30. Dezember 2014

Titel errungen

Unter Sportinteressierten in Deutschland ist auch Martins Dukurs ein bekannter Name - der Skeleton-Pilot, seit 2009 fünfmal in Folge Weltcupsieger, mehrfacher Welt- und Europameister, zuletzt Silbermedailliengewinner bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi (wie schon 2010 in Vancouver). Es verwundert also nicht, dass Dukurs vor einigen Tagen bereits zum vierten Mal (2010, 2011, 2013 und 2014) zu Lettlands Sportler des Jahres gewählt wurde.
Mit Dukurs in seiner Popularität einigermaßen mithalten kann lediglich - aber besonders unter der Jugend - Māris Štrombergs, BMX-Radsportler, Goldmedailliengewinner 2008 in Peking und 2012 in London. Seine sensationellen Erfolge sorgten dafür, dass seine Heimatstadt Valmiera neue BMX-Bahnen baute. Allerdings gibt er auf seiner Webseite zu, in letzter Zeit manchmal mehr Golf gespielt zu haben als an seine BMX-Räder zu denken; vielleicht ist also Štrombergs' große Zeit auch schon ein wenig vorbei (Sportler des Jahres 2008 und 2012).
International bekannt sind auch Tennisspieler Ernests Gulbis sowie Andrejs Rastorgujevs, letzterer allerdings wohl nur deshalb, weil sein Sport, Biathlon, im deutschsprachigen Raum so extrem populär ist vor allem unter Fernsehzuschauern.Bei jungen Lettinnen und Letten zunehmend populär ist auch Reinis Nitišs, ein 19-jähriger Rallye-Cross-Fahrer.

Martins Dukurs, vierfacher lettischer Sportler des
Jahres - doch wer ist die Dame neben ihm?
Weit weniger geläufig werden die Namen der Sportlerinnen sein, die dieses Jahr in Lettland ausgezeichnet wurden. Unter dem Sportlerinnen-Nachwuchs ragt zum Beispiel die 17-jährige Aļona Ostapenko hervor, die sich von gegenwärtig Platz 271 der Weltrangliste langsam nach oben kämpft und 2014 das Jugendturnier in Wimbleton gewann. Schon 2011 verriet die ambitionierte Lettin einer lettischen Sportzeitung: "Ich will eine der drei besten Tennisspielerinnen der Welt werden!" Sportfans sollten sich nicht wundern, sie bei internationalen Turnieren als "Jeļena Ostapenko" starten zu sehen. Das ist der lettischen Bürokratie zuzuschreiben: da "Aļona"nicht als "lettischer Name" anerkannt wurde, ist "Jeļena" in ihrem Pass eingetragen. Nur ein kleiner Ausschnitt von den Schwierigkeiten die Russischstämmige in Lettland haben können - aber die Behörden müssen jetzt wohl damit leben, dass diese Geschichte mit zunehmender Bekanntheit der jungen Sportlerin sich immer weiter verbreitet.

Doch wer ist Anastasija Grigorjeva? Zum einen, neben Ostapenko, bereits die nächste erfolgreiche russischstämmige Lettin. Aber auch wer bisher meinte, sich einigermaßen mit den in Lettland populärsten Sportarten auszukennen (und aus diesen Kreisen werden ja auch in der Regel die Sportler des Jahres gewählt), wird sich neu orientieren müssen. Keine Speerwerferin, Weitspringerin oder Marathon-Läuferin gewann 2014 diesen Titel (in allen drei Sportarten gibt es bereits erfolgreiche Lettinnen: Speerwerferin Madara Palameika ist mit 66,12m lettische Rekordhalterin und 8. im Olympischen Finale in London 2012, Weitspringerin Ineta Radēviča war 2010 Europameisterin, und Jeļena Prokopčuka gewann den New-York-Marathon 2005 und 2006).
Nun, Anastasija Grigorjeva ist .... Ringerin. Also eine Sportart, der noch vor kurzem der Status eines olympischen Sports aberkannt werden sollte - und deren Berichterstattung auch in Deutschland inzwischen völlig untergegangen ist (wer entsprechende Berichte im deutschen Fernsehen sucht, wird lange suchen müssen). Sogar Lettisch-Lernende werden die Bezeichnung "cīkstone" (Ringerin) vielleicht im Lexikon nachschlagen müssen, weil noch nie gebraucht. Grigorjewa ist Freistil-Ringerin, stammt aus Daugavpils, ist 24 Jahre alt und wurde bei den Olympischen Spielen 2012 Neunte. Aber 2013 wurde sie in der Klasse bis 63kg Europameisterin, kletterte Anfang 2014 auf Platz 1 der Weltrangliste und wiederholte ihren Europameistertitel. Wer es übersehen haben sollte: Anastasija Grigorjewa war schon 2013 Lettlands Sportlerin des Jahres - man muss sich eben nur mal für Ringen interessieren.

23. Dezember 2014

Blauäugig

"Es war im August. Das Essen mit ihr dauerte volle zwei Stunden. Mich hatte es überrascht, wie sehr sie sich mit Osteuropa identifiziert. Für sie sind es 'die unsrigen'; wir, die im Sowjetsystem groß geworden sind, werden bis zum Lebensende diese Brille nicht loswerden, mit der wir auf die Welt schauen. Es hat mich auch überrascht, wie gut sie Russisch spricht - wir haben teilweise miteinander Russisch gesprochen wenn wir wollten, dass uns niemand versteht. Sie kann auch die russische Mentalität nachfühlen, die Sowjetmentalität. Daher sieht sie alle Ereignisse auch von der irrationalen Seite. Es ist wichtig dass die Menschen, gegenwärtig abhängig von der Sicherheit Europas, auch die irrationale Umwelt fühlen und verstehen können - womit die Westler oft Probleme haben. Sie versuchen sich das immer logisch, pragmatisch aufzulösen - aber rein logische Erklärungen gibt es in Wirklichkeit nicht. Mich hat überrascht wie sehr, sehr schöne Augen sie hat: hellblau. Natürlich, sie ist eine sehr charismatische Person."

Das sagte der lettische Regisseur und Theatermacher Alvis Hermanis über ein Treffen mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im August 2014 in Salzburg, nachzulesen in der Ausgabe der Zeitschrift "IR" vom 3.Dezember 2014

13. Dezember 2014

Zum Abschluß großes Kino

Der Europäische Filmpreis - manche nennen ihn "Felix", andere den "europäischen Oskar" - wird seit 1988 von der Europäischen Filmakademie (EFA) verliehen. Die Preisverleihung findet seit Ende der 1990er Jahre in allen ungeraden Jahren in Deutschland statt - jetzt bildet sie eines der letzten Highlights des Kulturhauptstadtjahres 2014 in Riga. Die Preise werden in Anwesenheit von sechs Kulturministern verliehen: Josef Ostermayer (Österreich), Urve Tiidus (Estland), Dace Melbārde (Lettland), Šarūnas Birutis (Litauen), Małgorzata Omilanowska (Polen) und Memli Krasniqi (Kosovo). Lettland wird gegenwärtig durch acht Filmexpertinnen und Experten bei der Europäischen Filmakademie vertreten: die Filmkritikerinnen Daira Āboliņa und Dita Rietuma, Produzent Uldis Cekulis, die Regisseure Andrejs Ēķis, Vilnis Kalnaellis, Ināra Kolmane, Ivars Seleckis, Kameramann Gints Bērziņš und Animationsfilmemacher Jurģis Krāsons.

Wim Wenders in Riga - allein das ist sicher ein Foto wert. Aber auch lettische Filmemacher nahmen die illustre Gästeliste aus ganz Europa zum Anlaß, auch die Verleihung des "Lielais Kristaps" (des lettischen Filmpreises) ebenfalls in den Dezember (2.-12.Dezember) zu legen. Als Lettlands beste Filme wurden dieses Jahr prämiert:

Bester Spielfilm: „Mammu, es tevi mīlu” ("Mamma ich liebe dich", Regie Jānis Nords)
Bester Dokumentarfilm: “Uz spēles Latvija” ("Lettland auf dem Spiel", Regie Pēteris Krilovs)
Bester Animationsfilm: “Akmeņi manās kabatās” (Steine in meinen Taschen, Regie Signe Baumane)
Bestes Filmdebut: “Modris” (Regie Juris Kursietis)

Den Titel als "bester europäischer Film" erhielt am 13.Dezember Pawel Pawlikowski’s “Ida” der eine junge katholische Nonne zur Hauptperson hat, die entdeckt dass ihre Eltern Juden waren die in Polen während der Besetzung durch die Nazis ermordet wurden (siehe "Spiegel", "Die Zeit", "The Telegraph", "The Economist").

Liste der Preisträger / Katalogübersichten aller nominierten Film (als PDF) / Aufzeichnung des Lettischen Fernsehens LTV / Zusammenfassung 14.12. bei ARTE

27. November 2014

Der Twitterer des Monats

Weniger negativ als erwartet - so beschreibt Edgars Rinkēvičs, lettischer Außenminister und Mitglied der Regierungspartei "Vienotība", sei die Reaktion der lettischen Öffentlichkeit auf sein  Bekenntnis schwul zu sein. So berichtet es der Politiker nun in einem Interview für die "Washington Post".

Lettlands Twitterer des Monats
Seine Entscheidung eines öffentlichen Statements sei langsam gereift, ließ Rinkēvičs sich zitieren. Schließlich habe es in Fragen von Partnerschaften bereits einiges in Lettland getan, verglichen mit der Situation vor 10 oder 20 Jahren, meint er, und er sei es leid gewesen immer auf Fragen nach einer Frau an seiner Seite vorbereitet sein zu müssen. Die Reaktionen auf seine Twitternachricht seien aber im Schnitt positiver gewesen, als er sich das am Abend des 6.November habe vorstellen können. Einige unterstützende Stellungnahmen seien es gewesen, natürlich auch Kritik, vereinzelte hysterische Reaktionen - im Durchschnitt aber ausgewogen. "Solange du deinen Job gut machst ist uns völlig egal, was in deinem Privatleben ist," - diesen Satz habe er am häufigsten gehört. Inzwischen sei das Aufsehen abgeebbt und die Außenpolitik stehe nun wieder im Vordergrund.

