30. Mai 2013

Amnesty im lettischen Wahlkampf: zwischen Russen und Letten

In der vergangenen Woche wurde der neueste Jahresbericht von "Amnesty International" über die Lage der Menschenrechte in der Welt veröffentlicht. Einige Pressereaktionen in Lettland zeigen, dass dort das Thema Menschenrechte immer noch keine sachliche und im internationalen Maßstab angemessene Behandlung erfährt.

Wer kommt hier hinein, wer muss hinaus? - Mit Blick
aus die Kommunalwahlen am kommenden
Wochenende sicher auch für den Stadtrat Riga
(= Rigas Dome) eine der spannensten Fragen
Nun ja, wir haben die letzte Woche des Kommunalwahlkampfs, und zudem das Verbot politischer Werbung in der Öffentlichkeit. Vielleicht müssen da einige Nationalradikale auf alte Schablonen zurückgreifen, so nach dem Motto: "Nur ein Lette versteht Lettland." Wie anders ist es zu verstehen, wenn eine der größten Tageszeitungen "Latvijas Avize" den Amnesty Bericht als "tendenziös" bezeichnen? Eine solche Behauptung legt nahe, dass nationale Stellen - auch Politiker, einem Berufsstand dem der gemeine Lette sonst wenig über den Weg traut - jederzeit das Recht hätten die Unabhängigkeit international anerkannter Organisationen kurzerhand für lettische Maßstäbe zurechtzurücken.

Menschenrechtsfragen im Kommunalwahlkampf
Da bleibt nur mal nachzuschauen, was in dem Bericht tatsächlich drinsteht.Es finden sich dort vor allem Anmerkungen zu den immer noch 300.000 Staatenlosen in Lettland, und zu den Rechten von Schwulen und Lesben. "Opfer von Hassverbrechen, die aufgrund von Geschlecht, einer Behinderung oder der sexuellen Orientierung begangen wurden, waren durch das Gesetz nicht geschützt." Aber, der Bericht sagt auch: "Im Juni 2012 fand in Riga die vierte jährliche Baltic Pride Parade mit mehr als 600 Teilnehmenden in guter Zusammenarbeit mit der
Polizei statt; Parlamentsmitglieder und der Außenminister waren bei der Veranstaltung
 zugegen."

Sowas liest sich schon wie ziemlich normale Auseinandersetzungen in einem demokratischen Staat. Zu den Staatenlosen (Nicht-Staatsbürgern / Nepilsoni) ist zu lesen: "Laut Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) waren mehr als 300 000 Personen weiterhin staatenlos, dies entsprach etwa einem Sechstel der Bevölkerung. Die meisten der Staatenlosen waren russischer Herkunft. Die Behörden betrachteten diese Personen allerdings als "Nicht-Bürger" ("non-citizens") mit einem Anrecht auf einen besseren Schutz und Zugang zu Rechten, als sie staatenlosen Personen nach dem Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 und dem Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 gewährt werden. Ihnen standen aber keine politischen Rechte zu."

Auch das liest sich eigentlich recht sachlich - schließlich wird niemand die Schuld zugeschrieben, warum es so viele Staatenlose überhaupt gibt. Dass es aber auf lange Sicht kein wünscheswerter Zustand ist, dürfte ja klar sein. "Keine politischen Rechte" heißt eben: gleichgestellt, möglichst nicht gegenüber anderen herabgesetzt, aber eben kein Wahlrecht (Mitbestimmungsrecht) auf kommunaler und nationaler Ebene.

Bürger und Nicht-Bürger
Nun zur Reaktion in der lettischen Presse. Die Journalistin Dace Kokareviča "Latvijas Avize" (LA) meint den Amnesty-Bericht als "tendenziös" bezeichnen zu müssen, und kritisiert dabei Aussagen des "EU-Observers" und der lettischen Nachrichtenagentur LETA. Amnesty sei da Teil einer gegen Lettland gerichteten "Kampagne", die Fakten verdrehe und manipuliere.
Zitat "EU-Observer": "In Estonia and Latvia, Amnesty voiced concern over the rights of 400,000 Russophone people who cannot get citizenship and whose "stateless" existence aggravates their poverty and isolation." Aggravate = verschärfen, verschlimmern. Will sagen: Nicht-Staatsbürger einfach zu ignorieren kann nicht gut gehen.  
Wie Voldemārs Krustiņš, ebenfalls Journalist bei der "Latvijas Avize", der vor einigen Tagen in einem Kommentar erstaunt registrierte dass Kinder aus lettischen Schulen zur "patriotischen Erziehung" in Militärlager nach Russland geschickt werden. Spätestens bei den nächsten Wahlen sollten die Parteien auch stärker danach gefragt werden, in wieweit ihnen Schritte zur Integration der ethnischen Russen gelungen sind, meint Krustiņš. 

Juris Jansons, vom lettischen Parlament seit März 2011 zum "Ombudsmann" bestellter Experte für die Menschenrechtssituation in Lettland - hier hat man sich wohl nach schwedischen und dänischen Vorbildern orientiert - wird in der LA mit den Worten zitiert: "Vom juristischen Standpunkt her habe auch Nicht-Staatsbürger dieselben sozialen wie ökonomischen Rechte. Nur: sie können eben nicht wählen, und am kommenden Samstag sich auch nicht in die Gemeindeverwaltungen wählen lassen. Einige wollen nicht mal Staatsbürger werden, denn dadurch würden ihre Berechtigung einiger sozialer Möglichkeiten eingeschränkt, die ihnen andere Staaten bieten - zum Beispiel Russland. Auch das Reisen und der Aufenthalt in ehemaligen Sowjetstaaten mit denen Lettland keine Regelungen zur Visafreiheit abgeschlossen hat, würde komplizierter. Die Staatsbürgerschaft ist ja kein Geschenk - sondern man muss sie auch in Lettland erwerben." 

