28. November 2016

Lettlands Trump Fan Nr. 1: ein Grüner

Bei den meisten politisch Interessierten in den baltischen Staaten rief die Wahl Donald Trumps zum US-Präsident und Nachfolger Barrak Obamas eher Besorgnis hervor - so bei Lettlands Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, die in einem Interview für den STERN Trumps Wahl als "Beleidigung für die amerikanische Demokratie" bezeichnet.
Ein Schulterschluß Trumps mit dem russischen Präsident Putin erscheint möglich - zumindest wenn man Trumps Wahlkampfreden zur Sicherheitspolitik wörtlich nimmt. Da fallen diejenigen um so mehr auf, die sich auf die Seite von Trump schlagen. Bei den pro-russischen Parteien verwundert dies nicht, also etwa bei der "Russischen Union" (Latvijas Krievu savienība), die schon die russischen Aktivitäten in der Ukraine unterstützte, oder vielleicht auch bei der oppositionellen "Saskaņa" ("Einklang"), die einen Kooperationsvertrag mit Putins "einiges Russland" abschloss. Als einer der ersten Pro-Trump-Stimmen in den Reihen der regierenden konservativen Koalition tat sich jetzt Edgars Tavars hervor, Vorsitzender der lettischen "Grünen Partei" (Zaļa Partija), und seit einigen Monaten auch Staatssekretär im Verkehrsministerium (NRA 10.11.)

Profiliert sich als Trump-Fan:
Grünen-Chef Edgars Tavars
"Trump inspiriert" - so betitelt die "Latvijas Avize" ein ausführliches Interview mit Tavars. Man müsse die Ereignisse auch im Zusammenhang mit dem Brexit, Großbritanniens Ausstieg aus der EU, sehen, meint der 34-Jährige Grünen-Chef, Inhaber mehrerer Baufirmen. "Das Wahlergebnis in den USA zeigt, dass die Welt wieder in die richtigen Bahnen kommt," lässt sich Tavars in einer Pressemitteilung seiner Partei zitieren. Mit Trump zeige sich, dass die von den Großmächten diktierte liberale Globalisierungspolitik an Kraft verliere, hofft Tavars. Erstaunlicherweise beruft sich Tavars bei dem, was er für die Zukunft wünschenswert hält, auf den lettischen Regisseur Alvis Hermanis - der in Deutschland zuletzt Aufsehen deshalb erregte, weil er seine Zusammenarbeit mit dem Thalia Theater in Hamburg wegen zu großem Entgegenkommen des Theaters Flüchtlingen gegenüber aufkündigte (Blog).

"Neuer Konservatismus" wird da ausgerufen, eine größere Rolle für die Nationalstaaten, und mehr Berücksichtigung lettischer Interessen in der Europäischen Union. Wie denn die Aussagen von Trump mit den Zielen seiner grünen Partei beim Klimaschutz zu vereinbaren sei, wird Tavars gefragt, der auch schon einmal Staatssekretär im lettischen Umweltministerium war. Nein, Trump bestreite nicht das Problem der Klimaerwärmung, behauptet Edgars T. - Trump wolle das Problem nur anders lösen. "Wir müssen uns für die Natur, und auch für das Volk einsetzen," meint Tavars, der im April zum zweiten Mal als Grünen-Vorsitzender wiedergewählt wurde. Mit 734 Mitgliedern ist die "Grüne Partei" Lettlands fünftgrößte Partei. Das Bündnis der Grünen mit der lettischen Bauernpartei (Latvijas Zemnieku Partija LZP) ist Teil der Regierungskoalition. Die lettische Grüne Partei feiert in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen.

25. November 2016

Kuh aus der Kindheit

Vor 11 Jahren stand die Herstellerfabrik im lettischen Skrīveri (Skrīveru Pārtikas kombināts - SPK) kurz vor der Pleite - es wäre das Ende vieler Kindheitserinnerungen gewesen. Zugegeben, modern gestylten Bonbons kleben nicht mehr im Mund, sind vielleicht nach Geschmack und Farbe optimiert. Aber die einfachen "Gotiņa's" (kleinen Kühe) waren einfach schon Jahrzehnte auf dem Markt - seit 1959 - in Notzeiten ebenso wie bei Familienfeiern, und als Probierportion für alle Gäste (besonders die aus dem Ausland). "Gotiņa's" aus Lettland wurden ab 1960 in die ganze Sowjetunion geliefert, in Blütezeiten mit bis zu 30 verschiedenen Fabrikationsstätten in ganz Lettland und 6000 Tonnen Exportwaren pro Jahr in die Sowjetstaaten.