Eine offenere Gesellschaft, das sei eben nicht im Laufe von wenigen Jahren zu erwarten, so Rinkēvičs. Bei seinem Entschluß in die Politik zu gehen habe sein Schwulsein aber nie eine Rolle gespielt. In Lettland gäbe es noch Krankenhäuser, wo Ärzte keinerlei Informationen an Lebenspartner weitergeben dürfen, die nicht miteinander verheiratet sind. Ähnliches passiere vor Gericht und in Eigentumsfragen. Und die lettischer Verfassung sehe eine Ehe nur zwischen Mann und Frau vor, und eine Mehrheit im Parlament, daran etwas zu ändern, sehe er nicht, meinte Rinkēvičs.

Edgars Rinkēvičs hatte Politikwissenschaften in den Niederlanden und den USA studiert und auch als Journalist gearbeitet, bevor er 1995 bis 2008 zunächst im lettischen Verteidigungsministerium in verschiedenen Positionen arbeitete, und bis zu seiner Ernennung als Außenminister 2011 die Kanzlei des lettischen Präsidenten leitete. Als er am 6.November per Twitternachricht 'lepns būt gejs' postete ("stolz schwul zu sein"),  wurde er zum ersten lettischen Politiker, der sich zu seinem Schwulsein öffentlich bekannte. Bei den Parlamentswahlen am 4.Oktober 2014 hatte er im Wahlbezirk Riga auf der Liste seiner Partei die meisten Wählerstimmen aller Kandidaten bekommen.

Wenn man lettische Internetforen liest, so lassen sich auch Stimmen finden die meinen, Rinkēvičs' Karriere sei mit diesem Aufsehen erregenden Statement beendet. Auch die öffentlichen Demonstrationen des "Baltic Pride" waren in Riga bisher stets von agressiven Gegendemonstrationen begleitet; in der Weltsicht solcher "Schwulenhasser" werden dann Schwule und Lesben gleichgestellt mit Alkohol- und Drogenabhängigen, genetisch veränderten Lebensmitteln und allerlei anderem "Übel der modernen Welt". 
Auch aus dem Nachbarland Russland war ein Kommentar des stellvertretenden russischen Außenministers Dmitry Rogozin zu lesen, der das Bekenntnis des lettischen Ministers so kommentierte: "Wenn Du nichts hast worauf du stolz sein kannst, dann kannst du auch auf sowas stolz sein."
Gerade eben ist jedoch die Regierungsbildung des 2.Kabinetts unter Laimdota Straujuma abgeschlossen, und zumindest bis zum Abschluß der lettischen EU-Ratspräsidentschaft haben alle Beteiligten zugesagt, stabil zusammenzustehen. Eine Frist auch vielleicht für die innere, persönliche Stabilisierung, die der lettische Außenminister sicher noch brauchen wird.

26. November 2014

Neues aus der Altstadt

An neue Anblicke in der Altstadt Rigas - im Jahr 2014 Europäische Kulturhauptstadt - müssen sich Einwohner wie Gäste in Zukunft gewöhnen. Die Pläne zur Auffüllung von Baulücken stossen jedoch nicht bei allen auf Wohlgefallen.

Im Mai 2012 wurde Gvido Princis zum Rigaer Stadtarchitekten ernannt. Bei seiner Ernennung, bei der er sich gegen Konkurrenten durchsetzen musste, galt er als unumstritten. Gleichzeitig gilt er als erfolgreicher, aber unabhängiger Kopf. Als im Jahr 2008 Pēteris Strancis, Chef der Stadtplanungsbehörde, und Vilnis Štrams, Chef der Stadtentwicklungsabteilung, vom lettischen Anti-Korruptionsbüro (Korupcijas novēršanas un apkarošanas birojs - KNAB) verhaftet wurden, rückte Princis auf die Position des Chefstadtplaners vor.
2006 hatte ein Korruptionsskandal auch die staatliche Denkmalschutzbehörde erschüttert, als deren Chef Jānis Lejnieks angeklagt wurde, sich seine Zustimmung zu Bauprojekten auch schon mal gegen Zahlung von Geld habe erkaufen lassen (siehe TVNet 6.3.2006).Nun steht also Princis mit seinem Namen für die Stadtentwicklung.

So könnte schon bald der Platz zwischen Schwarzhäupterhaus und
Mentzendorff-Haus in Riga aussehen
Für manche der laufenden Bauprojekte in Riga sind öffentliche Anhörungen vorgesehen, es können Eingaben eingereicht werden. Zwei Hotelbauten in direkter Nachbarschaft zum berühmten und erst 2001 neu aufgebauten Schwarzhäupterhaus erzeugen derzeit die heftigsten Reaktionen in der lettischen Öffentlichkeit.  Manche fühlen sich dabei an "alte Zeiten" erinnert - wie der Ex-Chef des KNAB, Aleksejs Loskutovs, der zu möglichst großer Beteiligung und zu Eingaben gegen die Pläne aufruft.
weniger auffällig: der zweite geplante Neubau an der Kungu iela 5
(Abb.: Agenturbüro MARK)
Während noch immer über einen möglichen Anbau des Okkupations-museums diskutiert wird, andere sogar die Gebäude der Technischen Universität in der Altstadt unpassend finden - da haben offenbar mal wieder einige "Business"-Projekte höhere Priorität.

Vor allem die Fassade des Hotelneubaus an der Grēcinieku ielā 25 ruft Ablehnung hervor. Sieben Stockwerke Hotel, mitten zwischen einigen der wertvollsten und ältesten Bauten Rigas? Während eine frühere Planung aus dem Jahr 2007, hier ein Wohnhaus mit Läden errichten zu lassen keine öffentliche Anhörung erfordert hätte, wird vor allem diese jetzt zum Hindernis. Der neue Eigentümer, ein litauisches Unternehmen, will ein Hotel bauen lassen. Vor allem zum Aussehen der geplanten Fassade gibt es negative Reaktionen. Autor der Bauskizzen ist Andris Kronbergs und das Büro "Arhis". Derselbe Kronbergs sitzt auch dem Beirat vor, der über den Schutz der historischen Altstadt wachen soll und sämtlichen Bauprojekten seinen Segen geben muss. An der entscheidenden Sitzung des Beirats im August, als die Pläne vorgelegt wurden, nahm Kronbergs teil - enthielt sich aber der Stimme.

Jānis Krastiņš, einer der bekanntesten Architekten Rigas und Autor mehrerer Bücher über die Architekturgeschichte der Hauptstadt weist darauf hin, dass an dieser Stelle die Stadt noch immer Kriegswunden aufweise. "Vor dem Krieg war die Grēcinieku iela doch ebenfalls an beiden Seiten bebaut, bis runter zum Daugava-Ufer. Das sollte auch wiederhergestellt werden," meint er.
Skizzen und Entwürfe zur Bauplanung an der
Grēcinieku ielā 25 (Abb.: Büro ARHIS)
Loskutovs dagegen, inzwischen für die Partei "Vienotiba" Parlamentsabgeordneter und daher in Opposition zur „Saskaņa“ des regierenden Bürgermeisters Ušakovs, hofft auf engagierte Bürgerinnen und Bürger. Für den Fall, dass sich die Stadt Riga entgegen der öffentlichen Meinung doch für die momentan vorliegenden Entwürfe entscheiden sollte, hofft er auf entsprechende Reaktionen bei den nächsten Kommunalwahlen.

Seit 1997 die historische Altstadt Rigas in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde, wurden auch besondere Schutzvorschriften erlassen (seit 2003 rechtskräftig). Der Druck, aus ökonomischen Gründen alte Gebäude abzureißen und lieber neue zu bauen ist groß. Die seit 2006 vorliegende Detailplanung für die Innenstadt sieht zum Beispiel vor, den Livenplatz, Domplatz und Schützenplatz (Strēnieku laukums, rund um das Denkmal der "Roten Schützen") unbebaut zu belassen.

Am 20.Oktober endete die Einspruchsfrist zu den Bauplänen. Vor allem zum Projekt Grēcinieku ielā 25 gibt es Einwände: zu groß, zu massiv, zu hässlich. Angeblich sind die Bauherren zu Änderungen bereit. Eines ist bereits sicher: die zukünftigen Betreiber werden den Weg zu ihren Objekten mit ziemlicher Sicherheit über die Grēcinieku iela nehmen müssen: Deutsch bedeutet die Bezeichnung "Straße der Sünder".


24. Oktober 2014

Einsam in Strassburg

Eigenwillig, beharrlich, oder orientierungslos? Sonderwege lettischer Europapolitik

Selten erregen lettische Europaabgeordnete international großes Aufsehen. Längst haben sich die EU-Parlamentarierkolleg/innen an eine Zweiteilung gewöhnt: auf der einen Seite die große Mehrheit der lettischen Abgeordneten, die sich den neoliberalen Richtlinien von Wirtschaftswachstum, Sparkurs und Förderung des freien Marktes verpflichtet sehen - mehr oder weniger. Sie haben sich zu Fans der deutschen Kanzlerin Merkel und ihres Ex-Regierungschefs und jetzigen EU-Kommissars Valdis Dombrovskis entwickelt.

Angesichts der Allgegenwärtigkeit
der Grigule-Werbung schreiben lettische
Medien (hier ein Foto der DIENA)
auch schon mal von der
"Grigulisierung Lettlands"
Auf der anderen Seite steht Tatjana Zdanoka, im Sowjetsystem als treue Funktionärin gestartet und aus ihrer eigenen Sicht dort von den Kräften des Großkapitals brutal herausgerissen; ihr blieb eine Karriere im neuen demokratischen Lettland versagt, daher hat sie ein anderes Erfolgsrezept entwickelt: wer immer gegen Lettland protestieren möchte - am besten im Namen von angeblich benachteiligten Russen - der oder dem bietet Zdanoka in sofern ein Forum, dass sie gerne auch in Brüssel öffentlichkeitswirksame Auftritte veranstaltet. Zuletzt war sie auch in Russland und in der Ost-Ukraine zugunsten von Putin-freundlichen Gruppen aktiv. Was in der lettischen Öffentlichkeit davon ankommt sind vor allem zwei Dinge: einerseits, dass die gesamte Politik der Fraktion der Grünen im Europaparlament, zu der Zdanoka gehört, ("Grüne + Europäische Freie Allianz"), in Lettland mehr oder weniger diskreditiert ist dadurch, dass Zdaonka dort offenbar toleriert wird. Zweitens gilt eine Zusammenarbeit mit Zdanoka bzw. ihrer Fraktion als ausgeschlossen.
Vor diesem Hintergrund fiel bis 2014 nicht mal mehr auf, dass mit Alfreds Rubiks ein weiterer, "heimatlos" gewordener Ex-Sowjetfunktionär im EU-Parlament saß - aber offenbar mit dem behaglichen Dasein eines aus lettischer Sicht gut bezahlten Abgeordneten bereits zufrieden schien und (politisch) kein weiteres Aufsehen erregte.