"2012 standen im Amnesty-Bericht noch Fortschritte bei den Rechten für Kinder, für Frauen, und auch Regelungen gegen Gewalt in der Ehe verzeichnet," meint Ināra Mūrniece, Vorsitzende der Menschenrechtskommission des lettischen Parlaments und Abgeordnete der "Nationalen Vereinigung" (Nacionālā apvienība). Allerdings ist bei ihr auch klar der Graben zu erkennen, den viele Letten noch von einer Anerkennung der eigenen Verantwortung für die anstehenden Probleme trennt. Mūrniece stört sich einerseits daran, dass immer von "über 300.000 Nichtstaatsbürgern" die Rede sei (2012 waren es genau 280.584). Und Mūrniece schiebt die Schuld für diesen Zustand auch immer noch einer "Hinterlassenschaft der Sowjetunion" zu - von einem Bewußtsein dafür, sich selbst um Integrationsfragen kümmern zu wollen ist hier noch nichts zu spüren. Übrig bleibt ein ideologischer Graben, dessen Existenz in Kauf genommen wird, damit die Wähler der Nationalisten weiterhin fordern können, lettische Politiker sollten sich nur um ethnische Letten kümmern.

Nichts als alte Parolen?
Und leider bleiben solche Schablonen offenbar auch auf Seiten russischer Aktivisten populär. Denn eigentlich könnte Lettland ja ganz froh sein über den "Nepilsoņu kongress" (Kongress der Nichtsstaatsbürger), der in diesen Tagen um Anhänger wirbt und Repräsentanten dieser Gruppierung per öffentlich zugänglichen "Wahlstationen" bestimmen lassen will. Leider bleibt es nicht dabei, die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements zu betonen - denn daran hat es in den vergangenen Jahren der russischen Seite immer gefehlt. Wo Agonie und Gleichgültigkeit drohten könnten aktive lettische Russen ja zeigen, dass ziviles Engagement auch außerhalb politischer Parteien und Wahlen etwas ausrichten kann - und darf!
Sprüche wie "Diese Machthaber haben wir nicht gewählt, also vertreten sie uns auch nicht" sollen provozieren, werden aber von einigen so interpretiert, dass die Teilnahme an diesen Aktivitäten auch gleichzeitig gegen das existierende demokratische System und den lettischen Staat ausgerichtet seien.
Bei der Volksabstimmung über Russisch als 2.Amtssprache hat es sich teilweise so entwickelt - engagierte Aktivisten ließen sich nicht zum ersten Mal das Heft aus der Hand nehmen von Selbstdarstellern, die im Fahrwasser sowjetisch-romantischer Splitterparteien nicht nur Lettlands unrechtmäßig erzwungenen Beitritt zur Sowjetunion leugneten, sondern Unterstützer der lettischen Unabhängigkeit eben auch als "potentielle Faschisten" behandeln, ganz wie es auch zu Sowjetzeiten war.

Auch diese neue Initiative der Menschen ohne Staatsbürgerschaft wird sehr bald an verschiedenen Scheidewegen stehen. Sind erst mal "Repräsentanten" gewählt, was ist damit erreicht oder bewiesen? Und wie steht es mit denjenigen mit russischem Paß? Möchte man Interessenpolitik für Russland betreiben, oder lediglich erreichen dass die Stimme der Menschen ohne Staatsbürgerschaft auch gehört wird? Dabei helfen Forderungen wie diejenige an die EU, Lettland die für 2015 vorgesehene EU-Ratsbürgerschaft abzuerkennen, aber sicher nicht weiter. "Lettland ist auch mein Staat" - dieses Statement müsste mit Inhalt gefüllt werden ohne das diejenigen, die vor allem im Bewußtsein der schwer erkämpften lettischen Unabhängigkeit leben, sich Sorgen um den Erhalt des Erreichten machen müssen.

Schnell gestrickte Presseberichte
Und hier wird eigentlich deutlich, wo die wirkliche Sorge liegen könnte. Ein Patentrezept für ein besseres Zusammenleben von Russen und Letten im demokratischen Lettland gibt es nicht - man wird sich aneinander abarbeiten müssen. Wenn aber die Medien das Thema so gewissermaßen "im Vorbeigehen" aufgreifen, nur weil es populär zu sein scheint mal eben ein paar "Skandale" aufzugreifen ohne richtig hinzuschauen, dann wird das Bild schief - und das hat wohl auch der Amnesty-Bericht nicht beabsichtigt (wie oben zitiert: eigentlich steht nichts wirklich Neues drin). "Aber ich habe doch mit meinen eigenen Händen gegen die sowjetischen Panzer gekämpft - und nun stehe ich ohne Staatsbürgerschaft da!" Solche Sätze wirken wie aus der Zeit gefallen. Wer in 20 Jahren lettischer Unabhängigkeit als Lette sich keine Gedanken um die Integration von Nicht-Letten gemacht haben sollte, der muss wohl an Zeiten erinnert werden, wo in Riga auch schon mal "Nicht-Deutsche" wegsortiert und geringer bewertet wurden.
Ein Bericht im "Deutschlandradio" (Autorin. Birgit Johannsmeier) heute morgen bediente wieder angebliche "Russen-Sympathien". - Wer aber so tut, als ob bei Unkenntnis der lettischen Sprache in Lettland die Vorwürfe von keifenden Nationalisten das einzige Problem sei, der verkennt die Alltagsprobleme des Zusammenlebens ziemlich grob. Nicht nur für Letten, auch für Russen gilt es, sich der Realtität von heute zu stellen: Mehrsprachigkeit ist in! "Bis heute bekommt nur einen lettischen Paß, wer eine Sprachprüfung auf Lettisch besteht!" meint Frau Johannsmeier im Deutschlandradio, und lässt das mit dem Verweis auf viele ältere Russen so stehen (ich denke, auch als Journalistin wird man ja im Zuge professionellen Arbeitens mindestens zwei Sprachprüfungen in Riga benötigen).