Wo die Bonbonmasse noch mit Liebe gefaltet wurde:
ehemalige Līzuma Konfekt-Fabrik - gemeinsam
am runden Tisch
Seit der Beinahe-Pleite 2005 arbeitet "Skrīveru saldumi" nun mit neuem Konzept - und hat bisher überlebt. 2007 begann man auch Glasuren einzusetzen - eine Variante, für die nicht die teure Kakaobutter benötigt wurde. Zum Einsatz kam das zum Beispiel bei der Herstellung von Marzipanherzchen. Zur Einrichtung neuer Produktionsstätten im Stadtzentrum von Skrīveri, im Gebäude einer ehemaligen Molkerei und eines Käsewerks, mussten die Firmeninhaber Kredite aufnehmen, die noch heute abbezahlt werden müssen.

"Jeder Mitarbeiter verarbeitet, wenn er gut trainiert ist, bis zu 100kg der süßen Masse pro Tag," erzählt Dace Vītoliņa, eine der Filialleiterinnen bei "Skrīveru saldumi", in einem Interview für die Zeitschrift "IR". "Das ist körperlich anstrengende, aber auch physisch anspruchsvolle Arbeit, wir haben sogar Schwierigkeiten, hier die ausreichende Anzahl Mitarbeiter zu finden."
Es gibt neun Grundsorten der 'Gotiņas', aber zu Feiertagen und besonderen Anlässen werden auch neue Sorten angeboten. Heute arbeitet die Firma sogar mit ökologischen Zertifikaten: drei Sorten sind ganz aus Naturstoffen hergestellt, darunter die Sorten 'Walnuß' und 'Heidelbeere'. Gotiņa-Fans wie die Bloggerin Santa Ulnicāne wissen natürlich noch viel mehr Sorten aufzuzählen: mit Aprikosen, Pfefferminz, Sesam, Haselnuß, Kaffeegeschmack, mit Sonnenblumenkernen, oder sogar Zichorienwurzel (Wegwarte). Keine künstlichen Farb- oder Zusatzstoffe, ohne Konservierungsstoffe, Grundstoff: Milch aus Lettland - damit wirbt die Firma heute gern.

Nur wenige erinnern sich jedoch noch an den kleinen Ort Līzums, im Bezirk Gulbene weit im Nordosten Lettlands, wo die Produktion der "Kühchen" einst begann; ein Örtchen mit gerade mal 1400 Einwohnern. Hier kam die Milch der "lettischen Braunen" her, um in den 50iger Jahren dieses Produkt zu entwickeln.

"Auch heute noch bauen wir auf die spezielle Erfahrung unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen," berichtet Vorstandsmitglied und Miteigentümerin Iveta Audziša (e-Druva), die zusammen mit ihrem Mann Normunds 2005 in Līzums mit der Bonbonfabrikation begann, aufbauend auf ihre unternehmerischen Erfahrungen bei "SIA Dimdiņi" (Gemüse- und Kohlanbau). "Es braucht ein besonderes Gefühl dafür, wann die Bonbonmasse fertig ist. Einige unserer Meister haben daher schon dreißig, manchmal vierzig Jahre Erfahrung." In der Regel bleiben die frisch hergestellten Süßigkeiten bis zu zwei Monaten frisch. "Wer es länger frischhalten möchte, kann sie aber auch im Kühlschrank lagern," verrät Audziša.

Während der letzten Wirtschaftskrise tauchten auch Billigprodukte aus der Ukraine und aus Polen auf dem lettischen Süßwarenmarkt auf. In Skrīveri versucht man dennoch bei den handgemachten Produkten weitgehend zu bleiben. Trotz des vielfältigen Sortiments nehmen die Lebenmittelketten nicht alles in ihre Angebot auf - in fünf eigenen Firmenläden, vier in Riga und einer in Skrīveri, finden Kunden alle angebotenen Sorten vollständig.Auch der Regionalwerbung und dem Tourismus helfen einheimische Produkte - besonders gern werden "Gotiņas" in Latgale angeboten („Latgales gotiņa”). Nicht sehr viel Geld steckt die Firma in Werbekampagnen - man baut mehr auf direkte Kundenwerbung und auf Betriebsbesichtigungen von Schulklassen und Touristen. Ausbaufähig ist sicherlich der Export - obwohl es bereits Abnehmer gibt in Skandinavien, Irland, Deutschland und den beiden Nachbarn Estland und Litauen.

Und wer selbst noch nicht genug von Experimenten hat: manche Süßmäuler verbreiten auch einfache Rezepte zum Selbermachen: mit 6 Gläsern Zucker, ein Eßlöffel Kakao, 100g Butter, 2 Gläsern Milch und 3 Eiern. (idejukabata). Aber wer möchte schon den lettischen Bonbonmassenfaltern und -knetern die Arbeit wegnehmen?

