24. Oktober 2014

Einsam in Strassburg

Eigenwillig, beharrlich, oder orientierungslos? Sonderwege lettischer Europapolitik

Selten erregen lettische Europaabgeordnete international großes Aufsehen. Längst haben sich die EU-Parlamentarierkolleg/innen an eine Zweiteilung gewöhnt: auf der einen Seite die große Mehrheit der lettischen Abgeordneten, die sich den neoliberalen Richtlinien von Wirtschaftswachstum, Sparkurs und Förderung des freien Marktes verpflichtet sehen - mehr oder weniger. Sie haben sich zu Fans der deutschen Kanzlerin Merkel und ihres Ex-Regierungschefs und jetzigen EU-Kommissars Valdis Dombrovskis entwickelt.

Angesichts der Allgegenwärtigkeit
der Grigule-Werbung schreiben lettische
Medien (hier ein Foto der DIENA)
auch schon mal von der
"Grigulisierung Lettlands"
Auf der anderen Seite steht Tatjana Zdanoka, im Sowjetsystem als treue Funktionärin gestartet und aus ihrer eigenen Sicht dort von den Kräften des Großkapitals brutal herausgerissen; ihr blieb eine Karriere im neuen demokratischen Lettland versagt, daher hat sie ein anderes Erfolgsrezept entwickelt: wer immer gegen Lettland protestieren möchte - am besten im Namen von angeblich benachteiligten Russen - der oder dem bietet Zdanoka in sofern ein Forum, dass sie gerne auch in Brüssel öffentlichkeitswirksame Auftritte veranstaltet. Zuletzt war sie auch in Russland und in der Ost-Ukraine zugunsten von Putin-freundlichen Gruppen aktiv. Was in der lettischen Öffentlichkeit davon ankommt sind vor allem zwei Dinge: einerseits, dass die gesamte Politik der Fraktion der Grünen im Europaparlament, zu der Zdanoka gehört, ("Grüne + Europäische Freie Allianz"), in Lettland mehr oder weniger diskreditiert ist dadurch, dass Zdaonka dort offenbar toleriert wird. Zweitens gilt eine Zusammenarbeit mit Zdanoka bzw. ihrer Fraktion als ausgeschlossen.
Vor diesem Hintergrund fiel bis 2014 nicht mal mehr auf, dass mit Alfreds Rubiks ein weiterer, "heimatlos" gewordener Ex-Sowjetfunktionär im EU-Parlament saß - aber offenbar mit dem behaglichen Dasein eines aus lettischer Sicht gut bezahlten Abgeordneten bereits zufrieden schien und (politisch) kein weiteres Aufsehen erregte.

Mitte Oktober setzte die lettische EU-Abgeordnete Iveta Grigule, bei den Europawahlen im Mai 2014 gewählt auf der Liste der lettischen Bauernpartei LZS und den Grünen (LZP), in der internationalen Presse Duftmarken. Sie erklärte ihren Austritt aus der Fraktion der EFDD (Europe for Direct Democracy), die Fraktion der EU-Gegner um den britischen Rechtspopulisten Nigel Farage (UKIP) und Beppe Grillos "5-Sterne-Bewegung". Dadurch verloren zwei ambitionierte und ehrgeizige EU-Skeptiker Macht und Einfluß - während Grigule freimütig der internationelen Presse erklärte, sie habe die habe Illusionen gehabt, was sie in dieser Fraktion erreichen könne.

Unberechenbarkeit als Charaktermerkmal?

Alle Jahre wieder fällt Iveta Grigule in Lettland mit
allein auf ihre Person zugeschnittenen Image-
kampagnen auf. Gemeinsamkeiten: teuer, offenbar
zumindest teilweise verdeckt finanziert, aber
karriereförderlich
Bevor nun der Trugschluß entsteht, Grigule sei einfach eine mutige, freiheitsliebende und unabhängige Frau (was ihre Anhänger allerdings genau so sehen werden!), hier einiges zu ihrer politischen Vorgeschichte.
Über die Tätigkeiten von Iveta Grigule, geb.1964, vor 1990 ist öffentlich wenig bekannt. Bis 1983 besuchte sie in Riga eine Mittelschule. Für 1998 gibt sie den Abschluß eines Bachelor (Bakalaureus)-Progamms an der Lettischen Kulturakademie an, was dem Abschluß eines der vierjährigen Studienprogramme gleichkommt. Kurzzeitig war sie dann an der Lettischen Universität am "Institut für internationale Studien" der Lettischen Universität eingeschrieben. Seit 2012 studiert Grigule nach Angaben lettischer Quellen nun erneut: Diplomatie. Die Lettische Universität hat dieses als zweijähriges Magister-Studienprogramm neu aufgelegt. "Dieses Studium bedeutet einer Karriere einen Schritt näher zu sein, den eigenen Staat, die Gemeinde oder eigene Unternehmerinteressen international zu vertreten" - so die Werbung der Universität. Da behaupte noch jemand, in Lettland gäbe es keine praxisbegleitenden Studiengänge!

Politisch tauchte Iveta Grigule erstmals 2001 auf, als Kandidatin auf der Liste der "Neuen Christlichen Partei" (Jaunā Kristīgā partija JKP), gegründet "Zwischenphase" von "Bulldozer" und Polit-Unternehmer Ainārs Šlesers (zur Zeit bei "Vienoti Latvijai" aktiv) in der lettischen Politik ein Wörtchen mitzureden. Die JKP ging bereits 2002, ebenso wie ihr Vorläufer "Jaunā partija", in der "Latvijas Pirmā Partija" LPP (Lettlands Erste Partei) auf, die dann einige Jahre durch sehr unternehmerfreundlicher, dabei aber stramm christkonservativer Aktivitäten auffiel.
2006 wurde die JKP offiziell für aufgelöst erklärt, Grigule schloss sich 2005 der lettischen "Grünen Partei" an. Zu Ex-Parteifreund Šlesers unterhält sie gewissermaßen noch eine "Fernbeziehung", indem sie ihn zum Beispiel 2011 vor einer Durchsuchung der Anti-Korrutionsbehörde rettete (siehe unten).