Wer in Lettland keine Staatsbürgerschaft hat, der ist nicht einfach alt oder gar "unterdrückt" - es fehlt vor allem an einem gemeinsamen Selbstverständnis des eigenen Staates. Nochmals Zitat Deutschlandradio: "Die lettische Volksfront - also die lettische Befreiungsorganisation - hatte jedem einen eigenen Paß versprochen." Ja, und? Mit dem Seitenblick auf die Rolle der "Volksfront" (was ja keine "Partisanen" waren, und man erkläre bitte gleichzeitig wer sich damals alles dem Gegenpart der Volksfront, der "Interfront" anschloß, und was diese Leute heute machen!) können wir ja heute sagen: ja, sollte es diese Zusage gegeben haben: sie gilt auch heute noch! Wer in Lettland lebt wird schnell merken dass es sich lohnt, beide Sprachen (Lettisch wie Russisch) zu sprechen. Und wer dies dann akzeptiert (bis auf einige Ausnahmen aus sozialen Gründen, das ließe sich überlegen) der wird bald auch lettischer Staatsbürger sein. Wenn er oder sie es wirklich will.
Nur im Hinblick auf solche "Schnellschußberichte" mancher vielleicht überarbeiteter Journalisten könnte die Sorge einiger Letten berechtigt sein, der Jahresbericht von Amnesty International und die Art, wie die Presse ihn zitiert, könnte sich negativ für Lettland auswirken. 
Denn auch die nächste Behauptung, in Lettland seien keine "russischen Parteien" an der Regierung beteiligt, stimmt nur zum Teil: am kommenden Samstag geht es schließlich um Kommunalwahlen, und in der lettischen Hauptstadt sitzt schon seit 2009 ein ethnischer Russe auf dem Stuhl des Bürgermeisters.


Amnesty International - Bericht Lettland 2013  / Bericht EU-OBSERVER
Kommentar Voldemārs Krustiņš  / Juris Jansons, Ombudsmann / Nepilsonu kongress / Nichtstaatsbürger-Kongreß / Bericht Deutschlandradio /

Lettland macht Ernst mit dem Kinderschutz

Gewalt gegen Kinder ist ein Verbrechen - fraglos. Jugendliche sollen auch unter 18 Jahren keinen Alkohol trinken oder rauchen. Auch dagegen gibt es Gesetze, die den Verkauf entsprechender Waren an Minderjährige verhindern sollen. Das alles weiß jedes Kind. Und die Mäßigkeit des Erfolges ist auch hinlänglich bekannt.

Seit Kameraüberwachung und elektronischen Kassen ist es aber durchaus möglich, so manche Verletzungen dieser Gesetze zu verhindern.

Lettland arbeitet nun an einem Gesetzesvorschlag, den Schutz der Kinder noch grundlegend zu erweitern und will Erwachsenen verbieten, in der Gegenwart von Kindern zu rauchen.

Von der Idee her mag es gut sein zu verhindern, daß so viele Kinder in verrauchten Elternhäusern aufwachsen müssen, und da bekamen gleich einige Leute Angst, Eltern, die schlimmstenfalls noch beide Raucher sind, plane das neue Gesetz, die Kinder abzunehmen. So weit will aber der lettische Gesetzgeber denn gewiß nicht gehen.

Dennoch bleibt die unbeantwortete Frage, wie man das überwachen will. Die Polizei kann sicher nicht in allen Kneipen und Restaurants gleichzeitig anwesend sein, aber jedem dieser Etablissements kann jederzeit eine Kontrolle drohen, und die offenbart auch dann, daß vor Ort regelmäßig geraucht wird, wenn zum konkreten Zeitpunkt der Kontrolle kein Glimmstengel glüht. Aber wie bitte soll das in Privatwohnungen aussehen? Rauchrazzia im Wohnzimmer als neue Aufgabe für die lettische Polizei?

27. Mai 2013

Nils plus X

Bei den Kommunalwahlen 2009 überwanden in Riga nur vier Parteilisten die 5%-Hürde: erstmals konnte die Partei "Saskaņas centrs" (SC) einen Bürgermeister stellen, und erstmals seit Wiedererringung der lettischen Unabhängigkeit errang mit Nils Ušakovs ein gebürtiger Russe den Platz auf dem Chefsessel der Hauptstadt. Dies wurde möglich durch ein Bündnis mit der LPP/LC (Latvijas Pirma Partija / Latvijas Celš) und dessen damaligem starken Mann Ainārs Šlesers, ein stark wirtschaftsorientiertes Bündnis. Diese Mehrheit im Stadtrat (38 Stimmen von 60) wurde über die gesamten vier Jahre gehalten, trotz einiger Veränderungen: Ex-"Bulldozer" Šlesers wechselte vom Stuhl des Vize-Bürgermeisters zurück ins Parlament (und fiel dort mit seiner Partei krachend durch).