Mitte Oktober setzte die lettische EU-Abgeordnete Iveta Grigule, bei den Europawahlen im Mai 2014 gewählt auf der Liste der lettischen Bauernpartei LZS und den Grünen (LZP), in der internationalen Presse Duftmarken. Sie erklärte ihren Austritt aus der Fraktion der EFDD (Europe for Direct Democracy), die Fraktion der EU-Gegner um den britischen Rechtspopulisten Nigel Farage (UKIP) und Beppe Grillos "5-Sterne-Bewegung". Dadurch verloren zwei ambitionierte und ehrgeizige EU-Skeptiker Macht und Einfluß - während Grigule freimütig der internationelen Presse erklärte, sie habe die habe Illusionen gehabt, was sie in dieser Fraktion erreichen könne.

Unberechenbarkeit als Charaktermerkmal?

Alle Jahre wieder fällt Iveta Grigule in Lettland mit
allein auf ihre Person zugeschnittenen Image-
kampagnen auf. Gemeinsamkeiten: teuer, offenbar
zumindest teilweise verdeckt finanziert, aber
karriereförderlich
Bevor nun der Trugschluß entsteht, Grigule sei einfach eine mutige, freiheitsliebende und unabhängige Frau (was ihre Anhänger allerdings genau so sehen werden!), hier einiges zu ihrer politischen Vorgeschichte.
Über die Tätigkeiten von Iveta Grigule, geb.1964, vor 1990 ist öffentlich wenig bekannt. Bis 1983 besuchte sie in Riga eine Mittelschule. Für 1998 gibt sie den Abschluß eines Bachelor (Bakalaureus)-Progamms an der Lettischen Kulturakademie an, was dem Abschluß eines der vierjährigen Studienprogramme gleichkommt. Kurzzeitig war sie dann an der Lettischen Universität am "Institut für internationale Studien" der Lettischen Universität eingeschrieben. Seit 2012 studiert Grigule nach Angaben lettischer Quellen nun erneut: Diplomatie. Die Lettische Universität hat dieses als zweijähriges Magister-Studienprogramm neu aufgelegt. "Dieses Studium bedeutet einer Karriere einen Schritt näher zu sein, den eigenen Staat, die Gemeinde oder eigene Unternehmerinteressen international zu vertreten" - so die Werbung der Universität. Da behaupte noch jemand, in Lettland gäbe es keine praxisbegleitenden Studiengänge!

Politisch tauchte Iveta Grigule erstmals 2001 auf, als Kandidatin auf der Liste der "Neuen Christlichen Partei" (Jaunā Kristīgā partija JKP), gegründet "Zwischenphase" von "Bulldozer" und Polit-Unternehmer Ainārs Šlesers (zur Zeit bei "Vienoti Latvijai" aktiv) in der lettischen Politik ein Wörtchen mitzureden. Die JKP ging bereits 2002, ebenso wie ihr Vorläufer "Jaunā partija", in der "Latvijas Pirmā Partija" LPP (Lettlands Erste Partei) auf, die dann einige Jahre durch sehr unternehmerfreundlicher, dabei aber stramm christkonservativer Aktivitäten auffiel.
2006 wurde die JKP offiziell für aufgelöst erklärt, Grigule schloss sich 2005 der lettischen "Grünen Partei" an. Zu Ex-Parteifreund Šlesers unterhält sie gewissermaßen noch eine "Fernbeziehung", indem sie ihn zum Beispiel 2011 vor einer Durchsuchung der Anti-Korrutionsbehörde rettete (siehe unten).

Eigensinn als Arbeitsnachweis?
Schnell wurden Grigule Ambitionen nachgesagt, zu einer der gleichberechtigten Vorsitzenden der Grünen Partei werden zu wollen. 2011 wurde sie dann aber aus der Partei ausgeschlossen, blieb aber als vorübergehend Parteilose im Parlament. Gründe: die eigenwillige Grüne hielt sich selten an das, was der Parteivorstand mehrheitlich entschied - teilweise gab sie schon vor den Vorstandstreffen öffentlich bekannt, was der Vorstand dann angeblich beschließen würde. Auch wurde ihr vorgeworfen, unabgestimmt viel Geld für Wahlkampagnen ausgegeben zu haben, was sogar eine Geldstrafe vom lettischen Antikorruptionsbüro KNAB zur Folge hatte (Korupcijas novēršanas un apkarošanas birojs). Bei der KNAB wird nicht nur eine namentliche und öffentlich einsehbare Liste aller Parteispender geführt, sondern auch darüber gewacht dass die Parteien die für die Wahlkämpfe festgelegte finanzielle Obergrenze einhalten. Als die KNAB die Wohnung des bereits erwähnten Ainārs Šlesers wegen Korruptionsverdacht durchsuchen wollte und dazu die Zustimmung der Parlamentsmehrheit brauchte, stimmte Grigule - entgegen dem Willen des Parteivorstands - dagegen (siehe auch DELNA). Diese Verweigerung der Unterstützung für die Anti-Korrutionsbehörde bewegte dann den damaligen Präsident Valdis Zatlers, das Parlament zu entlassen und Neuwahlen einzuleiten. Nur eine Woche später erhielt Zatlers bei den Präsidentschaftswahlen nur 41 von 100 Stimmen - 53 erhielt sein Konkurrent Andris Bērziņš, unter anderem auch die Stimme von Iveta Grigule.

Was hier von der offiziellen Euro-Propaganda-Seite
so "freudig" verkündet wird, das fiel den meisten
Lettinnen und Letten sichtbar schwer: der Abschied
von der geliebten eigenen Währund "LATs"
Grigule verließ also die Grünen, nahm bis 2013 ihr Abgeordnetenmandat als Parteilose wahr. 

Zuletzt entwickelte sich Grigule als aktive Gegnerin der Einführung des Euro in Lettland. Noch im Februar 2013 lehnte die Grüne Partei die Unterstützung einer Initiative zur Durchführung einer Volksabstimmung ab, mit der Grigule die Einführung des Euros verhindern wollte. Grigule suchte sich andere Partner - wie zum Beispiel Rechtsradikale wie Jānis Sils, der mit der Losung auftritt, jeder Lette müsse sich selbst verteidigen, auch mit Waffen. "Wenn 10% für die Einführung des Euro sind, dann bin ich auf der Seite der 90%!" (siehe "IR") glaubte sich Grigule wieder einmal auf dem richtigen Weg. Aber zur Volksabstimmung kam es dennoch nicht. Heute sagt Grigule dazu: "Ja, ich denke immer noch, eine Volksabstimmung über die Euro-Einführung wäre richtig gewesen. Aber ich bin auch eine realistisch denkende Euro-Skeptikerin. Ich bin gegen einen Austritt aus der EU, und werde auch weder mit Kommunisten noch mit Le Pen zusammenarbeiten." (Zitat ZZS)

Starke Spender = starke Frauen?
Im Wahlkampf zum Europaparlament 2014 gab Grigule zu, nur für die eigene Kandidatur gesondert 50.000 Euro ausgegeben zu haben, davon 20.000 Euro für eine eigene Zeitung zur Vorstellung ihrer Person. Seit Grigule 2013 in die lettische Bauernpartei eintrat, wurden auch ihre "Sponsoren" öffentlich, denn das Spendengeld musste nun wegen der lettischen Anti-Korruptionsgesetzgebung Teil einer sauberen Buchführung werden (privat hat sie bisher in der eigenen Steuererklärung nie angegeben, Spenden erhalten zu haben - siehe pietiek.com). Einer der Spender ist nachweislich der Bauunternehmer Valdis Kalnozols, ein Freund aus Jugendtagen (dessen Firma "Kalnozols und Partner" kurzzeitig sogar eine Niederlassung in Bremen unterhielt, ein Geschäftspartner der Klaus-Hübotter-GmbH). Pikant auch, dass Kalnozols von 2010 bis 2012 Vorstandsmitglied der Grünen Partei war und nicht wieder kandidierte nachdem Grigule ausgeschlossen war. Unternehmer mit politischen Ambitionen, und Politiker mit Unternehmerinteressen - ein häufiges "Erfolgs"-Modell in Lettland. 2014 kandidierte "Spender" Kalnozols wieder auf der Liste der GrünenBauernpartei für einen Sitz im lettischen Parlament und scheiterte nur knapp.

Andere Spender weisen auf gute Verbindungen Grigules zu Geschäftsleuten aus Jūrmala hin, dessen Stadtrat auch schon mal mit "Jūrmalgeita" bekannt wurde (Jūrmala-Gate, benannt nach "Watergate"), ein durch aufgezeichnete Telefongespräche bekannt gewordener Korruptionsskandal (auch hier war wieder Šlesers aktiv beteiligt). Einige Jahre arbeitete  Grigule auch in der Stadtverwaltung von Jūrmala, kandidierte auf der Liste der "Grünen" für den Stadtrat, zudem ist ihr Ex-Mann Romāns Mežeckis stellvertretender Bürgermeister des Badeorts (siehe TV3).
Und dann ist da noch der Unternehmer Aleksejs Opolčenovs, ebenfalls ein Grigule-Spender, bekannt als Eigentümer einer Elektro-Installationsfirma in der Hafenstadt Ventspils, wo ZZS-Großsponsor Aivars Lembergs das Regiment führt. Da wundert es kaum, dass Opolčenovs häufig städtische Aufträge zugesprochen bekommt, wie in der lettischen Presse nachzulesen ist (TVNet). Das Problem bei Opolčenovs' Spende war aber, dass er zuvor die lettische Staatsbürgerschaft zugunsten der russischen aufgegeben hatte - Spenden von Ausländern verbietet aber das lettische Parteiengesetz. Opolčenovs wurde sein Spendengeld angeblich zurückgezahlt. Dzintars Salmiņš, ein weiterer Elektrounternehmer und häufiger Partner der Stadt Ventspils, wurde ebenfalls als Spender offenbart - angeblich ohne entsprechend eindeutige Anweisungen vom eigenen Stadtoberhaupt.

