu bezahlt werden (bei Einzelfahrscheinen).

so soll ab 2014 das "Rigenser-Ticket" aussehen
Steht auf, wenn ihr Rigenser seid!
Nun sorgt Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs mit seiner Vorausschau auf eine neue Fahrpreisstruktur für 2014 für Aufsehen. Und am 7.Oktober stimmte der Stadtrat bereits den beabsichtigten Änderungen zu. Die Idee ist - angelehnt an die Einführung ähnlicher Vergünstigungen in Tallinn, der Hauptstadt des nördlichen Nachbarstaates - Einwohnern von Riga die Nutzung des Nahverkehrs wesentlich attraktiver zu machen. Jeder, der seinen Wohnsitz in Riga angemeldet hat, soll in Zukunft nur noch die Hälfte des normalen Fahrpreises zahlen müssen. Hinter dieser publikumswirksamen Maßnahme versteckt sich eigentlich ein drastischer Preisanstieg: 1,20 Euro (denn der Euro wird zum 1.1.2014 in Lettland eingeführt) soll künftig der Einzelfahrschein kosten - für Rigenser aber wäre der Ticketpreis von 0,60 Euro eine Preissenkung (gegenüber 50Centimes, also umgerechnet 70Cent bisher). Um diesen günstigen Tarif zu erhalten, müssen die Bürger Rigas personalisierte E-Fahrscheine kaufen. Ab Mitte Oktober sollen hierfür Antragsformulare erhältlich sein. Bis zum 31.Dezember soll das Ausstellen dieser persönlichen Ausweise kostenfrei gehalten werden. Ermäßigungen für Schüler und Studenten bleiben, wie bisher, ohne Berücksichtigung des Wohnorts erhalten.

Wer ist hier fortschrittlich?
Der lettische Ex-Präsident Valdis Zatlers, wegen eigener Gesundheitsprobleme eigentlich eher auf dem Rückzug aus der Politik, war einer der ersten der die  Ušakov-Vorschläge öffentlich drastisch kommentierte als "typisches Denken von Okkupanten". Er spielt damit sicher auf die ethnische Herkunft des gebürtigen Russen Ušakovs an, und Zatlers Vergleiche mit unterschiedlichen Eintrittspreisen für Museen in Moskau liegen auch nicht allzu dicht am Thema - sie zeigen aber, wie hitzig die Diskussion ist. Schon oft wurde von konservativer Seite, neidisch auf die zunehmende Popularität des seit 2009 im Amt befindlichen Ušakovs blickend, dessen Wahlerfolge auf populistische Maßnahmen zurückgeführt, allen möglichen Interessengruppen dort kostenlos etwas anzubieten, wo Steuergelder die Kosten decken (siehe auch hier im Blog: "Schnee macht Arbeit"). 2013 kamen 63 Millionen Lat Finanzuschuß für die städtischen Verkehrsbetriebe (RigasSatiksme) vom Rigaer Stadtrat.

Piedodiet, jaunkundze - sind Sie Rigenserin? 
Vielleicht eine oft gestellte Frage, demnächst in 
den Bussen und Straßenbahnen Rigas.
Der Bürgermeister, den einige offenbar gern mit dem Spitznamen "Uschi" zu necken versuchen, verteidigt die Neuerung offensiv als "erster Schritt zum fahrscheinlosen Nahverkehr" (rigassatiksme). Außerdem werde auch der Umgang mit Monatskarten künftig einfacher: bisher war der Preis davon abhängig, wieviele verschiedene Verkehrsmittel der Fahrgast nutzen wollte: Straßenbahn, Bus oder Trolleybus. Die Monatskarte für eines dieser Verkehrsmittel kostete 29.10 Lat (41.40 Euro), für zwei waren 35.60 Lat zu bezahlen, für alle drei 45,90 Lat. Ab 2014 sollen es einheitlich und für alle Verkehrsmittel zusammen 41,40 Euro sein.
Aus Resultaten der kürzlichen Volkszählung sei zu schließen, dass etwa 127.000 Menschen zwar in Riga arbeiten, aber bisher nicht ihren Wohnsitz in der Hauptstadt deklariert hätten - würden nur 10% davon das z.B. wegen der Fahrpreisvergünstigungen nun nachholen, dann wäre es für die Stadt unter dem Strich ein Gewinn an Steuereinnahmen. Wer es sich leisten kann, wohnt bereits jetzt im Umkreis von Riga und zahle dort Steuern - daher sei es nur logisch, mit diesen Gemeinden jetzt Kooperationsabkommen zu schließen.