Mensch vor Stadtpanorama -
für beinahe alle
Bürgermeisterkandidaten
die liebste
Wohlfühlumgebung
Statt dessen rückte Andris Ameriks an die zweite Amtsträgerstelle in Riga. Ameriks, Ingenieur und Volkswirtschaftler, war seit mehr als 10 Jahren in verschiedener Funktion für Fragen der Privatisierung und der Hafenwirtschaft tätig. Er gilt einerseits als schillernde Figur - und gehörte bereits sechs verschiedenen Parteien an - aber andererseits als sehr kreativ bei der Vereinigung verschiedener Interessengruppen. Nachdem die einflußreiche Zeit der LPP/LC inklusive deren bisher finanzstarken Parteigründern vorbei zu sein schien, gründeten 316 Delegierte am 17.März 2012 eine neue Partei mit dem Slogan "Es ist eine Ehre Riga zu dienen!" ("Gods kalpot Rīgai!"). Deren Klientel scheint es nichts auszumachen, dass schon am Namen ablesbar scheint dass hier diejenigen sich zusammengetan haben, die momentan unter dem Schirm des guten Rufs von Nils Ušakovs gut leben. Bei den Kommunalwahlen am 1.Juni wird entschieden, ob Nil Walerjewitsch weitermachen darf.


Was versprechen die Gegenkandidaten?
Einige Zeit brauchte "Vienotība" (Einigkeit), die Regierungsfraktion des Regierungschefs Valdis Dombrovskis, um sich auf die Ex-Chefredakteurin der Zeitung DIENA, Sarmīte Ēlerte als Spitzenkandidatin in Riga zu einigen. Aus Brüssel konnte niemand abgeworben werden: sowohl Europaparlamentarier Krišjānis Kariņš wie auch Pēteris Viņķeļis, Büroleiter der EU-Abgeordneten und Ex-Außenminsterin Sandra Kalniete, wollten ihre Posten lieber nicht verlassen. Artis Pabriks, ebenfalls Ex-Außenminster und momentan fürs Militärische zuständig soll gesagt haben: "Ich mache keine Sachen von denen ich nichts verstehe."

So blieb nur Ex-Kulturministerin Ēlerte als einzige der bekannten Namen. Allerdings muss sie mit dem Makel leben bei der letzten Parlamentswahl nur deshalb nicht wiedergewählt worden zu sein weil das lettische Wahlgesetz den Wählern die Möglichkeit gibt auch Namen auf den Parteilisten zu streichen. "Ich bin nicht in die Politik gegangen um gemocht zu werden" entgegnet Ēlerte darauf.Sie kritisiert vor allem die aus ihrer Sicht engen Kontakte des russischstämmigen Bürgermeisters Ušakovs nach Moskau, und nennt als weitere wichtige Themen eine intelligente Ausrichtung der Industrie, eine gute Qualität der Bildungseinrichtungen und gesicherte Lebensverhältnisse für alle Bürgerinnen und Bürger. Als mögliche Koalitionspartner im Stadtrat benennt Ēlerte die Nationale Vereinigung ("Nacionālo apvienība"), sowie die Reformpartei und die Grünen ("Zaļa partija).

Die Wahlbezirke der Kommunalwahl in Lettland am1.Juni
Auch die Nationale Vereinigte Liste (Nacionālās apvienība) stellt eine Frau als Bürgermeister-kandidatin auf. Baiba Broka, auch schon mal als mögliche Kandidatin für das Amt der Justizministerin benannt, ist zwar öffentlich nicht so bekannt, aber keine politische Anfängerin. "Riga muss lettisch bleiben" ist ihr Slogan, und es sind Aussagen von ihr bekannt wie diese: "Es gibt Leute, die blind nach Brüssel schauen, und andere, die blind auf Moskau schauen." Will sagen: Lettland soll vor allem auf eigene Kräfte vertrauen. Juristisch trat Broka schon als Beraterin ausländischer Investoren wie auch mehrerer Minister auf. Sie ist Vorstandsmitglied der lettischen Flugverkehrsgesellschaft und kassierte dafür auch für lettische Verhältnisse üppige Honorare. Von Angstparolen wie "die Russen kommen" wollte sie aber bisher nichts wissen und gab zu, die Sozialpolitik von Bürgermeister Ušakovs sogar weiterführen zu wollen. Andererseits: auch als Bürgermeisterin würde sie am 16.März Blumen zu Ehren der gefallenen lettischen SS-Soldaten niederlegen.
Wichtig aber zu wissen: die gleichnamige bekannte lettische Schauspielerin Baiba Broka ist nicht identisch mit der Bürgermeisterkandidatin.

Mit Inga Antāne gibt es noch eine weitere weibliche Bürgermeisterkandidatin. Ob ihre "Reformpartei" aber die 5%-Hürde überspringen kann gilt als unsicher. Zwar erlebte die von Ex.Präsident Zatlers mitgegründete Partei ihren Höhepunkt bei den letzten Parlamentswahlen, aber die Wähler nahmen Zatlers den Versuch übel, mit der "Saskaņas centrs" anschließend Koalitionsgespräche zu versuchen (was allerdings fehlschlug). Mit fünf Ministern (Bildung, Umwelt, Außen, Innen, Wirtschaft) ist die Partei weiter einflußreich - aber den künftigen Rigaer Bürgermeister werden sie wohl nicht stellen.

Auch die lettischen Grünen waren bisher in Riga nie wirklich erfolgreich - ihre starke Basis haben sie in den Landgemeinden und Regionen, wo sie mit der lettischen Bauernpartei (Latvijas Zemnieku savienība) meist eine gemeinsame Liste stellen. In Riga marschieren beide getrennt - Arzt und Unterenehmer Guntis Belēvičs hofft auf Unterstützer "wirklich grüner Philosophie" und verspricht alle Kindergärten in Riga mit kostenfreien Öko-Lebensmitteln zu versorgen (während die Nationalradikalen in Kindergärten nur noch Lettisch erlauben wollen). Ob die Grünen mit dem Zugeständnis, eventuell auch mit der SC von Bürgermeister Ušakovs koalieren zu wollen, eine Nische der Wählergunst erobern können, wird sich erst am Wahlabend zeigen.