Dass die Grigule-Finanzierung über die Lembergs-Partei so erfolgreich war, veranlasste lettische Journalisten schon zu Fragen an Grigule, wie sie denn vor dem Eintritt in die ZZS (Zaļo un Zemnieku savienība) ihre Ausgaben decken konnte. "Mal ging es über die eine, mal über die andere Partei." Gefragt, ob sie denn selbst zum Fernsehen gegangen sei, um die Kosten für Werbespots in bar zu bezahlen, wollte Grigule dann doch lieber nicht im Detail beantworten. Etwa 150.000 Euro soll ihre gesamte Kampagne gekostet haben, um einen Platz im Europaparlament zu erstreiten. Auch um die Herkunft dieses Geldes ist inzwischen in Lettland eine heftige Debatte entbrannt (siehe LETA, TVNet). Der Journalistin Inga Spriņģe, die Grigule ebenfalls nach der Finanzierung gefragt hatte, antwortete Grigule schlicht: "Inga, heute morgen noch hast Du mir auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschicht. Das bedeutet doch, wir sind Freundinnen?"

Nachwahl-Wehen auch bei den grünen Bauern
So bringt der Fall Grigule momentan auch Unruhe in die frisch gewählte Fraktion der GrünenBauern (ZZS), und birgt sogar Sprengstoff zwischen den beiden seit 2002 in gemeinsamer Wahlliste verbundenen Parteien. "Ich kenne Iveta als energische, aktive Kollegin," äussert sich Fraktionschef Augusts Brigmanis, der seine politische Karriere schon als Sekretär der Kommunistischen Partei begann. "Manche fürchten sich eben vor starken Persönlichkeiten. Deshalb ist die Bauernpartei für Iveta Grigule genau der richtige Ort." 

Übrigens: der aufsehenerregende Schritt zum Verlassen der EFDD-Fraktion führte letztendlich doch nicht zu ihrer Auflösung. Am 20.Oktober schloss sich Robert Jarosław Iwaszkiewicz der EFDD an. Ein Mann, der "den Holocaust anzweifelt, ebenso das Frauenwahlrecht und schon Geldstrafen wegen rassistischer Äußerungen hinnehmen musste", soviel weiß auch die lettische Presse über ihn. Weiterhin keine Bedenken über solche Fraktionskollegen haben übrigens Rolandas Paksas und Valentinas Mazuronis von der litauischen "Partija Tvarka ir teisingumas" (Partei für Ordnung und Gerechtigkeit).

Fraktionen und Pöstchenvergabe
Nun wird Iveta Grigule nicht müde gegenüber der lettischen Presse zu betonen, wie wichtig der Anschluß an eine Fraktion sei, um im EU-Parlament wirklich etwas erreichen zu können. "Einsam in Strassburg" - fern von der erträumten Mehrheit des lettischen Elektorats - vielleicht vergeht die Sucht, gebraucht zu werden doch schneller als gedacht.
Sandra Kalniete, Parlamentskollegin der Reaktion der "Europäischen Volkspartei" (EVP), äusserte sich gegenüber der Tageszeitung "Neatkariga" sehr skeptisch zu Aussichten Grigules, nun dort (wo auch die deutsche CDU Mitglied ist) aufgenommen werden zu können. "Sie hat auch ihre eigene Partei kompromittiert, und die hat ihr dann wohl auch dringend geraten, die EFDD zu verlassen," meint Kalniete zum Aufsehen erregenden Verhalten ihrer Kollegin. "Aber nach ihrem Ausflug zu solchen anti-europäischen, teilweise rassistischen und pro-putinschen Gruppierungen glaube ich kaum, dass sie Chancen hat in die EVP aufgenommen zu werden."

Mit Iveta Grigule kann man auch zu tun bekommen ohne eigenen Willen. 2014 landeten Hunderte von Neujahrsglückwunschkarten in den Postkästen von zumeist älterer Menschen in Lettland. Absender: Iveta Grigule. In diesem Fall war vor allem verwunderlich, woher die Absenderin die Adressen hatte. "Alles auf Empfehlung von Parteifreunden in Jūrmala", behauptete die rührige Politikerin (siehe DELNA). Nun ja, ihr Wahlkampfslogan "der Mensch zuerst" hat sich finanziell, karrieremäßig und was das Aufsehen in der Öffentlichkeit angeht zumindest ja für EINEN Menschen gelohnt: für sie selbst.
Für die Liste der lettischen Grünen+Bauernpartei ist es der erste errungene Sitz im Europaparlament überhaupt. Seit der Neukonstitutionierung des EU-Parlaments verlagerten sich politische Ambitionen erstmal auf die Besetzung von Ausschuss-Vorsitzenden. UKIP-Chef Nigel Farage hatte ja Parlamentspräsident Martin Schulz auch schon unterstellt, der lettischen Abgeordneten Grigule den Fraktionsaustritt bei den Euro-Skeptikern nahegelegt zu haben, und mit diesem Schritt die Zusagen eines Ausschuss-Vorsitzes verbunden ("I had to do it to get elected" behauptet UKIP). Ein englischer Blogger schrieb sogar: "Eine Schlange im Gras. Gib einer Frau den Vorsitz von irgendwas, und sie wird nicht nein sagen können." (“No woman can resist being promoted to head of something” - ein Satz der wiederum Gegenstand von Diskussionen wurde).
Grigule ist nun inzwischen tatsächlich Vorsitzende des Ausschusses "Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Mongolei" und trifft dort auf aus baltischer Sicht interessante Kollegen und Kolleginnen: einer der Stellvertreter ist mit Gabrielius Landsbergis ein konservativer Litauer, der auf den Spuren seines Großvaters Vytautas Landsbergis wandelt. Die andere Stellvertreterin ist Tatjana Ždanoka. Selbst Iveta Grigule schließt es aus, mit Ždanoka zusammenzuarbeiten, und redet gegenüber der lettischen Presse gern von "sieben lettischen EU-Abgeordneten". Vielleicht hat sich der Parlamentspräsident angesichts dieser Positionierung auch eher gedacht: "Sollen sie sich doch schlagen, diese Balten! - Wenn nötig in der Mongolei!"

"In den vergangenen Jahren bestand in Lettland die Tendenz, verdienten Politikern einen mehrjährigen gut bezahlten Urlaub in Brüssel zu gönnen", so Grigule über ihre bisherigen EU-Parlamentarierkolleg/innen aus dem Heimatland (in: Latvijas Avize 12.6.2014). Wie üblich, wer im Glashaus sitzt ... - momentan wirkt es ebenfalls wie eine Auszeit im richtigen Moment. Aber es ist wohl ähnlich wie 2011 nach ihrem Rausschmiss bei den lettischen Grünen, als viele sagen: von Iveta Grigule wird man noch hören! 

16. Oktober 2014

Frau Straujuma, übernehmen Sie!

Bei der Regierungsbildung in Lettland gibt es, wenig überraschend, Schwierigkeiten. Bereits am 5.Oktober, dem Tag nach der Wahl, meldeten allerdings die meisten deutschsprachigen Medien ein "weiter so" für das "Regierungsbündnis Straujuma" (Tagesschau), bzw. für "das Mitte-Rechts-Bündnis" (Deutschlandfunk, Neues Deutschland, Reuters), Die Konrad-Adenauer-Stiftung diagnostiziert sogar schon "Regierungsbildung weniger kompliziert als zuvor".

So sieht es der Karikaturist der
Zeitung "Diena": das von Regierungs-
chefin Straujuma mühsam
konstruierte Gebäude der
Postenverteilung könnte wieder
ins Wanken kommen
Ach ja, einen zweiten Aspekt einer Kurzdiognose gab es: der Russen-Faktor, verbunden mit der Ausrufung der "Saskaņa" mit ihren 23% als "Wahlsieger" (TAZ), plus selbstgestrickter Legende, von den offenbar starrköpfigen anderen lettischen Parteien die aus mysteriösen Gründen mit dieser "sozialdemokratischen, pro-russischen" Partei nicht zusammenarbeiten wollen. Ähnliches berichten so nur noch die russischen Staatsmedien (siehe "Novosti"). Wer "Saskaņa" nicht unbedingt zum "Sieger" erklären will, nutzt das Russen-Thema anders herum: "Angst vor Russland nutzt Regierung" (Tagesspiegel), "Russland-Frage überschattet Lettland-Wahl" (Deutsche Welle), "Russland-Schreck" (Neue Züricher) oder "Angst vor russischer Aggression" (Kurier). Berichte über Russen in Lettland waren wohl die "Leitwährung" der Berichterstattung in den deutschen Medien diesmal.

Posten und Ämter
Aber ist es denn schon vorbei? Der vorgesehen "Tag der Verkündigung" jedenfalls - eigentlich war dafür der vergangene Dienstag dieser Woche ausgerufen worden - wurde vorerst verschoben. Grund: die drei Möchtegern-Regierungsparteien können sich nicht auf die Verteilung der Ministerämter einigen. Was ist daran so kompliziert?

Es scheint sich also niemand zu scheuen, öffentlich Postengeschacher vorzuführen. Der in Deutschland so gern gebrauchte Satz in ähnlichen Situationen "erst reden wir über Inhalte, dann über Personen" gilt hier offensichtlich nicht.
Ich versuche einige andere Faktoren nachzuzeichnen.

Punkt 1 - der "falsche Hase"
Um überhaupt erstmal festzustellen, wer als Abgeordnete/r tatsächlich gewählt ist, muss die lettische Wahlkommission diesmal genau nachzählen. Durch die Möglichkeit jedes Wahlberechtigten, nach Belieben auf der Kandidatenliste der bevorzugten Partei Namen zu streichen oder hochzuwerten, ist eh schon viel Zeit nötig. Nun sind aber Vorwürfe des "Stimmenkaufs" aufgetaucht, und das hatte schon eine Konsequenz: Dzintars Zaķis (Zaķis = Hase), bisher Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei "Vienotiba", ist bereits von diesem Posten zurückgetreten. In seinem Wahlbezirk gibt es zumindest sehr auffällige krasse Anstiege von Wählerstimmen, bis zu 10mal mehr als bisher. Das verwundert besonders dort, wo keiner sich mehr erinnern kann diesen Kandidaten überhaupt im Wahlkampf vor Ort gesehen zu haben. Inzwischen sind bereits sechs verschiedene staatsanwaltliche Untersuchungen wegen ähnlichen Vorwürfen eingeleitet worden, dazu kommen Beschwerden und Forderung einer Nachzählung in insgesamt acht Wahlbezirken in Riga, wo die GrüneBauernpartei sich ungerecht behandelt fühlt (Pressemeldung cvk).