Eigensinn als Arbeitsnachweis?
Schnell wurden Grigule Ambitionen nachgesagt, zu einer der gleichberechtigten Vorsitzenden der Grünen Partei werden zu wollen. 2011 wurde sie dann aber aus der Partei ausgeschlossen, blieb aber als vorübergehend Parteilose im Parlament. Gründe: die eigenwillige Grüne hielt sich selten an das, was der Parteivorstand mehrheitlich entschied - teilweise gab sie schon vor den Vorstandstreffen öffentlich bekannt, was der Vorstand dann angeblich beschließen würde. Auch wurde ihr vorgeworfen, unabgestimmt viel Geld für Wahlkampagnen ausgegeben zu haben, was sogar eine Geldstrafe vom lettischen Antikorruptionsbüro KNAB zur Folge hatte (Korupcijas novēršanas un apkarošanas birojs). Bei der KNAB wird nicht nur eine namentliche und öffentlich einsehbare Liste aller Parteispender geführt, sondern auch darüber gewacht dass die Parteien die für die Wahlkämpfe festgelegte finanzielle Obergrenze einhalten. Als die KNAB die Wohnung des bereits erwähnten Ainārs Šlesers wegen Korruptionsverdacht durchsuchen wollte und dazu die Zustimmung der Parlamentsmehrheit brauchte, stimmte Grigule - entgegen dem Willen des Parteivorstands - dagegen (siehe auch DELNA). Diese Verweigerung der Unterstützung für die Anti-Korrutionsbehörde bewegte dann den damaligen Präsident Valdis Zatlers, das Parlament zu entlassen und Neuwahlen einzuleiten. Nur eine Woche später erhielt Zatlers bei den Präsidentschaftswahlen nur 41 von 100 Stimmen - 53 erhielt sein Konkurrent Andris Bērziņš, unter anderem auch die Stimme von Iveta Grigule.

Was hier von der offiziellen Euro-Propaganda-Seite
so "freudig" verkündet wird, das fiel den meisten
Lettinnen und Letten sichtbar schwer: der Abschied
von der geliebten eigenen Währund "LATs"
Grigule verließ also die Grünen, nahm bis 2013 ihr Abgeordnetenmandat als Parteilose wahr. 

Zuletzt entwickelte sich Grigule als aktive Gegnerin der Einführung des Euro in Lettland. Noch im Februar 2013 lehnte die Grüne Partei die Unterstützung einer Initiative zur Durchführung einer Volksabstimmung ab, mit der Grigule die Einführung des Euros verhindern wollte. Grigule suchte sich andere Partner - wie zum Beispiel Rechtsradikale wie Jānis Sils, der mit der Losung auftritt, jeder Lette müsse sich selbst verteidigen, auch mit Waffen. "Wenn 10% für die Einführung des Euro sind, dann bin ich auf der Seite der 90%!" (siehe "IR") glaubte sich Grigule wieder einmal auf dem richtigen Weg. Aber zur Volksabstimmung kam es dennoch nicht. Heute sagt Grigule dazu: "Ja, ich denke immer noch, eine Volksabstimmung über die Euro-Einführung wäre richtig gewesen. Aber ich bin auch eine realistisch denkende Euro-Skeptikerin. Ich bin gegen einen Austritt aus der EU, und werde auch weder mit Kommunisten noch mit Le Pen zusammenarbeiten." (Zitat ZZS)

Starke Spender = starke Frauen?
Im Wahlkampf zum Europaparlament 2014 gab Grigule zu, nur für die eigene Kandidatur gesondert 50.000 Euro ausgegeben zu haben, davon 20.000 Euro für eine eigene Zeitung zur Vorstellung ihrer Person. Seit Grigule 2013 in die lettische Bauernpartei eintrat, wurden auch ihre "Sponsoren" öffentlich, denn das Spendengeld musste nun wegen der lettischen Anti-Korruptionsgesetzgebung Teil einer sauberen Buchführung werden (privat hat sie bisher in der eigenen Steuererklärung nie angegeben, Spenden erhalten zu haben - siehe pietiek.com). Einer der Spender ist nachweislich der Bauunternehmer Valdis Kalnozols, ein Freund aus Jugendtagen (dessen Firma "Kalnozols und Partner" kurzzeitig sogar eine Niederlassung in Bremen unterhielt, ein Geschäftspartner der Klaus-Hübotter-GmbH). Pikant auch, dass Kalnozols von 2010 bis 2012 Vorstandsmitglied der Grünen Partei war und nicht wieder kandidierte nachdem Grigule ausgeschlossen war. Unternehmer mit politischen Ambitionen, und Politiker mit Unternehmerinteressen - ein häufiges "Erfolgs"-Modell in Lettland. 2014 kandidierte "Spender" Kalnozols wieder auf der Liste der GrünenBauernpartei für einen Sitz im lettischen Parlament und scheiterte nur knapp.

Andere Spender weisen auf gute Verbindungen Grigules zu Geschäftsleuten aus Jūrmala hin, dessen Stadtrat auch schon mal mit "Jūrmalgeita" bekannt wurde (Jūrmala-Gate, benannt nach "Watergate"), ein durch aufgezeichnete Telefongespräche bekannt gewordener Korruptionsskandal (auch hier war wieder Šlesers aktiv beteiligt). Einige Jahre arbeitete  Grigule auch in der Stadtverwaltung von Jūrmala, kandidierte auf der Liste der "Grünen" für den Stadtrat, zudem ist ihr Ex-Mann Romāns Mežeckis stellvertretender Bürgermeister des Badeorts (siehe TV3).
Und dann ist da noch der Unternehmer Aleksejs Opolčenovs, ebenfalls ein Grigule-Spender, bekannt als Eigentümer einer Elektro-Installationsfirma in der Hafenstadt Ventspils, wo ZZS-Großsponsor Aivars Lembergs das Regiment führt. Da wundert es kaum, dass Opolčenovs häufig städtische Aufträge zugesprochen bekommt, wie in der lettischen Presse nachzulesen ist (TVNet). Das Problem bei Opolčenovs' Spende war aber, dass er zuvor die lettische Staatsbürgerschaft zugunsten der russischen aufgegeben hatte - Spenden von Ausländern verbietet aber das lettische Parteiengesetz. Opolčenovs wurde sein Spendengeld angeblich zurückgezahlt. Dzintars Salmiņš, ein weiterer Elektrounternehmer und häufiger Partner der Stadt Ventspils, wurde ebenfalls als Spender offenbart - angeblich ohne entsprechend eindeutige Anweisungen vom eigenen Stadtoberhaupt.