Riga und Sigulda - wie Hase und Igel?
Zwei Wortmeldungen anderer Bürgermeister, nämlich derjenigen von Bauska und von Cēsis - beides keine Parteifreunde von Ušakovs - sind inzwischen in der Presse nachzulesen (delfi). Beide weisen auf die Hauptstadtfunktion Rigas hin, die es unerlässlich mache dass alle Einwohner Lettlands die Stadt regelmäßig aufsuchen. Pressekommentare sprechen von "neuen Klasseneinteilungen": die Hauptstadt mausere sich ungerechtfertigt als "Staat im Staate". Raimonds Čudars, Ratsvorsitzender der Gemeinde Salaspils, schlägt vor die Nachbargemeinden Rigas sollten zu Anteilseignern an den Rigaer Nahverkehrsbetrieben werden. Sarmīte Ēlerte, als Bürgermeisterkandidatin der Fraktion "Vienotība" bei den Kommunalwahlen gescheitert, befürchtet eine "Atmosphäre wie im Mittelalter" ("wie damals mit Zöllen und Einreisebeschränkungen") als Folge der Fahrpreisdifferenzierungen.

Dagegen nahm Ušakovs mit dem Amtskollegen der 50km entfernte Stadt Sigulda inzwischen Gespräche über mögliche gegenseitige Vergünstigungen für Bürger beider Städte auf (siehe riga.lv). In Sigulda bietet eine Ermäßigungskarte bereits vielfache Preisnachlässe an - so war die Einigung mit  Ušakovs vom 9.Oktober nicht überraschend.

Wird es ein allgemeiner Trend in Lettland werden? Die Nachteile der Landgemeinden sind offensichtlich: sollen die Städter nun Eintritt in die (von den auf dem Land lebenden erhaltene) Natur bezahlen? Vielleicht sollte auch der Städter mit Jagd- oder Fischereierlaubnis das Doppelte für sein Wildschwein oder seinen Angelerfolg zahlen? Ideen in diese Richtung gäbe es viele, die totale  Kommerzialisierung des täglichen Lebens würde sich fortsetzen. Kārlis Bružuks, Ratsvorsitzender im Bezirk Garkalne, brachte bereits die Idee einer "Pilzesteuer" für Rigenser ins Gespräch - wohl wissend, dass seine Gemeinde nordwestlich Riga an einer Schnellstraße liegt, was viele Autofahrer zu einem Halt mit angeschlossener Pilzsuche verführt. Bružuks sieht die Rigaer Nahverkehrspläne ausserdem im Widerspruch zur Parteienübergreifend geäusserten Absicht, die Euroeinführung nicht für Preissteigerungen zu nutzen. "Für die Rigenser gilt das dann - für alle anderen aber nicht!"

Beleidigung für Leute vom Lande?
Oder werden sich die lettischen "Besucher" Rigas mit der Versicherung des frisch wiedergewählten Bürgermeisters zufriedenstellen lassen, dass weiterhin kostenloser Transport für alle zu Neujahr, Mitsommer, Neujahr und zum Sängerfest gewährleistet ist? Befragt nach weiteren Plänen äußert Ušakovs Zweifel daran, dass die bloße Einführung von "Park+Ride"-Möglichkeiten eine Umstrukturierung der Fahrpreise überflüssig mache. Als nächsten Schritt kündigt er den Übergang vom Einzelfahrschein (pro Fahrt, ohne Umsteigen) auf ein Zeitfahrbillet und die Schaffung von Sonderspuren für Bus und Bahn an. Die Einführung von völlig kostenlosem Nahverkehr für die Rigenser sei dann möglich, wenn es genügend Neuanmeldungen für einen Wohnsitz in Riga - und damit Steuerzahlungen - gäbe.