Freifahrtscheine und rote Linien
Seit 2009 glaubten einige, Nils Ušakovs habe seinen Aufstieg ins Bürgermeisteramt lediglich der damaligen Uneinigkeit der nationalkonservativen Parteien und populistischen Versprechungen von freien Busfahrscheinen für Rentner und Arbeitslose zu verdanken. Für die Wahlen am 1.Juni hoffen die beiden Parteien Ušakovs und Ameriks auf mehr als die Häfte der Stimmen. Sollte es nicht reichen, könnte auch spannend werden ob es außer "Vienotība" und der nationalen Liste noch jemand über die 5%-Hürde schafft und auf welche Seite sich diese Partei dann schlagen wird. Damit würde es - wie nach den letzten Parlamentswahlen - wieder um "Rote-Linien" gehen: wer kooperiert mit der SC und wer nicht.
Ob sich die zwischenzeitlich von der "Vienotība" losgetretene Diskussion um für Rigas Bürger bezahlbare Heizungsrechnungen noch für die Partei auszahlt, wird sich ebenfalls bei nun steigenden Außentemperaturen zeigen müssen.

In seiner Eindeutigkeit etwas überraschend ist, dass alle führenden Oppostionspolitiker die Arbeit von Bürgermeister Ušakovs zumindest teilweise anerkennen - ihn völlig abzuqualifizieren oder sich allzu laut als Ušakov-Gegner zu outen scheint niemanden momentan nützlich. "Ganz gut - aber Riga kann es besser!" so begründet es die Opposition. In sofern wäre eine zweite Amtszeit auf dem Rigaer Chefsessel keine Überraschung.Auch gesundheitlich scheint nach Ušakovs Zusammenbruch und wochenlangen Krankenhausaufenthalt beim Riga-Marathon 2011 nicht Besorgniserregendes zurückgeblieben zu sein.

Als wichtigste Themen sehen die Bürgerinnen und Bürger Rigas laut Umfragen folgende Themen an: Verringerung der Arbeitslosigkeit, bessere Qualität der Straßen, Bekämpfung der Korruption, bezahlbare Heizungskosten, kürzere Wartezeiten beim Kindergartenplatz, Unterstützung für Rentner und Familien. Sorgen bereitet auch die Tatsache, dass für die Stadt Riga nun schon im dritten Jahr in Folge die Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Daher fanden es einige auch gar nicht lustig, als vor einigen Wochen sogar bei starkem Schneefall den Autofahrern freie Busfahrkarten angeboten werden sollten - mit 61,6 Millionen Lat (ca. 88 Mill. Euro) musste allein im vergangenen Jahr der ÖPNV subventioniert werden. Nun hoffen die Stadtväter, dass sich die Freifahrtscheine auch in Tickets für eine erneute Amtszeit refinanzieren lassen.
Worauf hofft die Stadtrats-Opposition? Jedenfalls auf mehr Einflußmöglichkeiten als bisher. Ungewöhnlich in der letzten Phase des Wahlkampfs: 30 Tage vor der Wahlentscheidung ist nach neuer Regelung nun Wahlwerbung verboten.

Webseite Andris Ameriks  / Webseite Nils Ušakovs  / Sarmīte Ēlerte Blog
Nacionālā apvienība / Reformpartei / Lettische Grüne Partei / Vienotība

23. Mai 2013

Der Dichter

Ein Dichter ist als wie ein Baum

und seine Blüthen sind die Lieder

da schüttelt er im Frühlingstraum

sein volles Haupt wohl hin und wieder

vom Sturm bewegt, von Luft und Weh -  

und rings umher fällt Blüthenschnee.

Karl von Holtei (1798 – 1880),
Dramatiker, Lyriker, Erzähler; Publizist; Schauspieler; 1837-41 Theaterdirektor in Riga.

Das Gedicht "Der Dichter" ist eines von vielen möglichen Beispielen, wie alte deutschsprachige Texte aus dem alten Livland (also dem heutigen Südestland und Nord-Lettland) durch das Projekt EEVA öffentlich zugänglich gemacht wurden. Eigentlich soll es hier um Estland gehen - aber wie man sieht, lassen sich auch manche auf Lettland bezogene Schätze finden. 
Ein Auszug aus der Selbstdarstellung:
"
EEVA wurde im Herbst 2002 mit Unterstützung des Programms „Literaturklassik" des Kultusministeriums der Republik Estland gestartet.

Das Hauptziel von EEVA besteht darin, einen Zugang zu alten und seltenen Texten der Literaturgeschichte Estlands zu bieten und die Originaltexte gleichzeitig zu schonen.
EEVA beinhaltet Texte vom 13. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts."

Auf der dortigen Webseite ist noch vieles mehr nachlesbar.

16. Mai 2013

Explosive Insel

Die Daugava-Insel Kundziņsalā
aus Satellitenperspektive
Die Schlagzeile ging neben den aufsehenerregenden Anschlägen auf den Boston-Marathon etwas unter: am 17.April explodierte in Waco/Texas ein Düngemittelwerk - es gab 15 Tote und 200 Verletzte. Zunächst war ein Feuer auf dem Gelände ausgebrochen, so dass ein Teil der Toten und Verletzten auch freiwillige Helfer waren, die zur Brandbekämpfung herbeigeeilt waren (siehe Berichte FAZ, Spiegel online, Süddeutsche Zeitung). Anorganische Mineraldünger gelten als explosionsgefährdet, Ammoniumnitrat wurde auch schon bei Attentaten eingesetzt.Lettische Umweltschützer sind in Sorge: ein ganz ähnliches Werk wird im Bereich des Hafens in Riga geplant.