Dass die Grigule-Finanzierung über die Lembergs-Partei so erfolgreich war, veranlasste lettische Journalisten schon zu Fragen an Grigule, wie sie denn vor dem Eintritt in die ZZS (Zaļo un Zemnieku savienība) ihre Ausgaben decken konnte. "Mal ging es über die eine, mal über die andere Partei." Gefragt, ob sie denn selbst zum Fernsehen gegangen sei, um die Kosten für Werbespots in bar zu bezahlen, wollte Grigule dann doch lieber nicht im Detail beantworten. Etwa 150.000 Euro soll ihre gesamte Kampagne gekostet haben, um einen Platz im Europaparlament zu erstreiten. Auch um die Herkunft dieses Geldes ist inzwischen in Lettland eine heftige Debatte entbrannt (siehe LETA, TVNet). Der Journalistin Inga Spriņģe, die Grigule ebenfalls nach der Finanzierung gefragt hatte, antwortete Grigule schlicht: "Inga, heute morgen noch hast Du mir auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschicht. Das bedeutet doch, wir sind Freundinnen?"

Nachwahl-Wehen auch bei den grünen Bauern
So bringt der Fall Grigule momentan auch Unruhe in die frisch gewählte Fraktion der GrünenBauern (ZZS), und birgt sogar Sprengstoff zwischen den beiden seit 2002 in gemeinsamer Wahlliste verbundenen Parteien. "Ich kenne Iveta als energische, aktive Kollegin," äussert sich Fraktionschef Augusts Brigmanis, der seine politische Karriere schon als Sekretär der Kommunistischen Partei begann. "Manche fürchten sich eben vor starken Persönlichkeiten. Deshalb ist die Bauernpartei für Iveta Grigule genau der richtige Ort." 

Übrigens: der aufsehenerregende Schritt zum Verlassen der EFDD-Fraktion führte letztendlich doch nicht zu ihrer Auflösung. Am 20.Oktober schloss sich Robert Jarosław Iwaszkiewicz der EFDD an. Ein Mann, der "den Holocaust anzweifelt, ebenso das Frauenwahlrecht und schon Geldstrafen wegen rassistischer Äußerungen hinnehmen musste", soviel weiß auch die lettische Presse über ihn. Weiterhin keine Bedenken über solche Fraktionskollegen haben übrigens Rolandas Paksas und Valentinas Mazuronis von der litauischen "Partija Tvarka ir teisingumas" (Partei für Ordnung und Gerechtigkeit).

Fraktionen und Pöstchenvergabe
Nun wird Iveta Grigule nicht müde gegenüber der lettischen Presse zu betonen, wie wichtig der Anschluß an eine Fraktion sei, um im EU-Parlament wirklich etwas erreichen zu können. "Einsam in Strassburg" - fern von der erträumten Mehrheit des lettischen Elektorats - vielleicht vergeht die Sucht, gebraucht zu werden doch schneller als gedacht.
Sandra Kalniete, Parlamentskollegin der Reaktion der "Europäischen Volkspartei" (EVP), äusserte sich gegenüber der Tageszeitung "Neatkariga" sehr skeptisch zu Aussichten Grigules, nun dort (wo auch die deutsche CDU Mitglied ist) aufgenommen werden zu können. "Sie hat auch ihre eigene Partei kompromittiert, und die hat ihr dann wohl auch dringend geraten, die EFDD zu verlassen," meint Kalniete zum Aufsehen erregenden Verhalten ihrer Kollegin. "Aber nach ihrem Ausflug zu solchen anti-europäischen, teilweise rassistischen und pro-putinschen Gruppierungen glaube ich kaum, dass sie Chancen hat in die EVP aufgenommen zu werden."

Mit Iveta Grigule kann man auch zu tun bekommen ohne eigenen Willen. 2014 landeten Hunderte von Neujahrsglückwunschkarten in den Postkästen von zumeist älterer Menschen in Lettland. Absender: Iveta Grigule. In diesem Fall war vor allem verwunderlich, woher die Absenderin die Adressen hatte. "Alles auf Empfehlung von Parteifreunden in Jūrmala", behauptete die rührige Politikerin (siehe DELNA). Nun ja, ihr Wahlkampfslogan "der Mensch zuerst" hat sich finanziell, karrieremäßig und was das Aufsehen in der Öffentlichkeit angeht zumindest ja für EINEN Menschen gelohnt: für sie selbst.
Für die Liste der lettischen Grünen+Bauernpartei ist es der erste errungene Sitz im Europaparlament überhaupt. Seit der Neukonstitutionierung des EU-Parlaments verlagerten sich politische Ambitionen erstmal auf die Besetzung von Ausschuss-Vorsitzenden. UKIP-Chef Nigel Farage hatte ja Parlamentspräsident Martin Schulz auch schon unterstellt, der lettischen Abgeordneten Grigule den Fraktionsaustritt bei den Euro-Skeptikern nahegelegt zu haben, und mit diesem Schritt die Zusagen eines Ausschuss-Vorsitzes verbunden ("I had to do it to get elected" behauptet UKIP). Ein englischer Blogger schrieb sogar: "Eine Schlange im Gras. Gib einer Frau den Vorsitz von irgendwas, und sie wird nicht nein sagen können." (“No woman can resist being promoted to head of something” - ein Satz der wiederum Gegenstand von Diskussionen wurde).
Grigule ist nun inzwischen tatsächlich Vorsitzende des Ausschusses "Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Mongolei" und trifft dort auf aus baltischer Sicht interessante Kollegen und Kolleginnen: einer der Stellvertreter ist mit Gabrielius Landsbergis ein konservativer Litauer, der auf den Spuren seines Großvaters Vytautas Landsbergis wandelt. Die andere Stellvertreterin ist Tatjana Ždanoka. Selbst Iveta Grigule schließt es aus, mit Ždanoka zusammenzuarbeiten, und redet gegenüber der lettischen Presse gern von "sieben lettischen EU-Abgeordneten". Vielleicht hat sich der Parlamentspräsident angesichts dieser Positionierung auch eher gedacht: "Sollen sie sich doch schlagen, diese Balten! - Wenn nötig in der Mongolei!"

"In den vergangenen Jahren bestand in Lettland die Tendenz, verdienten Politikern einen mehrjährigen gut bezahlten Urlaub in Brüssel zu gönnen", so Grigule über ihre bisherigen EU-Parlamentarierkolleg/innen aus dem Heimatland (in: Latvijas Avize 12.6.2014). Wie üblich, wer im Glashaus sitzt ... - momentan wirkt es ebenfalls wie eine Auszeit im richtigen Moment. Aber es ist wohl ähnlich wie 2011 nach ihrem Rausschmiss bei den lettischen Grünen, als viele sagen: von Iveta Grigule wird man noch hören! 