Derweil werden auf dem Portal "ManaBalss" (Meine Stimme) Unterschriften gegen ungleiche Fahrpreise in Riga gesammelt. Als Ziel werden 10.000 Unterstützer angepeilt, gegenwärtig sind es 2450 (Stand 10.10.).
Die Tageszeitung "Diena" sammelte Kommentare zur Neuregelung, die auf "Twitter" zu finden waren. Hier einige Stilblüten:  "Schlage vor, jeder Nicht-Rigenser muss ab sofort eine Kartoffel um den Hals tragen!"; "Erst kostenlosen Nahverkehr versprechen, dann die Preise um das Doppelte erhöhen - super Job!";  "Schlage vor, wer billigen Strom will muss nach Ķegums ziehen" (an das Daugavastauwerk); "Wer in Riga keinen Wohnsitz hat, könnte sich ja noch als Fahrkartenkontrolleur bewerben!"; "Leute, wenn ihr gegen ungerechte Fahrpreise demonstrieren wollt: nutzt das Fahrrad!".

Gründe für die emotionale Heftigkeit der Diskussion sucht auch Kristīne Jarinovska, Juristin spezialisiert auf Europarecht, für die Zeitschrift "IR": Wo der Stadtrat Riga das System der Wohnsitzdeklarierung dazu nutzen will, um bisher als allgemein gültig geltende Grundrechte auszuhebeln, da sei das als Herausforderung an die lettische Regierung zu verstehen. Paragraph 97 der lettischen Verfassung garantiere die freie Wahl des Wohnsitzes - daher sei es juristisch absehbar, dass eine ungleiche Behandlung, abhängig vom Wohnsitz, der Verfassung widerspreche. Außerdem sei eine anhaltende und umfangreiche Sammlung persönlicher Daten, die nicht direkt zum Betrieb des Nahverkehrs notwendig seien, ebenfalls rechtswidrig.
Eine spannende Diskussion. Vielleicht dauert es nicht lange, bis noch weitere Verantwortliche in europäischen Großstädten auf ähnliche Ideen kommen und sicher aus den Erfahrungen in Riga lernen wollen.

8. Oktober 2013

Lāčplēsis gesucht!

Es sei wahrhaftig ein "Lāčplēsis" nötig gewesen, um alle Aufgaben und Probleme zu bewältigen, die bei Gründung der "Lettischen Volksfront" (Latvijas Tautas Fronte - LTF) offensichtlich waren - so drückte es Dainis Īvans in einem Zeitungsbeitrag ("IR") rückblickend aus ( Lāčplēsis - lettische Sagenfigur, wörtl. übers. "Bärenreißer").
Damals, im Oktober 1988, waren noch 135.000 Angehörige mehrerer Standorte der Sowjetarmee in Lettland, dazu die Mitarbeiter der verschiedenen Sicherheitsorgane, die Sowjet- und Parteibürokratie und mit Alfrēds Rubiks in Riga ein Bürgermeister, der allem neu entstehenden äusserst kritisch gegenüberstand und sich später dem Putsch gegen Gorbatschow aktiv anschloß.

Die lettische Volksfront hielt ihren Gründungskongreß am 8./9.Oktober 1988 ab, also vor 25 Jahren.  Diesem Datum waren in der vergangenen Woche vielfältige Veranstaltungen, Reden und Publikationen gewidmet. 