Punkt 2 - unklare Rochaden
Die bisher einflussreichste Politikerin der "Vienotiba", Solvita Āboltiņa, wegen ihrer rot gefärbten Haare gelegentlich auch "rote Kardinalin" (oder auch "eiserne Kardinalin") genannt, fiel wegen zu großer Anzahl negativer Bewertung auf den Wahlzetteln in ihrem Wahlbezirk durch. Nun kann sich aber niemand vorstellen - offenbar auch ihre Gegner nicht - dass die bisherige Parlamentpräsidentin Āboltiņa einfach so "am Wegesrand liegen gelassen" wird. Zwei mögliche Auswege gibt es, die beide aber erst geklärt werden müssen: entweder einer der vor ihr auf der Liste Gewählten wird Minister, oder Ints Dālderis, von den Wählern statt Āboltiņa "nach vorn gewählt", könnte ins Büro des zukünftigen EU-Kommissars Dombrovskis wechseln. In beiden Fällen würde die ehrgeizige Āboltiņa, von der es heißt sie würde auch gern als zukünftige Präsidentin kandidieren, nachrücken und vielleicht auch Parlamentspräsidentin bleiben können.
Aber mit der Schwächung der "starken Figuren" in der Regierungspartei, der schon mit dem freiwilligen Abgang Dombrovskis eingeleitet wurde, ist der zunehmende innerparteiliche Konkurrenzkampf nicht zu übersehen. Ilze Viņķele, ein Mitglied des Parteivorstands, musste bereits ihre Absichten den Parteivorsitz von Āboltiņa übernehmen zu wollen, dementieren. Ihr "zur Zeit nicht" klingt aber sehr nach "Abwarten auf einen besseren Moment".

Punkt 3 - entweder der Mann mit dem Hut, oder die Leute mit dem Hakenkreuz
Ein wichtiger und gravierender Unterschied zur Regierungsbildung nach den Wahlen 2011 ist jetzt ja, dass damals ausdrücklich eine Regierung "ohne die Oligarchen" gebildet wurde. Erst der Niedergang von Zatlers Reformpartei und der Abgang Dombrovskis machte es notwendig, die "GrüneBauernliste" wieder dazuzunehmen - hinter der Aivars Lembergs als "Großsponsor" steht, bekannt durch sein selbst konstruiertes riesiges Geflecht vieler undurchsichtiger Finanzgeschäfte. Dazu dann Laimdota Straujuma, die lange Jahre Mitglied der "Tautas Partija" war, hinter der mit Andris Šķēle ein weiterer der "Oligarchen" stand. Erst rückte Straujuma parteilos (da sich die "Tautas Partija" aufgelöst hatte) ins Ministeramt, dann aus der dritten Reihe an die Stelle Dombrovskis. Nun also ihre erste, eigene Regierungsbildung: mit einer wesentlich wiedererstarkten "Grüne-Bauernliste" an der einen Seite und mit ebenfalls starken Nationalisten an der anderen. Das sind grundlegende andere Voraussetzungen als 2011, als "Vienotiba" die Leitsätze der Politik vorgeben konnte. Straujuma versucht nun von der auch internationalen Reputation der "Vienotiba" zu retten was zu retten ist: wenigstens sollen auch in Zukunft keiner der zukünftigen Minister an den jährlichen Aufmärschen zum "Gedenken" an die Bildung der lettischen SS-Einheiten am 16.März teilnehmen dürfen (der Grund zum Rücktritt eines Ministers der nationalen Liste im März 2014, gerade frisch ernannt).

Punkt 4 - neue Koalitionsmöglichkeiten
Nein, nicht die "Saskaņa" mit ihrem ambitionierten "Spitzenkandidat" Ušakovs ist hier gemeint - die müssen weiter vom selbstgebauten Wunsch-Image leben, die Partei sei gleichzusetzen mit "benachteiligten Russen" und daher "automatisch" ausgegrenzt (Mitleidseffekt im Ausland, mindestens). Aber sowohl die ehemalige Chefin des lettischen Rechnungshofs, Inguna Sudraba ("no sirds Latvijai" - "Von Herzen für Lettland"), wie auch der ehemalige Büroleiter von Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, Ex-Basketballer Mārtiņš Bondars ("Latvijas Reģionu apvienība" - "Verband der Regionen Lettlands"), beide könnten von ihrem politischen Programm her auch Regierungspartner sein. Würde aber auch nur eine der Parteien hinzugeholt könnte die Gefahr bestehen dass die schon angedeuteten Gegensätze innerhalb der Straujuma-Partei "Vienotiba", die ja selbst auch erst aus dem Zusammenschluß verschiedenen kleinen Parteien entstanden ist, sich verstärken könnten. Wäre Sudraba die Partnerin, könnte die Überlegung entstehen: "Brauchen wir denn die Nationalisten wirklich noch, denen offenbar die SS-Gedenkfeiern wichtiger als die Regierungsarbeit sind?"
Fiele die Wahl dagegen zugunsten der Regionalpartei LRA, dann stünde sie erstens in Konkurrenz zur GrünenBauernliste, die ihre Stärke ebenfalls eher in den Regionen hat und vorgibt, vor allem für die Menschen auf dem Lande Politik zu machen. Und zweitens entsteht dann angesichts der Tatsache, dass Parteichef Bondars früher auch mal Mitglied bei der "Tevzemei" (Vaterlandspartei) war die Frage, ob sich diese beiden Parteien dann vielleicht zu einer gemeinsamen Liste entwickeln und Gegner einer zu starken Übertreibung des nationalistischen Ansatzes es dann noch schwerer hätten.

Die "lieben Kollegen"
So betonen dann lieber alle drei bisherigen Koalitionspartner, wie "gern" sie doch alle zusammenarbeiten. Das würde aber nur dann "wie gewohnt" funktionieren, wenn alle ihre jeweiligen Ministerämter behalten können - ein Verfahren, was durch den Wegfall der ehemaligen Vertreter der nahezu untergegangenen "Reformpartei" nicht möglich ist. So will zum Beispiel das Gesundheitsministerium angesichts der vielen bevorstehenden schwierigen Fragen offenbar niemand besetzen, während die "GrünenBauern" gern den "Nationalen" das Umwelt- und Regionalministerium wieder entreissen würden.

Aber auch die drei für die Oppositionsrolle vorgesehenen Parteien reden miteinander, und verkünden dann - wohl um den Druck auf die laufenden Verhandlungen zu erhöhen - ihre Gesprächsergebnisse laut und gern der Presse.
Die Regionale Allianz (LRA) hat sich angeblich sogar mit der oppositionellen "Saskaņa" in drei Punkten auf eine Zusammenarbeit geeinigt: beide Parteien sind dafür, künftig den Präsidenten vom Volk wählen zu lassen, sie stimmen überein einen größeren Anteil der Steuereinnahmen den Gemeinden zufließen zu lassen, und darin, zum Supermarkteinsturz von Zolitūde einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen.
Auch Inguna Sudraba, Parteichefin der zweiten Neulingspartei im Parlament, hat sich schon mit der oppositionellen "Saskaņa" an einen Tisch gesetzt, nachdem Versuche mit den drei Regierungsparteien in ersthafte Gespräche zu kommen, offenbar scheiterten. Hier wird zum Beispiel der Vorschlag als Gemeinsamkeit benannt, eine Senkung von Steuern auf gesundheitsfördernde Lebensmittel vornehmen zu wollen.

Sarkastische Sicht auf die bisherige Parlaments-
präsidentin, auf der Grundlage mehrerer Vorfälle mit
zu hoher Geschwindigkeit ihres Dienstwagens.
Bildunterschrift: "Zur Seite, ihr Mistkäfer,
wenn die Dame fährt! Und vergesst nicht mich
zu wählen!"
Derweil schmort Frau Āboltiņa im "Abseits" des Nicht-Gewähltseins und bemüht sich den vielen interessierten Fotografen ein möglichst fröhliches Gesicht zu zeigen.
"Mein Gewissen ist rein, aber gegen mich und gegen Vienotiba wurde eine riesige Schmutzkampagne inszeniert!" so offenbart sie in einem Interview bei der "Neatkariga" typische Politiker-Reflexe. Lato Lapsa, ein Journalist, bekannt dafür bald schon alle bekannten und erfolgreichen lettischen Politiker einzeln journalistisch aufs Korn genommen zu haben, hatte vor der Wahl eine "Sonderausgabe" einer selbst produzierten Zeitung mit dem Thema "Āboltiņa" aufgemacht.
Zur Kritik an angeblich häufigen Dienstreisen äussert sie (Auslandsreisen von Politikern gelten in der lettischen Öffentlichkeit häufig als vorgeschobener Grund, statt Arbeit zu Hause lieber eine schöne Zeit fern den lettischen Wählern zu verbringen): "Teilnahme an Konferenzen ist eine schwere Arbeit, das wissen alle die sich damit beschäftigen." (NRA)
Lato Lapsa will 25.000 Euro von einem "Straujuma-Block" innerhalb Vienotiba bekommen haben für eine Āboltiņa-kritische Wahlkampfzeitung. Bisher hat die Partei den Journalisten noch nicht verklagt. Am 6.Dezember ist "Vienotiba"-Parteikongress, bis dahin werden Entscheidungen fallen müssen.

Tendenzen, Zahlen, Trends
Eine andere Tendenz ist klar erkennbar: ins neue Parlament werden wesentlich weniger Frauen einziehen als bisher.
Andere Beoachter betonen, dass noch nie eine so hohe Prozentzahl der Wahlberechtigten auch eine Vertretung im Parlament bekommen habe: nur weniger als 5% haben ihre Stimmen Parteien gegeben, die nicht im Parlament vertreten sein werden (das waren auch schon mal 16%!).
Eine andere Rekordzahl:  23.116 Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen in einer Botschaft oder einem Konsulat im Ausland abgegeben - 2011 waren es noch 14.210, allerdings beim Referendum als es um Russisch als mögliche zweite Amtssprache ging waren es auch schon mal 40.000. In Deutschland stimmten 1680 Lettinnen und Letten ab (das war nach Großbritannien mit 7205 in Europa die meisten, in USA 2231).
Die Wahlauszählung in München wurde offenbar um Stunden verzögert, da hier kein Internet-Zugang verfügbar gewesen sei und die Ergebnisse auf anderem Wege übermittelt werden mussten (Bayern = Entwicklungsland?).