90.000 Tonnen - 4,5mal mehr Ammoniumnitrat als in der Unglücksstätte in Texas - solle in Riga gelagert werden, äußern sich Kritiker dieser Pläne besorgt. Verschiedene Bürger- und Nachbarschaftsvereine der betroffenen Gegend nahe der Daugava-Insel Kundziņsalā schrieben kürzlich einen offenen Brief an Ministerpräsident Dombrovskis, Bürgermeister Užakovs, Umweltminister Edmunds Sprūdžs und Innenminister Rihards Kozlovskis mit der Bitte, die am 26.7.2011 der " "Riga fertilizer terminal" GmbH erteilte Bauerlaubnis wieder zurückzunehmen. Das Inselgelände nahe der Daugavamündung, zwischen den Stadtteilen Sarkandaugava (östlich) und Bolderāja (westlich) gelegen (auch Mežaparks ist nicht weit) wird seit Ende des 18.Jahrhunderts, nach einer Vertiefung der Daugava und dem Bau von Dämmen genutzt; heute befinden sich auf der Insel neben einem industriell genutzten Gebiet auch einige Wohnhäuser und viele kleine Gärten.

Dunkle Wolken über den Rigaer Hafenvierteln: gestern
war es noch ein kleinerer Brand der nach ein paar
Stunden gelöscht werden konnte (Foto: Delfi.lv)
Falls das Düngerterminal gebaut wird - der Baubeginn ist für Ende dieses Jahres vorgesehen - würden auch zwei komplette Güterzüge mit 84 Waggons zusätzlich pro Tag durch Lettland und durch Riga Richtung Hafen rollen - so haben es die Bürgerinitiativen ausgerechnet. Die Eigentümerfirma "Riga fertilizer terminal" RFT ist zu 49% in Besitz des Rigaer Handelshafens, 51% gehören der russischen "UralChem".

Die Bauerlaubnis sei zu voreilig und unüberlegt erteilt worden, so argumentieren die Gegner."Wie das Unglück in den USA zeigt, ist eine Prüfung der Umweltverträglichkeit von so einem Terminal, das keine drei Kilometer von Rigas Altstadt gebaut werden soll, unumgänglich," meint inzwischen auch Uģis Rotbergs, Vorsitzender der lettischen Sektion des World Wildlife Fund (WWF - Pasaules Dabas Fonds). "Für die Einwohner Riga ist es schlecht durchschaubar welche gefährlichen Güter quer durch ihre Stadt transportiert werden."
Nach Meinung von Roberts Kļaviņš, Projektmanager des Düngemittelterminals, sind alle geplanten Anlagen sicher, da sie mit neuester Technologie (aus Deutschland!) gebaut würden. Und - auch das scheint als Argument zu funktionieren - schließlich habe die Firma "UralChem" bereits 80.000 Lat für soziale Projekte gespendet, unter anderem um Badeplätze für Kinder herzurichten.

Wie als Warnzeichen standen gestern dunkle Rauchwolken über Sarkandaugava: Zeitungsberichten zufolge hieß es, Dämmmaterial sei in Brand geraten. Auch im Jahr 2009 hatte es schon mal einen Chemieunfall auf der Insel gegeben, wegen dem alle Einwohner kurzzeitig evakuiert worden waren.

Einzelheiten zum Thema:
ABC.lv (Internetportal zur Bauwirtschaftschaft)

Ausschnitt aus "LTV Panorama" zum Thema / Artikel in DIENA / Bericht delfi.lv
/ Bericht apollo.lv / Bericht FinanznetVecmīlgrāvja attīstības biedrība

15. Mai 2013

Lettlands Straßen sollen deutscher werden

Warum sind viele Straßen in Lettland in einem so schlechten Zustand? Schon seit einigen Jahren beklagen alle Verkehrsteilnehmer/innen eine zunehmende Vernachlässigung der Pflege der Verkehrswege in Lettland. Die Journalistin Antra Egle ging für die Zeitschrift IR den Hintergründen nach.

Durchschnittlich 20 Jahre könnte die Asphaltdecke einer Straße halten, bevor sie komplett erneuert werden muss. In Lettland haben viele Straßen aber seit 30-40 Jahren keine Kompletterneuerung gesehen. Wie kommt das, und ist der Eindruck richtig dass die Nachbarn Litauen und Estland ihr Straßennetz besser pflegen?

Jedes Jahr im Frühjahr, wenn der zurückgehende Frost die Straßendecken aufsprengt, kommt es zu neuen Diskussionen in der Öffentlichkeit und in den Medien.Besonders ashaltsprengend seien alle Wettersituationen, bei denen Frost und Tauwetter sich kurzfristig abwechseln - und das sei allein im Winter 12/13 18mal der Fall gewesen. Und wie werden die Nachbarländer mit einer ähnlichen Situation fertig? Im Unterschied zu Lettland, wo EU-Gelder etwa 50% der Baukosten decken müssen, investieren die Nachbarn mehr in ihre Straßen, so meint Egle. In Litauen und Estland läge der mittlere EU-Zuschuß bei Straßenbau nur bei 25-30%.