16. Oktober 2014

Frau Straujuma, übernehmen Sie!

Bei der Regierungsbildung in Lettland gibt es, wenig überraschend, Schwierigkeiten. Bereits am 5.Oktober, dem Tag nach der Wahl, meldeten allerdings die meisten deutschsprachigen Medien ein "weiter so" für das "Regierungsbündnis Straujuma" (Tagesschau), bzw. für "das Mitte-Rechts-Bündnis" (Deutschlandfunk, Neues Deutschland, Reuters), Die Konrad-Adenauer-Stiftung diagnostiziert sogar schon "Regierungsbildung weniger kompliziert als zuvor".

So sieht es der Karikaturist der
Zeitung "Diena": das von Regierungs-
chefin Straujuma mühsam
konstruierte Gebäude der
Postenverteilung könnte wieder
ins Wanken kommen
Ach ja, einen zweiten Aspekt einer Kurzdiognose gab es: der Russen-Faktor, verbunden mit der Ausrufung der "Saskaņa" mit ihren 23% als "Wahlsieger" (TAZ), plus selbstgestrickter Legende, von den offenbar starrköpfigen anderen lettischen Parteien die aus mysteriösen Gründen mit dieser "sozialdemokratischen, pro-russischen" Partei nicht zusammenarbeiten wollen. Ähnliches berichten so nur noch die russischen Staatsmedien (siehe "Novosti"). Wer "Saskaņa" nicht unbedingt zum "Sieger" erklären will, nutzt das Russen-Thema anders herum: "Angst vor Russland nutzt Regierung" (Tagesspiegel), "Russland-Frage überschattet Lettland-Wahl" (Deutsche Welle), "Russland-Schreck" (Neue Züricher) oder "Angst vor russischer Aggression" (Kurier). Berichte über Russen in Lettland waren wohl die "Leitwährung" der Berichterstattung in den deutschen Medien diesmal.

Posten und Ämter
Aber ist es denn schon vorbei? Der vorgesehen "Tag der Verkündigung" jedenfalls - eigentlich war dafür der vergangene Dienstag dieser Woche ausgerufen worden - wurde vorerst verschoben. Grund: die drei Möchtegern-Regierungsparteien können sich nicht auf die Verteilung der Ministerämter einigen. Was ist daran so kompliziert?

Es scheint sich also niemand zu scheuen, öffentlich Postengeschacher vorzuführen. Der in Deutschland so gern gebrauchte Satz in ähnlichen Situationen "erst reden wir über Inhalte, dann über Personen" gilt hier offensichtlich nicht.
Ich versuche einige andere Faktoren nachzuzeichnen.

Punkt 1 - der "falsche Hase"
Um überhaupt erstmal festzustellen, wer als Abgeordnete/r tatsächlich gewählt ist, muss die lettische Wahlkommission diesmal genau nachzählen. Durch die Möglichkeit jedes Wahlberechtigten, nach Belieben auf der Kandidatenliste der bevorzugten Partei Namen zu streichen oder hochzuwerten, ist eh schon viel Zeit nötig. Nun sind aber Vorwürfe des "Stimmenkaufs" aufgetaucht, und das hatte schon eine Konsequenz: Dzintars Zaķis (Zaķis = Hase), bisher Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei "Vienotiba", ist bereits von diesem Posten zurückgetreten. In seinem Wahlbezirk gibt es zumindest sehr auffällige krasse Anstiege von Wählerstimmen, bis zu 10mal mehr als bisher. Das verwundert besonders dort, wo keiner sich mehr erinnern kann diesen Kandidaten überhaupt im Wahlkampf vor Ort gesehen zu haben. Inzwischen sind bereits sechs verschiedene staatsanwaltliche Untersuchungen wegen ähnlichen Vorwürfen eingeleitet worden, dazu kommen Beschwerden und Forderung einer Nachzählung in insgesamt acht Wahlbezirken in Riga, wo die GrüneBauernpartei sich ungerecht behandelt fühlt (Pressemeldung cvk).

Punkt 2 - unklare Rochaden
Die bisher einflussreichste Politikerin der "Vienotiba", Solvita Āboltiņa, wegen ihrer rot gefärbten Haare gelegentlich auch "rote Kardinalin" (oder auch "eiserne Kardinalin") genannt, fiel wegen zu großer Anzahl negativer Bewertung auf den Wahlzetteln in ihrem Wahlbezirk durch. Nun kann sich aber niemand vorstellen - offenbar auch ihre Gegner nicht - dass die bisherige Parlamentpräsidentin Āboltiņa einfach so "am Wegesrand liegen gelassen" wird. Zwei mögliche Auswege gibt es, die beide aber erst geklärt werden müssen: entweder einer der vor ihr auf der Liste Gewählten wird Minister, oder Ints Dālderis, von den Wählern statt Āboltiņa "nach vorn gewählt", könnte ins Büro des zukünftigen EU-Kommissars Dombrovskis wechseln. In beiden Fällen würde die ehrgeizige Āboltiņa, von der es heißt sie würde auch gern als zukünftige Präsidentin kandidieren, nachrücken und vielleicht auch Parlamentspräsidentin bleiben können.
Aber mit der Schwächung der "starken Figuren" in der Regierungspartei, der schon mit dem freiwilligen Abgang Dombrovskis eingeleitet wurde, ist der zunehmende innerparteiliche Konkurrenzkampf nicht zu übersehen. Ilze Viņķele, ein Mitglied des Parteivorstands, musste bereits ihre Absichten den Parteivorsitz von Āboltiņa übernehmen zu wollen, dementieren. Ihr "zur Zeit nicht" klingt aber sehr nach "Abwarten auf einen besseren Moment".