Für alle wählbar sein wollen - oder "allein in der Hundehütte"?
Und noch ein Wort auch zur "harmonischen" Saskaņa: die Gesamtzahl der Wahlberechtigten, die ihr die Stimme gaben, sank um nicht weniger als ein Fünftel - auch wenn knapp noch die meisten Mandate aller Parteien dabei herauskamen. Der Rückgang belief sich auf alle Bezirke: in Latgale um -31%, Riga -5%, zwei ihrer bisherigen "Hochburgen". Laut Untersuchungen der Agentur "Latvijas Fakti" sollen die Stimmen pro Saskana diesmal zu 20% von Lettinnen und Letten gekommen sein, beim vorigen mal seien es nur 10% gewesen. Ethnische Russen, befragt danach, welche Partei ihrer Meinung nach am ehesten die Interessen der Russischsprachigen berücksichtigt, antworten zu 2-3% "die Nationale Liste", 5-9% "Vienotiba", 10% äußern sich zugunsten der GrüneBauernListe.
Fällt in Lettland offenbar (noch)
nicht unter ein Gesetz
der (strafbaren) Verunglimpfung
von staatlichen Symbolen:
Logo der "Suņu būda"

Auch der "Faktor Internet" spielte im lettischen Wahlkampf eine Rolle. Artuss Kaimiņš, eigentlich Schauspieler, wurde durch seine schlicht bei Youtube im Internet eingespielten Sendungen mit dem Titel "Suņu būda" ("Hundehütte") bekannt und erreicht Zugriffszahlen bis zu 30.000 pro Sendung. Markenzeichen ist bisher, sich an möglichst wenig Regeln zu halten, Studiogäste eher zu kritisieren, offen zu "verarschen" oder gar durch heimliche Aufnahmen bloß zu stellen, und dies als Markenzeichen einer "offenen, ehrlichen und direkten Sprache" zu verkaufen, mit Hilfe von Sponsoren aus dem Bereich der Alkoholindustrie, die ja anderswo Einschränkungen der Werbemöglichkeiten hinnehmen müssen. Abzuwarten bleibt was nun passiert, wenn Kaimiņš zum Parlamentarier wird. Er kandidierte auf einem hinteren Rang der Regionalpartei LRA, und wurde mit der Rekordzahl von 71,9% der Wähler dieser Partei nach ganz vorn gespült (erzielt damit mehr "Pluszeichen" als 2011 Valdis Dombrovskis, den als Regierungschef damals 71,7% seiner Wähler besonders hervorhoben). So entstand bei der LRA die kuriose Situation, dass offenbar viele bis auf die beiden Namen "Bondars" und "Kaimiņš" auf der gewählten Liste alle anderen Namen strichen - also die übrigen NRA-Abgeordneten von den eigenen Wählern mehr Minus- als Plus-Zeichen bekamen.

Für die nächsten Monate hat Regierungschefin Straujuma eines bereits klarzustellen versucht: sie möchte nicht während der lettischen EU-Ratspräsidentschaft (erste Jahreshäfte 2015) über Ministerrücktritte diskutieren müssen - wenigstens das. Regierungsbildung? Alles wie gewohnt, Frau Straujuma - also dann! 

5. Oktober 2014

Gewohntes mit zwei Neulingen

Ergebnis der Parlamentswahlen Lettland 2014 - 4.10.2014











1.    "Latvijas attīstībai" - 8155 - 0.89%
       ("Für die Entwicklung Lettlands" - Vorsitzender: Einars Repše)

2.    "SUVERENITĀTE" - 1033 - 0.11%
        ("Souveränität")

3.    "Brīvība. Brīvs no bailēm, naida un dusmām" - 1735 - 0.19% (Ergebnis 2011=0,375%), ("Freiheit. Frei von Ängsten, Hass und Wut")

4.    "VIENOTĪBA" - 199535 - 21.87% - 23 Sitze (Ergebnis 2011=18,829%, 20 Sitze), ("Einigkeit" - Vorsitzende Solvita Āboltiņa)

5.    "POLITISKĀ PARTIJA IZAUGSME" -     1515 - 0.17%
       ("Partei Wachstum" - Vorsitzender Andris Skride)

6.    "Vienoti Latvijai" - 10788 - 1.18%
       ("Einig für Lettland" - Vorsitzender Ainārs Šlesers)

7.    Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!"-"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK" - 151568 - 16.61% - 17 Sitze (Ergebnis 2011= 13,880%, 14 Sitze), (Nationale Vereinigung "Alles für Lettland! - "Für Vaterland und Freiheit/LNNK" - Vorsitzender Raivis Dzintars)

8.    Latvijas Reģionu Apvienība - 60812 - 6.66% - 8 Sitze
       ("Lettischer Verband der Regionen" - Vorsitzender Mārtiņš Bondars)

9.    Jaunā konservatīvā partija - 6389 - 0.7%
       ("Neue Konservative Partei" - Vorsitzender Jānis Bordāns)

10.  "Latvijas Krievu savienība" - 14390 - 1.58% (Ergebnis 2011=0,776%)
 ("Lettlands Union der Russen" - Vorsitzende Miroslavs Mitrofanovs, Jakovs Pliners, und Tatjana Ždanoka)

11.  "Saskaņa" sociāldemokrātiskā partija - 209885 - 23.0% - 24 Sitze (Ergebnis 2011=28,362%, 31 Sitze), (Sozialdemokratische Partei "Einklang" / "Harmonie", Vorsitzender Nils Ušakovs)

12.  Zaļo un Zemnieku savienība - 178212 - 19.53% - 21 Sitze (Ergebnis 2011=12,216%, 13 Sitze), ("Vereinigung der Grünen und Bauern" - Vorsitzender Uldis Augulis)

13.  No sirds Latvijai - 62521 - 6.85% - 7 Sitze
       ("Von Herzen für Lettland" - Vorsitzende Inguna Sudraba)

Zahlen gemäß dem vorläufigen amtlichen Endergebnis (vom 6.Oktober).
Wahlbeteiligung:  913.491 der landesweit 1.552.235 Wahlberechtigen nahmen teil, das sind 58.85% (2011 waren es 59,45%).

Damit würden folgende Parteien im Parlament vertreten sein: "Saskaņa", "VIENOTĪBA", Zaļo un Zemnieku savienība, Nacionālā apvienība VL/TB,  Latvijas Reģionu Apvienība, No sirds Latvijai (die beiden letztgenannten erstmalig).
Für die Sitzverteilung und die Entscheidung, wer einen Sitz errungen hat, müssen noch die "Plus und minus" ausgezählt werden - jede Wählerin und jeder Wähler kann auf der Liste seiner Wahl Kandidaten durch ein "plus" bevorzugen oder durch "minus" zurückstellen; erst danach errechnet sich die Rangfolge der Bewerber/innen.

Vorläufige Liste der ins Parlament gewählten Kandidatinnen und Kandidaten

1. Oktober 2014

Flüchtige Wähler

Jagd nach dem migrierenden Wähler: 99 Wahllokale
in 42 Staaten hat das lettische Außenministerium
einrichten lassen
Nicht immer hat ein Wahlkampf um lettische Parlamentssitze auch in Deutschland Aufmerksamkeit gefunden - eigentlich noch nie so wirklich. Gut, die Ergebnisse werden in schöner Regelmäßigkeit verkündet, vielleicht mit einem Beisatz ob der Regierungschef nun eher als konservativ oder als sozialdemokratisch einzustufen ist. Das lettische Parteiensystem hat nun mal seine Besonderheiten, und selten werden lettische Wahlkampfthemen ins Deutsche übersetzt.

Für den laufenden Wahlkampf (Parlamentswahlen am 4.Oktober) gelten einige Besonderheiten. Vor allem haben sie mit dem starken Engagement Russlands in der Ukraine zu tun, die vom Westen - analog zu der nun an die Macht gekommenen ukrainischen Regierung -  als Einmischung verstanden wird.

Strategien und Rochaden
Jedenfalls ist auf lettischer Seite ähnliche Nervosität zu spüren wie vor dem Referendum vom 18.Februar 2012, als es darum ging, mit möglichst eindrucksvoller Mehrheit für längere Zeit die Möglichkeit auszuschließen, dass Russisch wieder zur zweiten Amtssprache werden könnte. 79,2% Lettinnen und Letten, die eine Wahlurne im Ausland aufsuchten, sprachen sich dagegen aus. - Aus Sicht der Anhänger der gegenwärtigen Regierungsparteien war dies sicherlich einer der drei wichtigsten politischen Schritte der vergangenen Jahre. Es steht in einer Reihe zusammen mit der Zurückweisung der sogenannten "Oligarchenparteien" im Zusammenhang mit den von Ex-Präsident Zatlers veranlassten außerordentlichen Neuwahlen 2011, die für sämtliche der von Ainārs Šlesers, Aigārs Lembergs und Andris Šķēle unterstützten und finanzierten Parteien negativ ausgingen und eine Regierung ohne sie gebildet werden konnte. "Sparfuchs" und Europa-Vorbild Dombrovskis schien unbeirrbar Kurs zu halten - auch wenn davon immer noch wenige Lettinnen und Letten so profitieren, dass sie sich ein Auskommen erarbeiten können und sozial besser abgesichert wären. Dann kam der Supermarkt-Einsturz von Zolitude. Und ob diese Rochade - Dombrovskis nimmt seinen Hut, verabschiedet sich aber als EP-Abgeordneter nach Brüssel - Erfolg haben wird, ist äusserst unsicher. Zwar gelang es in ungewöhnlicher Weise, bei den Europawahlen gleich 46,19% der Wählerstimmen auf die Regierungspartei "Vienotiba" (Einigkeit) zu vereinen und vier der acht lettischen Sitze im Europaparlament zu sichern - aber bei einer Wahlbeteiligung von nur sehr knapp über 30% ist das alles andere als ein sanftes Ruhekissen, und auch kein Ruhmesblatt. So muss sich die "reinroutierte" neue Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma im laufenden Wahlkampf immer wieder fragen lassen, ob sie denn wirklich für den Posten der Ministerpräsidentin auch für eine neu zu bildende Regierung zur Verfügung stehen wird. Vieles, was an Themen im aktuellen Wahlkampf eine Rolle spielt, wird - wie in alten Zeiten der frisch errungenen Unabhängigkeit in den 90er Jahren - nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Strategie einer Einflußnahme Moskaus gesehen.