Aus Litauen werden Aussagen der Straßenverwaltung zititiert, dass dort 80% der Einnahmen aus der Benzinsteuer direkt in den Straßenbau fließen (in Estland 75%) und kommerzielle Spediteure zusätzlich Abgaben bezahlen. In Estland wiederum seien mit 3.14 Milliarden Euro an EU-Geldern bereits in den Straßenbau gesteckt worden - mit weitem Abstand folgen Litauen mit 830 und Lettland mit 825 Millionen Euro.
Ex-Regierungschef Einars Repše sei es gewesen, der ein ähnliches Finanzierungssystem zugunsten des Straßenbaus vor 10 Jahren geändert habe, schreibt Egle. Nun will das lettischen Verkehrsministerium gemeinsam mit der Straßenbauverwaltung zurück zur direkten Haushaltsbindung der entsprechenden Steuereinnahmen. Aber nicht nur Finanzierungsmangel haben Kritiker beim lettischen Straßenbau ausgemacht, auch die Qualität bleibe hinter den Standards zurück. "
Je billiger man die unteren Tragschichten anlegt, desto teurer wird die Ausbesserung" läßt sich Ainārs Paeglītis, Wissen-schaftler an der TU Riga, zitieren. Teilweise sei es eine nachlässige Bauweise, die schon nach 5 Jahren eine komplette Erneuerung der Straßen verlange. Auch beim Einkauf der Materialien werde gespart: "Werden diese in Deutschland gekauft, kann man vertrauen das drin ist was drauf steht - bei denen aus Russland aber nicht." - Daher sei wohl eine strengere und unabhängige Qualitätskontrolle notwendig, wie auch der Auschluß von Firmen von Ausschreibungen, falls sich deren Angegbote als nicht korrekt herausgestellt habe. Als Vorbild wird auch hier wieder Deutschland genannt: dort würden exakte Festlegungen in der technischen Dokumentation verhindern dass die ausführende Firma Matterialien minderer Qualität einsetzen könne.

Als Hoffnungszeichen wird die steigende Konkurrenz bei den Ausschreibungen von Straßenbauprojekten in Lettland eingeschätzt. 8-10 Firmen würden sich inzwischen um die Aufträge streiten, und es seien manche darunter für die jeder Auftrag nicht weniger als das Überleben bedeuten würde.


Beitrag Antra Egle in "IR" / Webseite zum lettischen Straßennetz

1. Mai 2013

Fremd im Alltag, gemeinsam auf die Schulbank

Lettischen Presseberichten zufolge werden im kommenden Schuljahr 546 Kinder eingeschult, deren Eltern aus anderen Staaten kürzlich nach Lettland eingewandert sind (siehe "Latvijas Avize"). Während in Ländern wie Deutschland der "Migrationshintergrund" schon fast zum geflügelten Wort geworden ist, ist diese Situation für lettische Bildungseinrichtungen eher ungewohnt.

Integration - wie geht das?
Alltag mit deutlich interkulturellem Einschlag:
in Lettland ein eher seltenes Bild
Lettische Behörden wie das dem Kulturministerium unterstehende "Nationale Integrationszentrum" ("Nacionālais integrācijas centrs" NIC) versuchen nun in Form von Seminaren und Schulungen offenbar vor allem lettische Bürgerinnen und Bürger mit Fragen der Integration vertraut zu machen.Ein Diskussionsforum "Wie offen ist das lettische Bildungswesen" soll Angestellte im Schulwesen mit verschiedenen Fragen der Integration von Ausländerkindern vertraut machen.
Nach Angaben des NIC waren es 2004 noch 5402 Personen, die sich in Lettland mit zeitlich begrenzter Aufenthaltserlaubnis lebten, 2011 war diese Zahl auf 7519 Personen angewachsen und steigt weiter.
Neben den immer noch ca.320.000 vorwiegend russischstämmigen "Nichtstaatsbürgern" (14,1% der in Lettland lebenden Menschen), also Personen die das Recht haben in Lettland zu leben, aber aus verschiedenen Gründen sich bisher dem Einbürgerungsprozeß verweigert haben, scheint die Zahl der Neuankömmlinge aus weiteren Staaten gering. Ein wenig merkwürdig klingt es schon: da sollen diejenigen, die beim Blick auf die jahrzehntelang vertrauten Russen oft schon sagen: "das geht nicht, das passt nicht zusammen, das wird nie funktionieren!" - nun sich mit dem Fokus von Neubürgern "aus Drittstaaten" (gemäß Definition des Lissaboner Abkommens) kümmern. Über 20 Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands gelten nun sowohl für "Nicht-Staatsbürger" wie auch für Imigranten von außerhalb der EU ähnliche Regeln. Schon das NIC versieht es mit einem Fragezeichen: "Harmonisches Europa?"

Das NIC definiert nun drei verschiedene Gruppen von Immigranten: Erstens Ex-Bürger der UDSSR, die zu Zeiten der lettischen SSR (nach lettischer Definition: zu Zeiten der Okkupation Lettlands) ins Land gekommen sind, und deren Nachkommen. Sie haben gemäß dem Gesetz über Nicht-Staatsbürger (nepilsoni) besondere Rechte: sie müssen nicht ständig neue Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnisse beantragen, sie haben das Recht die lettische Staatsbürgerschaft zu beantragen und damit auch das Wahlrecht zu bekommen. Zweitens ständig und langfristig in Lettland lebende Bürger anderer Staaten, darunter EU-Bürger, Schweizer, auch Russen. Drittens jüngere Einwanderer, die nach 1992 nach Lettland gekommen sind und keine EU-Bürger sind - vielfach Bürger anderer Ex-Sowjetstaaten. 