Punkt 3 - entweder der Mann mit dem Hut, oder die Leute mit dem Hakenkreuz
Ein wichtiger und gravierender Unterschied zur Regierungsbildung nach den Wahlen 2011 ist jetzt ja, dass damals ausdrücklich eine Regierung "ohne die Oligarchen" gebildet wurde. Erst der Niedergang von Zatlers Reformpartei und der Abgang Dombrovskis machte es notwendig, die "GrüneBauernliste" wieder dazuzunehmen - hinter der Aivars Lembergs als "Großsponsor" steht, bekannt durch sein selbst konstruiertes riesiges Geflecht vieler undurchsichtiger Finanzgeschäfte. Dazu dann Laimdota Straujuma, die lange Jahre Mitglied der "Tautas Partija" war, hinter der mit Andris Šķēle ein weiterer der "Oligarchen" stand. Erst rückte Straujuma parteilos (da sich die "Tautas Partija" aufgelöst hatte) ins Ministeramt, dann aus der dritten Reihe an die Stelle Dombrovskis. Nun also ihre erste, eigene Regierungsbildung: mit einer wesentlich wiedererstarkten "Grüne-Bauernliste" an der einen Seite und mit ebenfalls starken Nationalisten an der anderen. Das sind grundlegende andere Voraussetzungen als 2011, als "Vienotiba" die Leitsätze der Politik vorgeben konnte. Straujuma versucht nun von der auch internationalen Reputation der "Vienotiba" zu retten was zu retten ist: wenigstens sollen auch in Zukunft keiner der zukünftigen Minister an den jährlichen Aufmärschen zum "Gedenken" an die Bildung der lettischen SS-Einheiten am 16.März teilnehmen dürfen (der Grund zum Rücktritt eines Ministers der nationalen Liste im März 2014, gerade frisch ernannt).

Punkt 4 - neue Koalitionsmöglichkeiten
Nein, nicht die "Saskaņa" mit ihrem ambitionierten "Spitzenkandidat" Ušakovs ist hier gemeint - die müssen weiter vom selbstgebauten Wunsch-Image leben, die Partei sei gleichzusetzen mit "benachteiligten Russen" und daher "automatisch" ausgegrenzt (Mitleidseffekt im Ausland, mindestens). Aber sowohl die ehemalige Chefin des lettischen Rechnungshofs, Inguna Sudraba ("no sirds Latvijai" - "Von Herzen für Lettland"), wie auch der ehemalige Büroleiter von Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, Ex-Basketballer Mārtiņš Bondars ("Latvijas Reģionu apvienība" - "Verband der Regionen Lettlands"), beide könnten von ihrem politischen Programm her auch Regierungspartner sein. Würde aber auch nur eine der Parteien hinzugeholt könnte die Gefahr bestehen dass die schon angedeuteten Gegensätze innerhalb der Straujuma-Partei "Vienotiba", die ja selbst auch erst aus dem Zusammenschluß verschiedenen kleinen Parteien entstanden ist, sich verstärken könnten. Wäre Sudraba die Partnerin, könnte die Überlegung entstehen: "Brauchen wir denn die Nationalisten wirklich noch, denen offenbar die SS-Gedenkfeiern wichtiger als die Regierungsarbeit sind?"
Fiele die Wahl dagegen zugunsten der Regionalpartei LRA, dann stünde sie erstens in Konkurrenz zur GrünenBauernliste, die ihre Stärke ebenfalls eher in den Regionen hat und vorgibt, vor allem für die Menschen auf dem Lande Politik zu machen. Und zweitens entsteht dann angesichts der Tatsache, dass Parteichef Bondars früher auch mal Mitglied bei der "Tevzemei" (Vaterlandspartei) war die Frage, ob sich diese beiden Parteien dann vielleicht zu einer gemeinsamen Liste entwickeln und Gegner einer zu starken Übertreibung des nationalistischen Ansatzes es dann noch schwerer hätten.

Die "lieben Kollegen"
So betonen dann lieber alle drei bisherigen Koalitionspartner, wie "gern" sie doch alle zusammenarbeiten. Das würde aber nur dann "wie gewohnt" funktionieren, wenn alle ihre jeweiligen Ministerämter behalten können - ein Verfahren, was durch den Wegfall der ehemaligen Vertreter der nahezu untergegangenen "Reformpartei" nicht möglich ist. So will zum Beispiel das Gesundheitsministerium angesichts der vielen bevorstehenden schwierigen Fragen offenbar niemand besetzen, während die "GrünenBauern" gern den "Nationalen" das Umwelt- und Regionalministerium wieder entreissen würden.

Aber auch die drei für die Oppositionsrolle vorgesehenen Parteien reden miteinander, und verkünden dann - wohl um den Druck auf die laufenden Verhandlungen zu erhöhen - ihre Gesprächsergebnisse laut und gern der Presse.
Die Regionale Allianz (LRA) hat sich angeblich sogar mit der oppositionellen "Saskaņa" in drei Punkten auf eine Zusammenarbeit geeinigt: beide Parteien sind dafür, künftig den Präsidenten vom Volk wählen zu lassen, sie stimmen überein einen größeren Anteil der Steuereinnahmen den Gemeinden zufließen zu lassen, und darin, zum Supermarkteinsturz von Zolitūde einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen.
Auch Inguna Sudraba, Parteichefin der zweiten Neulingspartei im Parlament, hat sich schon mit der oppositionellen "Saskaņa" an einen Tisch gesetzt, nachdem Versuche mit den drei Regierungsparteien in ersthafte Gespräche zu kommen, offenbar scheiterten. Hier wird zum Beispiel der Vorschlag als Gemeinsamkeit benannt, eine Senkung von Steuern auf gesundheitsfördernde Lebensmittel vornehmen zu wollen.

Sarkastische Sicht auf die bisherige Parlaments-
präsidentin, auf der Grundlage mehrerer Vorfälle mit
zu hoher Geschwindigkeit ihres Dienstwagens.
Bildunterschrift: "Zur Seite, ihr Mistkäfer,
wenn die Dame fährt! Und vergesst nicht mich
zu wählen!"
Derweil schmort Frau Āboltiņa im "Abseits" des Nicht-Gewähltseins und bemüht sich den vielen interessierten Fotografen ein möglichst fröhliches Gesicht zu zeigen.
"Mein Gewissen ist rein, aber gegen mich und gegen Vienotiba wurde eine riesige Schmutzkampagne inszeniert!" so offenbart sie in einem Interview bei der "Neatkariga" typische Politiker-Reflexe. Lato Lapsa, ein Journalist, bekannt dafür bald schon alle bekannten und erfolgreichen lettischen Politiker einzeln journalistisch aufs Korn genommen zu haben, hatte vor der Wahl eine "Sonderausgabe" einer selbst produzierten Zeitung mit dem Thema "Āboltiņa" aufgemacht.
Zur Kritik an angeblich häufigen Dienstreisen äussert sie (Auslandsreisen von Politikern gelten in der lettischen Öffentlichkeit häufig als vorgeschobener Grund, statt Arbeit zu Hause lieber eine schöne Zeit fern den lettischen Wählern zu verbringen): "Teilnahme an Konferenzen ist eine schwere Arbeit, das wissen alle die sich damit beschäftigen." (NRA)
Lato Lapsa will 25.000 Euro von einem "Straujuma-Block" innerhalb Vienotiba bekommen haben für eine Āboltiņa-kritische Wahlkampfzeitung. Bisher hat die Partei den Journalisten noch nicht verklagt. Am 6.Dezember ist "Vienotiba"-Parteikongress, bis dahin werden Entscheidungen fallen müssen.