Grabenkämpfe
So sieht es zunächst also wiedermal nach einem Wahlkampf der "zwei Lager" aus. Auf der einen Seite die gegenwärtigen (größtenteils lettisch orientierten) Regierungsparteien - "Vienotiba" (Einigkeit), "Liste der Grünen und Bauern" und die Nationalisten. Auf der anderen Seite die "Saskana" (Einklang) mit "Frontmann" und Bürgermeister Nils Ušakovs, dazu als Konkurrent um die Stimmen der russophilen Russischsprachigen die "Krievu Savieniba" ("Russische Vereinigung") - zwar mit neuem, sachlich klingendem Namen ausgestattet, aber immer noch mit der aus glorrreichen Sowjetzeiten rübergeretteten "ewigen Tatjana" (Zdanoka) als Retterin der Krim und der lettischen Unterstützung für Groß-Russland. Gibt es denn wirklich (auf der einen Seite) keine lettischen Sozialdemokraten und (auf der anderen Seite) keine konservativen, demokratisch an einem freien Lettland orientierten Russen? Offenbar zu wenige, um sich im Parteiensystem entscheidend bemerkbar zu machen.

Sogar der Riga-Schriftzug an den Zufahrten zur Stadt
wurde zum Wahlkampfthema: das stadtwappen-farbige
Herzchen wurde als Versuch der Annährung an
Russland gewertet, gleichzeitig als Nichtachtung
des Künstlers der den Schriftzug geschaffen habe.
Manch eifriger Aktivist betätigte sich als nächtlicher
Umgestalter und färbte das Herzchen in
nationalfarben-rot ...
Neu ist die Nervosität der Regierungsparteien den anderen lettischorientierten Parteien gegenüber. Zahlreiche Appelle, auf lettischen Portalen wie international orientierten Netzwerken, wollen Lettinnen und Letten davon überzeugen, mit einer Tradtion bzw. einer Gewohnheit zu brechen: nicht mehr einen einzelnen vermeintlichen "Gutmenschen" zu wählen - ganz egal welcher Partei er oder sie angehört - sondern nun schlicht die Stimmenmehrheit der bisherigen Regierung zu sichern.
"Kleinstparteien diskreditieren ernsthafte Politik und verschärfen die Skepsis der Gesellschaft gegenüber der Politik als solche" (Māra Zālīte, Schriftstellerin, in einer Wahlkampfzeitung). Auch für Nichtwähler hat die einstige Führungsfigur der Unabhängigkeitsbewegung wenig übrig: "Die Unabhängigkeit haben wir mit unserem Schweiss und Blut erkämpft. Jetzt nicht wählen zu gehen, das ist wie ein Verbrechen gegen den eigenen Staat!"

Die einzige (der kleineren und neu gegründeten) Parteien, die gemäß den neuesten Umfragen den Sprung ins Parlament schaffen kann - Ex-Rechnungshofchefin Inguna Sudraba mit ihrer Partei "von Herzen für Lettland" (nun ja, prosaische Namen haben sie fast alle ...), wird dem entsprechend heftig angegriffen. Für die bisherigen Spitzenpolitiker ist sie unangenehm - aus einer für unbestechlich gehaltenen, unabhängigen, energischen Frau mit eigener Meinung wird so schnell eine politische Gegnerin, für die kein gestreutes Gerücht zu schade zu sein scheint, um ihr heimliche Kontakte nach Russland zu unterstellen. Dennoch liegt "die Silberne" (sudrabs = lett. silber) in Umfragen stabil über 5%.
Immerhin zeigen sich vier Tage vor den Wahlen immer noch etwa 15% in Umfragen als unentschlossen. Dazu gibt es Berichte, dass Befragte absichtlich nicht die Partei ihrer Wahl angeben, um sich nicht politisch festlegen zu müssen - das birgt große Chancen für einige Überraschungen am Wahltag.

Blick aus dem Westen
Wie erwähnt - gegenwärtig sind es erstaunlich viele Berichte deutschsprachiger Medien schon im Vorfeld der lettischen Parlamentswahlen. Fast alle nehmen dabei den Faktor der russischsprachigen Minderheit in Lettland als Grund für die Berichte. "Zum Glück sind wir Mitglied in EU und NATO" zitierte das ARD-Europamagazin lettische Quellen, um dann über junge Männer aus dem Osten Lettlands zu berichten, die sich den Pro-russischen Verbänden in der Ukraine angeschlossen haben und damit daheim zweifelhafte Berühmtheit erlangten. Und auch die Anwesenheit einer deutschen Fernsehkamera bei einer lettischen Debatte unter Lokalpolitikern dürfte bisher einmalig für deutsche Fernsehzuschauer sein (plus Interviews mit Vertretern verschiedener Parteien).
Harmlos unbedarft dagegen der ZDF-Bericht vom 5.9. in "Heute in Europa", wo EP-Parlamentarierin Zdanoka, damals wahrscheinlich frisch zurück von ihrer Unterstützerreise für eine russische Krim, hier wie zufällig als entschiedene Verteidigerin benachteiligter lettischer Russen vorgestellt wird.
Im WDR-Hörfunk werden sogar noch zusätzliche Legenden geknüpft - offenbar passt es gerade gut. Nachdem (fast bedauernd!) festgestellt wird, für die Letten stünden "EU, NATO und Euro" für Sicherheit, wird gleich anschließend behauptet: "Die russische Minderheit jedoch – immerhin ein Drittel der Bevölkerung – sieht das ganz anders." Offenbar sind die deutschen Kommentatorinnen hier den eingeschliffenen Phrasen derjenigen Parteifunktionäre auf den Leim gegangen, die auch immer gern "die Russen" als monolithischen Block sehen würden, mit nur einer einheitlichen Meinung. Zum Glück ist die Realität anders, wie man sich leicht denken kann.

Auch die "Tiroler Tageszeitung" mag nicht nachstehen und bietet mehr: eine Liste der "wichtigsten lettischen Parteien", erstmals fast alle dreizehn Listen. Und hält es zudem eine Schlagzeile wert, dass nun doch Alt-Oligarch Lembergs gerne Regierungschef werden möchte. Erstaunliche Details! Die "Berliner Morgenpost" konstatiert "alte Wunden" und fokussiert auf die Möglichkeit, Putin könnte Lettland nach dem "Modell Ukraine" gestalten wollen. Sogar die Computerfreunde von "Heise.de" meinen eine "Ukraine in Klein" in Lettland zu erkennen, und auch die "Neue Züricher" sieht "Schatten der Ukraine" über Lettland. Dagegen schreibt der sonst ausführlicher berichtende "Standard" etwas hektisch "russischsprachige Partei in Umfragen vorn" - und unterstellt damit, im lettischen Parlament würde nicht von allen lettisch gesprochen werden.
Irgendwie kommt mir - und wahrscheinlich nicht nur mir - diese plötzliche Aufmerksamkeit nicht ganz geheuer vor. Aber zumindest bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses wird das Interesse ja vielleicht reichen - und die Ukraine ist ja auch noch nicht raus aus der Krise. Leider.

14. September 2014

Frauen in Lettland vorn?

Das Politimagazin „Politikum“ von WDR5 berichtete kürzlich über Lettland. Autor war der häufiger mit deutschen Kollegen für deutsche Sender aktive lettische Journalist Toms Ancītis. Diesmal ging es um den hohen Frauenanteil in Führungspositionen im Land. In der Tat, wer in die Büros staatlicher Verwaltung oder privater Firmen schaut wie auch der Blick in den Hörsaal einer Hochschule, läßt die Vermutung aufkommen, daß es Frauen in Lettland bereits deutlich weiter gebracht haben, als in anderen Ländern. 41% Prozent aller Führungspositionen seien von Frauen besetzt, heißt es im Beitrag. Ursache für dieses auf den ersten Blick überraschende Phänomen seien die Ideen von Marx und Lenin, meinen die Autoren. Und richtig. In einer zwar arbeitsteiligen aber personalintensiven, weil technisch wenig entwickelten Industriegesellschaft war während der Sowjetzeit (aber auch in den anderen befreundeten sozialistischen Staaten wie der DDR) die Berufstätigkeit von Frauen nicht nur ein ideologischer Punkt, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Im Beitrag ist der Sozialantropologe der Stockholm School of Economics und zwischenzeitlicher Bildungsminister, Roberts Ķīlis, mit dem Hinweis zu hören, in Sachen Feminismus sei die Sowjetideologie ausgesprochen fortschrittlich gewesen. Die verordnete Gleichberechtigung habe es zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen, wenn Frauen Traktoren fahren oder in Fabriken körperlich schwere Arbeit verrichten. Die Folge davon sei, so die Autoren, daß Frauen heute diese Gleichberechtigung in Lettland nach wie vor einforderten. Das soll aber nicht heißen, Rollenbilder wären dadurch grundlegend aufgehoben worden. Zwar gibt es unter den Fahrern im öffentlichen Nahverkehr der baltischen Städte in der Tat unglaublich viele Chauffeurinnen, doch interessanterweise fahren sie fast ausschließlich Straßenbahnen und Trolleybusse, selten hingegen dieselbetriebene Busse. Der Beitrag argumentiert weiter zutreffend, die meisten heute bestehenden Firmen – gerade die kleinen und mittleren – seien Gründungen nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991, während die meisten großen Industrieanlagen die Wende nicht überlebten. Gerade mit diesem Ende der Großbetriebe fielen für viele Männer die Arbeitsplätze weg. So waren eben auch oftmals Frauen diejenigen, welche die Initiative für einen Neustart ergriffen. Und woran sich gewiß in einer Gesellschaft, in der es eine Frauenbewegung nie gab, wenig geändert hat, ist, daß die Frauen trotz aller erreichten Positionen meistens in der Mehrfachverantwortung von Beruf, Familie und Haushalt stehen. Nur weil sie mehr Chefposten ergattern, als in anderen Staaten, bedeutet das noch lange nicht, die Männer übernähmen mehr Aufgaben in Haushalt und Familie, wie in anderen Staaten. Und dies vor dem Hintergrund, daß eine Kinderkrippenversorung, wie sie zur Sowjetzeit normal war, heute nicht mehr gegeben ist. Der Beitrag läßt auch einen anderen Umstand nicht außer Acht. Ab dem Alter von dreißig gibt es in Lettland einfach mehr Frauen als Männer, weil diese früher stürben angesichts einer riskanteren Lebensführung. Das ist zutreffend. Während diese Beobachtung noch auf alle postsozialistischen Staaten zutrifft, bemüht Ķīlis die Geschichte. Bereits im 19. Jahrhundert sei es in den baltischen Ländern normal gewesen, daß Frauen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft übernehmen. Indiz dafür sei die geringe Geburtenrate dieser Zeit. Dennoch gibt es die gläserne Decke gibt es sicher auch in Lettland, wenn auch die seit Januar regierende Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma neben Parlamentssprecherin Solvita Aboltiņa und Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga auf den ersten Blick etwas anderes vermuten lassen könnten.