Dainis Īvans wurde damals zum Vorsitzenden gewählt. Schon bei Gründung gab es 110.000 Unterstützer/innen, was nur bedeutet, dass die Gründung der Volksfront nicht den Anfang des Kampfes zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit markierte, sondern eher das konkrete Endstadium. Am 31.Mai 1989 beschloss der LTF-Vorstand, von nun an die vollständige Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands zu fordern.
Nachdem die LTF-Liste bei den Wahlen zum Obersten Sowjet einen überwältigenden Sieg errungen hatte, wurde Ivars Godmanis am 7.Mai 1990 Vorsitzender des Ministerrats, also zum lettischen Regierungschef. Drei Tage zuvor hatte das Parlament mit Mehrheit einer Erklärung zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit zugestimmt.
Nach den Unruhen in Vilnius am 13.Januar 1991 und den darauffolgenden Ereignissen auch in Riga rief Godmanis zusammen mit  Īvans das lettische Volk auf die Barrikaden, zur Verteidigung von Freiheit und Unabhängigkeit.
Am 3.März 1991 organisierte die LTF, gegen alle Einwände aus Moskau, eine Volksbefragung: 73,8% bestätigten die Unabhängigkeit.
Den letzten Schritt zur vollständigen Wiederherstellung der Unabhängigkeit ging das von der LTF kontrollierte Parlament am 21.August 1991, nachdem der Putsch in Moskau gegen Gorbatschow gescheitert war, und auch Boris Jelzin seine Unterstützung für die lettische Unabhängigkeit signalisierte.

Bei den ersten freien demokratischen Wahlen danach, im Jahr 1993, kam die LTF aber mit nur 2,6% Wählerstimmen nicht ins Parlament. Die große Zeit der Volkfront ging zu Ende. Als die LTF im Jahr 1999 ihre Selbstauflösung beschloss, waren von ehemals 250.000 Mitgliedern nur noch 2500 übrig geblieben.

Godmanis kehrte nach einigen Jahren in die Politik zurück und war zwischen 2007 und 2009 sogar noch einmal Ministerpräsident, wurde dann ins Europaparlament gewählt.  Dainis Īvans sass einige Jahre für die lettischen Sozialdemokraten (für eine der sich ständig untereinander bekämpfenden Splittergrüppchen "Latvijas Sociāldemokrātiskā Strādnieku partija" LSDSP) im Stadtrat von Riga, zog sich aber aus Führungspositionen zurück, arbeitete auch als Journalist und schrieb mehrere Bücher.

Die Schwungkraft dieser Zeit, die Energie mit der sich die Menschen gemeinsam engagierten und öffentlich einsetzten, dass scheint heute kaum nachvollziehbar. Manche schreiben es der LTF zu, die vor allem auf die ökonomischen Umwälzungen schlecht vorbereitet schienen und viele daher nach zerplatzten Illusionen frustriert sich zurückzogen. Schon bald wurde "politisches Engagement" im neuen, unabhängigen Lettland zum "Unwort" - niemand wollte mehr davon hören, auch angesichts der Rücksichtslosigkeit, mit der sich viele im neuen System privat bereicherten. Aber ein paar wichtige Meilensteine auf dem Weg zur Unabhängigkeit haben doch die Aktivisten der Volksfront gesetzt, und das gilt es zu erinnern wenn wieder einmal - wie so oft - die bekannten Politiker der Großmächte behaupten sollten, alles habe nur in ihren Händen gelegen. Auch Kohl und Genscher haben die Letten nicht unterstützt, bis der Moskauer Putsch gescheitert war und es legitim schien dem zu folgen, was "Freund Boris" in Moskau ansagte. Heute klingt das in manchen Schaufensterreden ganz anders.