Tendenzen, Zahlen, Trends
Eine andere Tendenz ist klar erkennbar: ins neue Parlament werden wesentlich weniger Frauen einziehen als bisher.
Andere Beoachter betonen, dass noch nie eine so hohe Prozentzahl der Wahlberechtigten auch eine Vertretung im Parlament bekommen habe: nur weniger als 5% haben ihre Stimmen Parteien gegeben, die nicht im Parlament vertreten sein werden (das waren auch schon mal 16%!).
Eine andere Rekordzahl:  23.116 Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen in einer Botschaft oder einem Konsulat im Ausland abgegeben - 2011 waren es noch 14.210, allerdings beim Referendum als es um Russisch als mögliche zweite Amtssprache ging waren es auch schon mal 40.000. In Deutschland stimmten 1680 Lettinnen und Letten ab (das war nach Großbritannien mit 7205 in Europa die meisten, in USA 2231).
Die Wahlauszählung in München wurde offenbar um Stunden verzögert, da hier kein Internet-Zugang verfügbar gewesen sei und die Ergebnisse auf anderem Wege übermittelt werden mussten (Bayern = Entwicklungsland?).

Für alle wählbar sein wollen - oder "allein in der Hundehütte"?
Und noch ein Wort auch zur "harmonischen" Saskaņa: die Gesamtzahl der Wahlberechtigten, die ihr die Stimme gaben, sank um nicht weniger als ein Fünftel - auch wenn knapp noch die meisten Mandate aller Parteien dabei herauskamen. Der Rückgang belief sich auf alle Bezirke: in Latgale um -31%, Riga -5%, zwei ihrer bisherigen "Hochburgen". Laut Untersuchungen der Agentur "Latvijas Fakti" sollen die Stimmen pro Saskana diesmal zu 20% von Lettinnen und Letten gekommen sein, beim vorigen mal seien es nur 10% gewesen. Ethnische Russen, befragt danach, welche Partei ihrer Meinung nach am ehesten die Interessen der Russischsprachigen berücksichtigt, antworten zu 2-3% "die Nationale Liste", 5-9% "Vienotiba", 10% äußern sich zugunsten der GrüneBauernListe.
Fällt in Lettland offenbar (noch)
nicht unter ein Gesetz
der (strafbaren) Verunglimpfung
von staatlichen Symbolen:
Logo der "Suņu būda"

Auch der "Faktor Internet" spielte im lettischen Wahlkampf eine Rolle. Artuss Kaimiņš, eigentlich Schauspieler, wurde durch seine schlicht bei Youtube im Internet eingespielten Sendungen mit dem Titel "Suņu būda" ("Hundehütte") bekannt und erreicht Zugriffszahlen bis zu 30.000 pro Sendung. Markenzeichen ist bisher, sich an möglichst wenig Regeln zu halten, Studiogäste eher zu kritisieren, offen zu "verarschen" oder gar durch heimliche Aufnahmen bloß zu stellen, und dies als Markenzeichen einer "offenen, ehrlichen und direkten Sprache" zu verkaufen, mit Hilfe von Sponsoren aus dem Bereich der Alkoholindustrie, die ja anderswo Einschränkungen der Werbemöglichkeiten hinnehmen müssen. Abzuwarten bleibt was nun passiert, wenn Kaimiņš zum Parlamentarier wird. Er kandidierte auf einem hinteren Rang der Regionalpartei LRA, und wurde mit der Rekordzahl von 71,9% der Wähler dieser Partei nach ganz vorn gespült (erzielt damit mehr "Pluszeichen" als 2011 Valdis Dombrovskis, den als Regierungschef damals 71,7% seiner Wähler besonders hervorhoben). So entstand bei der LRA die kuriose Situation, dass offenbar viele bis auf die beiden Namen "Bondars" und "Kaimiņš" auf der gewählten Liste alle anderen Namen strichen - also die übrigen NRA-Abgeordneten von den eigenen Wählern mehr Minus- als Plus-Zeichen bekamen.

Für die nächsten Monate hat Regierungschefin Straujuma eines bereits klarzustellen versucht: sie möchte nicht während der lettischen EU-Ratspräsidentschaft (erste Jahreshäfte 2015) über Ministerrücktritte diskutieren müssen - wenigstens das. Regierungsbildung? Alles wie gewohnt, Frau Straujuma - also dann! 

5. Oktober 2014

Gewohntes mit zwei Neulingen

Ergebnis der Parlamentswahlen Lettland 2014 - 4.10.2014











1.    "Latvijas attīstībai" - 8155 - 0.89%
       ("Für die Entwicklung Lettlands" - Vorsitzender: Einars Repše)

2.    "SUVERENITĀTE" - 1033 - 0.11%
        ("Souveränität")

3.    "Brīvība. Brīvs no bailēm, naida un dusmām" - 1735 - 0.19% (Ergebnis 2011=0,375%), ("Freiheit. Frei von Ängsten, Hass und Wut")

4.    "VIENOTĪBA" - 199535 - 21.87% - 23 Sitze (Ergebnis 2011=18,829%, 20 Sitze), ("Einigkeit" - Vorsitzende Solvita Āboltiņa)

5.    "POLITISKĀ PARTIJA IZAUGSME" -     1515 - 0.17%
       ("Partei Wachstum" - Vorsitzender Andris Skride)

6.    "Vienoti Latvijai" - 10788 - 1.18%
       ("Einig für Lettland" - Vorsitzender Ainārs Šlesers)

7.    Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!"-"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK" - 151568 - 16.61% - 17 Sitze (Ergebnis 2011= 13,880%, 14 Sitze), (Nationale Vereinigung "Alles für Lettland! - "Für Vaterland und Freiheit/LNNK" - Vorsitzender Raivis Dzintars)

8.    Latvijas Reģionu Apvienība - 60812 - 6.66% - 8 Sitze
       ("Lettischer Verband der Regionen" - Vorsitzender Mārtiņš Bondars)