Ausschnitt einer Seminardokumentation des
"Nationalen Integrationszentrums"
Laut Umfragen, die das NIC selbst zitiert, beantworten nur 30,2% der Letten die Frage nach der Gleichwertigkeit von Menschen mit anderer ethnischer Herkunft mit "ja". Es ist also offensichtlich, dass demokratische Werte in der lettischen Gesellschaft noch viel Entwicklungspotential haben, selbst wenn anzunehmen ist, dass die meisten immer nur die Sprüche derjenigen Politfunktionäre im Kopf haben, die bedingungslos gleiche Rechte für alle Russen in Lettland fordern - und deshalb beim Stichwort "Gleichwertigkeit" solche Antworten geben.

Hoffnung auf die Jugend
Manche setzen in Lettland nun alle Hoffnung auf die Jugend. Die neue Generation könnte vielleicht weniger eingeschliffenes Freund-Feind-Denken, mehr Sprachkenntnisse und Erfahrung im Umgang mit anderen Ethnien und Mentalitäten durch Auslandsaufenthalte erwarten. Leider lässt sich das im Moment in den lettischen Schulen noch nicht feststellen - vielleicht mit Ausnahme der Zunahme lettischer Sprachkenntnisse bei jungen Russen. Das NIC zitiert eine Umfrage, der zufolge 42% aller lettischen Schülerinnen und Schüler nicht gemeinsam in einer Klasse mit Russischstämmigen unterrichtet werden wollen, und sogar 56% aller Russischstämmigen nicht mit lettischen Mitschülern zusammengesetzt werden wollen. Besorgniserregend auch wie wenige der Jugendlichen an Möglichkeiten glauben, auf politische Entscheidungen überhaupt Einfluß nehmen zu können."Die Jugendpolitik und die Beteiligung der Gesellschaft - hier wird sich in Zukunft entscheiden, ob Lettland eine ausgeglichene Gesellschaft haben wird," so steht es in einem Thesenpapier des NIC. Im Jahr 2010 war noch ein Drittel der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos.

Sich schnell und unauffällig möglichst wie ein
Einheimischer benehmen - ob das geht?
Māris Pūlis, nach England ausgewanderter Lette, erzählt den wahrscheinlich staunenden Leserinnen und Lesern der "Latvijas Avize" von seiner Arbeit in Schulen mit 80% Einwanderanteil aus Asien. "Dort gibt es sogar Englischkurse für Einwandererkinder und auch deren Mütter", so Pūlis. "Ein gutes System, aber sehr teuer" meint er. In Schulen die sich das nicht leisten könnten gäbe es Mentoren für jeden Neuankömmling, am besten jemand der selbst Migrationshintergrund habe. Ganz andere Probleme hat da im Vergleich Edvīns Šilovs, Direktor eines Gymnasiums in Riga (ebf. zitiert in "Latvijas Avize"). Zwar befänden sich unter seinen Schülern auch Kinder von Einwanderern aus Aserbaidschan und aus Deutschland, aber als größte Herausforderung bezeichnet er zwei Brüder aus Indien, die viel mehr Achtung und Disziplin gegenüber Lehrkräften und Schulverwaltung gewohnt seien als in lettischen Schulen üblich. Schuldirektor Pūlis hält zudem auch die Sprachbarriere für leichter zu überwinden, je aktiver und selbständiger die Schüler sind. Grundsätzliche Probleme solche Kinder an der eigenen Schule aufzunehmen sieht Pūlis zwar nicht, schlägt aber doch eine Art gesonderte "Immigrantenschule" vor, die einige Monate lang einer Aufnahme ins normale Schulsystem vorgeschaltet sein könnte und deren Aufgabe vor allem Hilfe beim Spracherwerb und interkulturelle Fragen wären. Aber eine andere Aussage von ihm könnte auch Diskussionen verursachen: "Je weniger der Schüler merkt dass er anders ist, desto besser kann die Integration gelingen" - da klingt sehr die Vorstellung von einem ethnisch möglichst gleichförmigen Lettland an, und nimmt die Änderung von Verhaltensweisen auf lettischer Seite noch nicht mit in den Blick.

Bestes Rezept: sich nicht wie ein Ausländer fühlen?
Von größerem Interesse auf lettischer Seite erzählen regelmäßig diejenigen, die von weiter entfernteren Ländern kommen. Mexikaner, Spanier, Japaner fühlen sich - besonders wenn sie Gelegenheit haben ihre eigene Sprache zu lehren - in Lettland weitgehend akzeptiert. Von wissenschaftlicher Seite sind Beobachtungen notiert, denen zufolge die meisten Letten Menschen aus anderen Ländern zumindest eher "in Ruhe lassen" - man lebt nebeneinander her.

Der nächste Punkt wäre ein Zusammenleben verschiedener Ethnien und Kulturen stärker in die Ausbildung von Pädagogen aufzunehmen. Anderseits könnten die lettischen Erfahrungen mit bilingualen Schulen auch helfen zukünftig Immigrantenkinder besser aufzunehmen. Die Zahl von 454 Kindern mit Migrationshintergrund im jetzt zu Ende gehenden Schuljahr scheint zunächst noch sehr überschaubar. Je 54 Schülerinnen und Schüler sind britischer bzw. deutscher Herkunft, 26 aus den USA. Die größten "Exoten" sind bisher 10 Immigrantenkinder aus Thailand, 8 aus Korea, zwei aus Venezuela und ein Chinese.

Konferenzeinladung “A Harmonious Europe (?) - Integration policy in Europe in the 21st century” - “Saliedēti Eiropā (?) – Integrācijas politika Eiropā 21. gadsimtā” (15/16.Mai2013)