Zur Geschichte der "Lettischen Volksfront" gibt es heute ein eigenes Museum, mitten in der Rigaer Altstadt zu finden. Vielleicht findet ja der eine oder andere die Motivation, sich gemeinsam auch für einen demokratischen Rechtsstaat zu engagieren, entweder im Museum oder in Erinnerung an bewegte Zeiten wieder. Erinnerungen an diese Zeit gibt es von lettischer Seite sehr viele - für die deutsche Wissenschaft ist das offenbar einfach "lange her", und man möchte nicht an der sehr günstigen Darstellung von Gorbatschows Taten rütteln. Wer sich aber mit den Grundlagen des lettischen Selbstverständnisses beschäftigen will, der kommt an einer vertiefenden Beschäftigung dieser lettischen Erfahrungen nicht vorbei.

Zum Erinnern: Artikel aus dem Archiv der Zeitung DIE ZEIT zu Dainis Īvans / Artikel DER SPIEGEL 35/1991

3. Oktober 2013

Baltische Einheit?

Am 22.September wird in Lettland der Tag der "baltischen Einheit" begangen. Nun ja, nicht von allen, und nicht als staatlicher Feiertag, aber immerhin: in diesem Jahr fand eine zentrale Feier im litauischen Šiauliai statt, unter Anwesenheit einiger politischer Prominenz beider Länder. Normalerweise fällt es ja schon schwer, eine Berechtigung zu finden für den Begriff "Baltikum" -  denn jeder, der anderen schon einmal versucht zu erläutern was Estland, Lettland oder Litauen wirklich ausmacht, wird das "Baltikum" wieder zerlegen müssen.
Aber "baltische Einheit"? Warum gerade an diesem Tage?

Auch um die litauisch-lettischen Kontakte kümmert
sich inzwischen ein eigenes EU-Förderprogramm:
rötlich markiert sind hier die mit Fördergeldern 
gesegneten Gebiete (siehe auch: www.latlit.eu)
Die eine, siegreiche Schlacht ...
Nun kann man darüber streiten, ob die Schlacht des Schwertbrüderordens gegen die vereinigten Semgalen und Litauer/Žemaiten wirklich am 22.September 1236 stattgefunden hat (das Jahr ist unumstritten, der Monat vielleicht auch - aber der exakte Tag?). Auch der Ort dieses Geschehens ist - soviel ich darüber gehört habe - eher unklar. Die in einigen Annalen "Schlacht bei Saule" genannte Auseinandersetzung hat jedenfalls wirklich stattgefunden und hatte die Begrenzung der Macht des in Riga gegründeten Schwertbrüderordens zur Folge. "Unsere Stärke ist unsere gemeinsame baltische Identität,"- das verkündete der lettische Botschafter in Litauen, Mārtiņš Virsis, zur Eröffnung des "Tags der baltischen Einheit" am 21.September in Šiauliai / Litauen. Seit dem Jahr 2000, als die Parlamente beider Länder diesen Tag offiziell zum beiderseitigen Feiern ausriefen, bemühen sich beide Seiten sich als "eng verbundene Nachbarn" darzustellen.

Alles für's gestärkte Selbstbewußtsein!
Festzuhalten bleibt also schon einmal, dass weder Letten noch Litauer die Esten einbeziehen wollen und können, wenn es um "baltisches" geht. Soweit dürften die Esten - die sich eher ihre Zugehörigkeit zur finn-ugrische Sprachgruppe und ihren Wunsch der Zugehörigkeit zur "nordischen Mentalität" beziehen, einverstanden sein. Was aber "baltische Identität" ist, da sind wohl auch Letten und Litauer noch auf der Suche. 777 Jahre sind also seit dieser Schlacht vergangen - aber auch damals waren ja nicht "Letten und Litauer" vereint auf der einen Seite der Kriegspartei, sondern lediglich "Semgaller und  Žemaiten".

Wer nicht mit den Politikern feiern möchte, kann dies auch im Rahmen eines Musikfestivals tun: "Baltijas Saule" versammelt Folkloregruppen in Leinenkleidern mit dem schwarzen Leder der Metall-Fans. Hier wird dann nachmittags auch ein wenig die Schlacht von 1236 nachgespielt, allerdings ohne Beschränkung auf Litauer und Zemgaller - sogar Esten und Deutsche sind dann anzutreffen.