9.    Jaunā konservatīvā partija - 6389 - 0.7%
       ("Neue Konservative Partei" - Vorsitzender Jānis Bordāns)

10.  "Latvijas Krievu savienība" - 14390 - 1.58% (Ergebnis 2011=0,776%)
 ("Lettlands Union der Russen" - Vorsitzende Miroslavs Mitrofanovs, Jakovs Pliners, und Tatjana Ždanoka)

11.  "Saskaņa" sociāldemokrātiskā partija - 209885 - 23.0% - 24 Sitze (Ergebnis 2011=28,362%, 31 Sitze), (Sozialdemokratische Partei "Einklang" / "Harmonie", Vorsitzender Nils Ušakovs)

12.  Zaļo un Zemnieku savienība - 178212 - 19.53% - 21 Sitze (Ergebnis 2011=12,216%, 13 Sitze), ("Vereinigung der Grünen und Bauern" - Vorsitzender Uldis Augulis)

13.  No sirds Latvijai - 62521 - 6.85% - 7 Sitze
       ("Von Herzen für Lettland" - Vorsitzende Inguna Sudraba)

Zahlen gemäß dem vorläufigen amtlichen Endergebnis (vom 6.Oktober).
Wahlbeteiligung:  913.491 der landesweit 1.552.235 Wahlberechtigen nahmen teil, das sind 58.85% (2011 waren es 59,45%).

Damit würden folgende Parteien im Parlament vertreten sein: "Saskaņa", "VIENOTĪBA", Zaļo un Zemnieku savienība, Nacionālā apvienība VL/TB,  Latvijas Reģionu Apvienība, No sirds Latvijai (die beiden letztgenannten erstmalig).
Für die Sitzverteilung und die Entscheidung, wer einen Sitz errungen hat, müssen noch die "Plus und minus" ausgezählt werden - jede Wählerin und jeder Wähler kann auf der Liste seiner Wahl Kandidaten durch ein "plus" bevorzugen oder durch "minus" zurückstellen; erst danach errechnet sich die Rangfolge der Bewerber/innen.

Vorläufige Liste der ins Parlament gewählten Kandidatinnen und Kandidaten

1. Oktober 2014

Flüchtige Wähler

Jagd nach dem migrierenden Wähler: 99 Wahllokale
in 42 Staaten hat das lettische Außenministerium
einrichten lassen
Nicht immer hat ein Wahlkampf um lettische Parlamentssitze auch in Deutschland Aufmerksamkeit gefunden - eigentlich noch nie so wirklich. Gut, die Ergebnisse werden in schöner Regelmäßigkeit verkündet, vielleicht mit einem Beisatz ob der Regierungschef nun eher als konservativ oder als sozialdemokratisch einzustufen ist. Das lettische Parteiensystem hat nun mal seine Besonderheiten, und selten werden lettische Wahlkampfthemen ins Deutsche übersetzt.

Für den laufenden Wahlkampf (Parlamentswahlen am 4.Oktober) gelten einige Besonderheiten. Vor allem haben sie mit dem starken Engagement Russlands in der Ukraine zu tun, die vom Westen - analog zu der nun an die Macht gekommenen ukrainischen Regierung -  als Einmischung verstanden wird.

Strategien und Rochaden
Jedenfalls ist auf lettischer Seite ähnliche Nervosität zu spüren wie vor dem Referendum vom 18.Februar 2012, als es darum ging, mit möglichst eindrucksvoller Mehrheit für längere Zeit die Möglichkeit auszuschließen, dass Russisch wieder zur zweiten Amtssprache werden könnte. 79,2% Lettinnen und Letten, die eine Wahlurne im Ausland aufsuchten, sprachen sich dagegen aus. - Aus Sicht der Anhänger der gegenwärtigen Regierungsparteien war dies sicherlich einer der drei wichtigsten politischen Schritte der vergangenen Jahre. Es steht in einer Reihe zusammen mit der Zurückweisung der sogenannten "Oligarchenparteien" im Zusammenhang mit den von Ex-Präsident Zatlers veranlassten außerordentlichen Neuwahlen 2011, die für sämtliche der von Ainārs Šlesers, Aigārs Lembergs und Andris Šķēle unterstützten und finanzierten Parteien negativ ausgingen und eine Regierung ohne sie gebildet werden konnte. "Sparfuchs" und Europa-Vorbild Dombrovskis schien unbeirrbar Kurs zu halten - auch wenn davon immer noch wenige Lettinnen und Letten so profitieren, dass sie sich ein Auskommen erarbeiten können und sozial besser abgesichert wären. Dann kam der Supermarkt-Einsturz von Zolitude. Und ob diese Rochade - Dombrovskis nimmt seinen Hut, verabschiedet sich aber als EP-Abgeordneter nach Brüssel - Erfolg haben wird, ist äusserst unsicher. Zwar gelang es in ungewöhnlicher Weise, bei den Europawahlen gleich 46,19% der Wählerstimmen auf die Regierungspartei "Vienotiba" (Einigkeit) zu vereinen und vier der acht lettischen Sitze im Europaparlament zu sichern - aber bei einer Wahlbeteiligung von nur sehr knapp über 30% ist das alles andere als ein sanftes Ruhekissen, und auch kein Ruhmesblatt. So muss sich die "reinroutierte" neue Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma im laufenden Wahlkampf immer wieder fragen lassen, ob sie denn wirklich für den Posten der Ministerpräsidentin auch für eine neu zu bildende Regierung zur Verfügung stehen wird. Vieles, was an Themen im aktuellen Wahlkampf eine Rolle spielt, wird - wie in alten Zeiten der frisch errungenen Unabhängigkeit in den 90er Jahren - nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Strategie einer Einflußnahme Moskaus gesehen.

Grabenkämpfe
So sieht es zunächst also wiedermal nach einem Wahlkampf der "zwei Lager" aus. Auf der einen Seite die gegenwärtigen (größtenteils lettisch orientierten) Regierungsparteien - "Vienotiba" (Einigkeit), "Liste der Grünen und Bauern" und die Nationalisten. Auf der anderen Seite die "Saskana" (Einklang) mit "Frontmann" und Bürgermeister Nils Ušakovs, dazu als Konkurrent um die Stimmen der russophilen Russischsprachigen die "Krievu Savieniba" ("Russische Vereinigung") - zwar mit neuem, sachlich klingendem Namen ausgestattet, aber immer noch mit der aus glorrreichen Sowjetzeiten rübergeretteten "ewigen Tatjana" (Zdanoka) als Retterin der Krim und der lettischen Unterstützung für Groß-Russland. Gibt es denn wirklich (auf der einen Seite) keine lettischen Sozialdemokraten und (auf der anderen Seite) keine konservativen, demokratisch an einem freien Lettland orientierten Russen? Offenbar zu wenige, um sich im Parteiensystem entscheidend bemerkbar zu machen.