7. September 2014

Maijdan in Riga?

Die Sprache ist in Lettland wieder einmal Stein des Anstoßes. Es kommt nicht selten vor, daß Letten davon berichten, wie Russen zur Sowjetzeit gesagt haben, sie würden diese „Hundesprache“ nicht lernen. Mehr als 20 Jahre nach der Unabhängigkeit darf man wiederum behaupten, daß junge Russen eher sehr gut Lettisch sprechen, als junge Letten Russisch. Das wenigstens ist die Erfahrung eines Dozenten unter seinen Studenten. Seit der 2004 in Kraft getretenen Bildungsreform wurden stufenweise auch an russischen Schulen die Fächer in der einzigen offiziellen Landessprache Lettisch unterrichtet – bis zu 60%.

Im April dieses Jahres haben lettische Russen unter anderem vor dem Büro des Ombudmannes demonstriert, der die Rechte der Minderheiten nicht verteidige, denn im Gespräch ist nunmehr eine Fortsetzung der Reform, die letztlich auf einen vollständigen Unterricht in der Landessprache abzielt. Die Proteste kamen insofern verfrüht, als es sich nur um Pläne handelte. Entsprechende Gesetzentwürfe sollten erst im Oktober eingebracht werden, also nach der nächsten Parlamentswahl. Ergänzend sei hier erwähnt, daß unter den politischen Umständen der Sowjetzeit zwar ale Einwohner Lettlands Russisch konnten, was im Alltag oft unabdingbar war, viele zugewanderte Menschen aus anderen Sowjetrepubliken sich aber weigerten, die Sprache der örtlichen Republik zu erlernen. Insofern stand der junge lettische Staat 1991 vor der Frage, wie dieses Problem behoben werden kann.

Die Tragik der Proteste lag freilich darin, daß sie gleichzeitig mit den Demonstrationen auf dem Majdan in Kiew stattfanden. Und so äußerte sich der Chef der Organisation zur Verteidigung der russischen Schulen, Jakow Pliner auch deutlich, man wolle in Riga kein Maidan organisieren, sondern es gehe allein um die Bildungspolitik. Diese Äußerung wird in einem Artikel des lettischen Nachrichtenmagazins „ir“ konterkariert, welches einen Demonstrationszug nahe dem Pulverturm in der Altstadt von Riga zeigt, der als Banner vor sich her vermummte Demonstranten zeigt, unter die ein Bild der Bildungsministerin Ina Druviete montiert wurde. Dazu die Losung: „Valoda līdz Kievai novedīs“. (Die Sprache führt uns bis nach Kiew). Die gleichen Organisatoren hatten zusammen mit dem Nichtbürgerkongreß, einer Vertretung der in Lettland lebenden Menschen, welche über die Staatsbürgerschaft nicht verfügen – zumeist natürlich Russen, vor dem Bildungsministerium demonstriert. An diesem Tag wurde auch das erwähnte Bild am gerade gegenüber des Ministeriums gelegenen Pulverturms aufgenommen.

Die Demonstraten fordern, die Unterrichtssprache einer jeden Schule zu überlassen. Die Vorsitzende des Nichtbürgerkogresses, Elisabeth Kriwcowa, erläutert, daß man nicht unbedingt die gleichen Ziele habe. Einige gäben sich auch bereits damit zufrieden, wenn alles bei der derzeitigen Regelung bliebe. Beide Organisationen sind außerdem eng verbunden mit politischen Kräften. Während der Nichtbürgerkongreß mit dem Harmoniezentrum zusammenarbeit, der vorwiegend die russische Minderheit vertretenden größten Oppositionspartei im nationalen Parlament Saeima, ist Pliner eher Verbunden mit Tatjana Schdanok, die als Abgeordnete in Brüssel die Russische Vereinigung in Lettland vertritt, welche aus der einstmals auch im lettischen Parlament vertretenen Partei Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland hervorgegangen ist. Hinter ihr stehen auch kleine, aber radikalere Kräfte in Lettland, die etwa die Annexion der Krim durch Rußland befürwortet haben. Pliner wiederum distanziert sich von der Vermutung, die Aktionen hätten etwas mit dem Wahlkampf für die Parlamentswahlen 2014 im Oktober zu tun.

Während Pliner zugibt, daß unter 200 Demonstraten gerade einmal knapp zehn Lehrer gewesen seien – man habe auch vorwiegend Schulrektoren angesprochen – betont Bildungsministerin Druviete, daß man im Grunde nur den im Bildungssystem seit 1992 beschrittenen Weg der Reformen fortsetze. Wegen des Bezugs auf die Krim und die Ereignisse in der Ukraine erklärt Druviete, die Reform sei ja nichts Neues, sie wolle da keinen Zusammenhang herstellen, doch man müsse vorgehen gegen Pläne anderer politischer Kräfte, Lettland zu einem bilingualen Staat zu machen.. Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma hält sich ihrerseits zurück. Egal um welche Reformen es gehe, alles müsse an einer integrierten Gesellschaft orientiert sein.

6. September 2014

Aufarbeitung der KGB-Akten

Čekisti kommt im Lettischen von der russischen Abkürzung für den Geheimdienst, der übrigens während der Sowjetzeit seinen Namen mehrfach änderte: ЧК, oder eben auch ČK in lateinischer Transkription. Selbstverständlich haben die Letten nicht weniger aufzuarbeiten als die Deutschen, was die Verbrechen des Geheimdienstes der kommunistischen Diktatur betrifft.

Doch es gibt gleich mehrere wesentliche Unterschiede: Erstens war die DDR ein selbstständiges Land, während die Letten nur eine Sowjetrepublik hatten, und der Geheimdienst vor Ort daher nur eine Moskau untergeordnete Abteilung. Zweitens hatte Lettland keinen großen Bruder, mit dem es sich vereinigt hat, der sowohl großen Wert auf die Aufarbeitung gelegt hat, als auch die logistischen Mittel zur Verfügung stellen konnte. So entstand nach der deutschen Einheit eine Behörde, die in der Presse jeweils den saloppen Namen ihrer Leiters Trug, Gauck, Birthler, Jahn.

Lettland tut sich aber nicht nur aus diesen Gründen ungleich schwerer. Im Gegenteil zu Estland, dessen tabula rasa Politik die politische Elite mit der ersten freien Wahl von 1992 quasi hinwegfegte, ergab sich in Lettland eine Zusammenarbeit zwischen den Moderaten ehemaligen Kommunisten und den moderaten Befürwortern der Unabhängigkeit, der Volksfront. Viele ehemalige Funktionäre konnten ihre politische Karriere damit in die neuen Zeiten retten. Einer der bekanntesten von ihnen ist der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, der dieses Amt bereits 1988 angetreten und noch immer innehat. Das bedeutet natürlich nicht, in Lettland gäbe es in der Gesellschaft und auch unter Vertretern der politischen Elite nicht Kräfte, welche die Information über das damalige Spitzelsystem zu den Akten legen wollten. Seit Jahren wird darüber gestritten. In Lettland spricht man von den „Sächen der Čekisten“, über deren weiteres Schicksal dieses Frühjahr das Parlament entgültig entschieden hat. Bis 2017 sollen die Materialen von Wissenschaftler wissenschaftlich untersucht werden und danach der Öffentlichkeit zugänglich sein. Im Gegenteil zu Deutschland allerdings nach strengen Vorschriften von Seiten des Staates. Und das ist wiederum abhängig von den Forschungsergebnissen, wer forscht in welchem Umfang und wie wird über den zu publizierenden Anteil entschieden.

Damit besteht die Gefahr, daß sich in den nächsten drei Jahren am Status Quo der Unsicherheit, was mit den Akten geschieht, nichts ändert. Freilich ist diese Lösung auch wieder nur ein Kompromiß. Das oppositionelle Harmoniezentrum, das im wesentlichen als Russenpartei gilt, war mit der Idee gekommen, man sollte die Akten ganz einfach vernichten und damit den Aktendeckel schließen. In die Zukunft schauen sei wichtiger als in die Vergangenheit. Die an der Regierung beteiligten Nationalisten von Für Vaterland und Freiheit / Alles für Lettland! stehen für eine rücksichtslose komplette Veröffentlichung. Der Aufklärer, der Liberale und selbstverständlich der Geschichtsinteressierte mögen letzteren Vorschlag für vernünftig und logisch halten und den vermeintlichen Russen eine „Schwamm-drüber-Mentalität“ vorwerfen wollen. Das Problem liegt aber tiefer. Wie bereits erwähnt, der KGB in Lettland war ja nur ein Teil der Maschinerie aus Moskau. Die in Lettland vorliegenden Akten sind eigentlich nur eine Kartothek mit Namen, Decknamen – und das war’s. Was die einzelnen Agenten tatsächlich gemacht haben, ihre Berichte, befinden sich in Moskau. Und Rußland wird diese Informationen kaum herausgeben. Anhand der Kartothek läßt sich also nicht ermitteln, wer wem eventuell welchen Schaden zugefügt hat. Darüber hinaus enthält die in Lettland verbliebene Kartothek sowieso nur 4.000 von vermutlich 25.000 was man in Deutschland „IM“ nennen würde.

Manche Namen und Nachnamen inklusive Geburtsdatum sind identisch mit jenen weiterer lebender Personen, was in Lettland angesichts von sehr häufig auftauchenden Namen nichts besonderes ist. Ein deutsches Presseerzeugnis glaubte ja bei der Wahl Andris Bērziņš zum Prsäidenten 2011 auch, es handele sich um den ehemaligen Ministerpräsidenten. Aber weit gefehlt. Wer ins Land nach Ieva Bērziņa rufen würde, bekäme auch mehr als nur ein Ja zu hören. Der Leiter des Auslandsnachrichtendienstes (Büro zum Schutze der Verfassung / Satversmes Aizsardzības Birojas), Jānis Maizītis, gemaht deshalb zur Vorsicht und ist nicht der einzige hochrangige Vertreter, der eine generelle Veröffentlichung aus den genannten Gründen für falsch hält. Er erinnert an mindestens einen Fall, wo ein Mensch in der Kartothek ohne sein eigenes Wissen landete. Ex-President Valdis Zatlers, derzeit Vorsitzender des Ausschusses der Nationalen Sicherheit fügt hinzu, daß all jene, deren Namen sich in der Kartothek befänden, ganz freiwillig auf Kandidaturen für öffentliche Ämter oder die Arbeit im Staatsdienst verzichteten. Ein geltendes entsprechendes Verbot ist auch im neuen Gesetz nicht gestrichen worden.