Wenn auch in solchen Liedtexten gern von heroischen Zeiten gesungen wird, die historische Situation des Jahres 1236 gibt es eigentlich nicht her. Aber als Lette versetzt man sich angesichts der nach eigener Einschätzung eher ruhmlosen Gegenwart offenbar gern in scheinbar urspüngliches Volkstum hinein, das frei und stolz nach außen vertreten und verteidigt wurde. Aber warum einigten sich denn zum Beispiel die Liven recht schnell mit den fremden Burgenerbauern? Weil sie Schutz vor "Litauerüberfällen" versprachen - das läßt sich in der "Livländischen Chronik" nachlesen. Gut, wenn also nur die Zemgaller - die sich mit den Litauern verbündet hatten - damals siegten: als "erster Sieg über die Kreuzritter" wird es heute gerne genommen.
"Die Erinnerung an dieses Ereignis zeigt uns gleichzeitig, dass unser Volk nicht nur aus Feiglingen und Sklaven bestand", meint Guntis Kalme in einem Kommentar für delfi.lv und zählt gleichzeitig drei weitere Schlachten jener Zeit auf (1260, 1279 und 1287), die zu kurzfristigen Siegen damaliger baltischer Stämme führten. Kalme, Autor eines Buches mit dem Titel "Gedanken eines Priesters über die Geschichte seines Volkes", schreibt weiter: "Unser Selbstverständnis beginnt nicht bei Dainas, der Kokle und den Volkstrachten, sondern auch bei Mut und bei Siegen". Allerdings hätten auch die Sieger von 1236 nicht vollendet, was sie begonnen hatten - meint Kalme - sie hätten versäumt damals die "deutschen Eindringlinge" ganz rauszuwerfen und sich zu einem eigenen Staat zu vereinen. Da blicken die Letten dann wieder neidisch auf die Litauer, die ihre ruhmreiche Ahnenreihe ja in Mindaugas, Gedeminas, Vytautas und anderen verwirklicht sehen können.

Jensseits vom Basketball ...
Andere lettische Kommentatoren beklagen aber auch, dass es lettisch-litauische Gemeinsamkeiten im heutigen Alltag so gut wie gar nicht gibt. Gerne wird gestritten über die Unterschiede in der Landwirtschaftspolitik, die dazu führen, dass litauische Bauern ihre Erzeugnisse auf lettischen Märkten verkaufen (was aus lettischer Sicht eine stärkere Förderung durch die litauische Politik bedeutet). Nur ungern werden auch die vielen Maxima-Märkte geduldet, die sich in litauischem Besitz befinden (es soll Letten geben, die nur bei "Rimi" einkaufen, und Litauer nur bei "Maxima").
Ein anderes Beispiel ist die Verkehrspolitik: der Streit darum, ob es wieder nach gemeinsamem Konzept ausgebaute Bahnstrecken geben kann, ist fast so alt wie die wiedererrungene Unabhängigkeit.

Ein lettisch-deutsches Element dieser Thematik ist ja, dass die Kreuzritter auf lettischer Seite immer so dargestellt werden, als ob sie "aus Deutschland" gekommen seien. Mit dem Thronstreit zwischen Staufern und Welfen und mit den Interessenlagen von Sachsen, Schwaben oder Westfalen beschäftigen sich Letten dabei eher selten.
Also, was kann heute "baltische Einheit" für diejenigen bedeuteten, die nicht Letten oder Litauer sind? Es ist nicht so leicht mit den "Nationen", auch bei scheinbar großen Siegen gab es immer diejenigen auf der einen Seite und die auf der anderen - und sie ähneln einander sehr. Aber wenn sich einige in Lettland am 22.September auf einen der ehemals von einer hölzernen Burg gekrönten Hügel (lett. "pilskalni") zurückziehen mögen und ein paar romantische Momente am Lagerfeuerchen erleben wollen - dann sei es ihnen gegönnt.