Sogar der Riga-Schriftzug an den Zufahrten zur Stadt
wurde zum Wahlkampfthema: das stadtwappen-farbige
Herzchen wurde als Versuch der Annährung an
Russland gewertet, gleichzeitig als Nichtachtung
des Künstlers der den Schriftzug geschaffen habe.
Manch eifriger Aktivist betätigte sich als nächtlicher
Umgestalter und färbte das Herzchen in
nationalfarben-rot ...
Neu ist die Nervosität der Regierungsparteien den anderen lettischorientierten Parteien gegenüber. Zahlreiche Appelle, auf lettischen Portalen wie international orientierten Netzwerken, wollen Lettinnen und Letten davon überzeugen, mit einer Tradtion bzw. einer Gewohnheit zu brechen: nicht mehr einen einzelnen vermeintlichen "Gutmenschen" zu wählen - ganz egal welcher Partei er oder sie angehört - sondern nun schlicht die Stimmenmehrheit der bisherigen Regierung zu sichern.
"Kleinstparteien diskreditieren ernsthafte Politik und verschärfen die Skepsis der Gesellschaft gegenüber der Politik als solche" (Māra Zālīte, Schriftstellerin, in einer Wahlkampfzeitung). Auch für Nichtwähler hat die einstige Führungsfigur der Unabhängigkeitsbewegung wenig übrig: "Die Unabhängigkeit haben wir mit unserem Schweiss und Blut erkämpft. Jetzt nicht wählen zu gehen, das ist wie ein Verbrechen gegen den eigenen Staat!"

Die einzige (der kleineren und neu gegründeten) Parteien, die gemäß den neuesten Umfragen den Sprung ins Parlament schaffen kann - Ex-Rechnungshofchefin Inguna Sudraba mit ihrer Partei "von Herzen für Lettland" (nun ja, prosaische Namen haben sie fast alle ...), wird dem entsprechend heftig angegriffen. Für die bisherigen Spitzenpolitiker ist sie unangenehm - aus einer für unbestechlich gehaltenen, unabhängigen, energischen Frau mit eigener Meinung wird so schnell eine politische Gegnerin, für die kein gestreutes Gerücht zu schade zu sein scheint, um ihr heimliche Kontakte nach Russland zu unterstellen. Dennoch liegt "die Silberne" (sudrabs = lett. silber) in Umfragen stabil über 5%.
Immerhin zeigen sich vier Tage vor den Wahlen immer noch etwa 15% in Umfragen als unentschlossen. Dazu gibt es Berichte, dass Befragte absichtlich nicht die Partei ihrer Wahl angeben, um sich nicht politisch festlegen zu müssen - das birgt große Chancen für einige Überraschungen am Wahltag.

Blick aus dem Westen
Wie erwähnt - gegenwärtig sind es erstaunlich viele Berichte deutschsprachiger Medien schon im Vorfeld der lettischen Parlamentswahlen. Fast alle nehmen dabei den Faktor der russischsprachigen Minderheit in Lettland als Grund für die Berichte. "Zum Glück sind wir Mitglied in EU und NATO" zitierte das ARD-Europamagazin lettische Quellen, um dann über junge Männer aus dem Osten Lettlands zu berichten, die sich den Pro-russischen Verbänden in der Ukraine angeschlossen haben und damit daheim zweifelhafte Berühmtheit erlangten. Und auch die Anwesenheit einer deutschen Fernsehkamera bei einer lettischen Debatte unter Lokalpolitikern dürfte bisher einmalig für deutsche Fernsehzuschauer sein (plus Interviews mit Vertretern verschiedener Parteien).
Harmlos unbedarft dagegen der ZDF-Bericht vom 5.9. in "Heute in Europa", wo EP-Parlamentarierin Zdanoka, damals wahrscheinlich frisch zurück von ihrer Unterstützerreise für eine russische Krim, hier wie zufällig als entschiedene Verteidigerin benachteiligter lettischer Russen vorgestellt wird.
Im WDR-Hörfunk werden sogar noch zusätzliche Legenden geknüpft - offenbar passt es gerade gut. Nachdem (fast bedauernd!) festgestellt wird, für die Letten stünden "EU, NATO und Euro" für Sicherheit, wird gleich anschließend behauptet: "Die russische Minderheit jedoch – immerhin ein Drittel der Bevölkerung – sieht das ganz anders." Offenbar sind die deutschen Kommentatorinnen hier den eingeschliffenen Phrasen derjenigen Parteifunktionäre auf den Leim gegangen, die auch immer gern "die Russen" als monolithischen Block sehen würden, mit nur einer einheitlichen Meinung. Zum Glück ist die Realität anders, wie man sich leicht denken kann.

Auch die "Tiroler Tageszeitung" mag nicht nachstehen und bietet mehr: eine Liste der "wichtigsten lettischen Parteien", erstmals fast alle dreizehn Listen. Und hält es zudem eine Schlagzeile wert, dass nun doch Alt-Oligarch Lembergs gerne Regierungschef werden möchte. Erstaunliche Details! Die "Berliner Morgenpost" konstatiert "alte Wunden" und fokussiert auf die Möglichkeit, Putin könnte Lettland nach dem "Modell Ukraine" gestalten wollen. Sogar die Computerfreunde von "Heise.de" meinen eine "Ukraine in Klein" in Lettland zu erkennen, und auch die "Neue Züricher" sieht "Schatten der Ukraine" über Lettland. Dagegen schreibt der sonst ausführlicher berichtende "Standard" etwas hektisch "russischsprachige Partei in Umfragen vorn" - und unterstellt damit, im lettischen Parlament würde nicht von allen lettisch gesprochen werden.
Irgendwie kommt mir - und wahrscheinlich nicht nur mir - diese plötzliche Aufmerksamkeit nicht ganz geheuer vor. Aber zumindest bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses wird das Interesse ja vielleicht reichen - und die Ukraine ist ja auch noch nicht raus aus der Krise. Leider.