11. November 2016

Was blieb von den Städtepartnerschaften?

ein Foto aus dem Jahr 2006
Bis noch vor 10 Jahren standen sie in der Altstadt sehr privilegiert - in Sichtweise des Domes. Allerdings optisch ein wenig schwerfällig, offensichtlich aus schwerem Metall gefertigt, die Beschriftung schlecht erkennbar. Wer sich bemühte, den Sinn des hier wie dunkle Wegweiser ins Ungewisse wirkenden Schilder zu entziffern, sah einige von Rigas Städtepartnerschaften hier öffentlich präsentiert. Vielleicht aber wirkte das klobige Monument auch eher wie eine Art Gedenkstätte - im Gegensatz dazu sind die Partnerschaften in den letzten zwei Jahrzehnten aber geradezu explodiert: inzwischen zählt Riga ganze 29 Städte auf allen fünf Kontinenten zu befreundeten Partnern.

Mit der Umgestaltung des Platzes, wo heute zahlreiche Sitzgelegenheiten den Genuß lauer Sommerabende im Freien ermöglichen, wurden auch die Schilder komplett abgeräumt (eingeschmolzen?). Aber eine Übersicht zur Zusammenarbeit Rigas mit ihren "Schwestern" ist nur schwer zu bekommen. So versucht es nun das Infoportal der Stadt im Internet mal mit den "Spuren", welche Städtepartner im Stadtbild Rigas hinterlassen haben. Der Begriff "Freundschaftsstadt" sei direkt nach dem 2.Weltkrieg entstanden, wird dort (in lettischer und russischer Sprachversion) erläutert; Idee sei der Erhalt des Friedens in der Welt gewesen. Zu ersten "Freundschaftsstädten" Rigas wurden in den 1960iger Jahren Rostock in der DDR und Pori in Finnland. Ohne Quellenangabe dann dort ein Zitat: "Mit den Städten ist es wie mit den Menschen - für jeden ist ein eigener Zugang nötig. Mit Erevan befreundete sich Riga sehr schnell, mit Kobe dauerte es mehrere Jahre." (Riga.lv)

Dann wird die Abteilung "gegenseitige Geschenke" beschrieben. "Die Rigaer Delegationen beschenken die Partner in der Regel mit Bilderalben oder traditionellen Souvenirs. Manchmal werden aber auch eindrucksvollere Geschenke hinterlassen", weiß das Portal. 1996 sei aus Kobe in Japan gleich ein ganzer Elefant in Riga angekommen; das sei kurz nach einem Erdbeben in Japan gewesen, bei dem 6000 Menschen ihr Leben verloren haben - der Elefant ein Symbol der Freundschaft. In Bremen-Mahndorf dagegen stehe ein Denkmal des "Sprīdītis", einer lettischen Märchenfigur, die der Bildhauer Bruno Strautiņš geschaffen habe, und manche Moskowiter verbringen heute noch ihre Zeit im "Rigaer Park", der sich in der Nähe des Stadtzentrums befinde.

bei Spaziergängen im
Stadtzentrum Rigas
kann man auch auf
Spurensuche zu
Rigas Partnerstädten
gehen: hier ein
Geschenk aus
Taschkent
Unübersehbar im Stadtzentrum Rigas auch die spitz zulaufende silberne Uhr nahe der Kunstakademie, die lettische und japanische Zeit anzeigt. Im Kronvalda Park steht ein traditioneller hölzerner Bogen aus Suzhouin China, und unübersehbar für alle Gäste der Stadt ist auch das Denkmal der Bremer Stadtmusikanten direkt neben der Petrikirche, von dem es heißt, man müsse den Tieren an die Nase fassen, um dass sich geheime Wünsche erfüllen.
Eher unscheinbar erscheinen da auf den ersten Blick die Sitzbänke, die ebenfalls in einem Park in Altstadtnähe zur Benutzung freistehen - ein Geschenk aus Armenien. Nahe der lettischen Seefahrtsakademie dann das Denkmal von Ulug Bek, dem Astronom, Mathematiker und Sultan aus Taschkent. Auch das Denkmal von Alexander Puschkin ist im Kronvalda Park zu finden, ein Geschenk aus Moskau. Nicht alle "Partnerschaftsgeschenke" sind so monumental. Eine wertvolle traditionelle Gesichtsmaske aus Kobe wird sorgsam in der Nationalbibliothek aufbewahrt.

Bei einem Rundgang durch Riga sind vielleicht noch mehr Spuren von Rigas vielfältigen internationalen Städtepartnern zu finden - allerdings muss die Frage auch erlaubt sein, ob 29 verschiedene "Städteschwestern" nicht auch zu ein wenig Irritation führen kann, ähnlich dem Effekt der langen Listen von "Facebook-Freunden", wo nur noch eine möglichst hohe Zahl Eindruck macht, aber in den meisten Fällen keine persönlichen Treffen mehr stattfinden. Da helfen oft auch keine Billigflieger: Kontakte knüpfen ist leichter geworden, aber was geht eigentlich noch über Stehempfänge und gegenseitige Kurzbesuche hinaus? Wie wäre es, wenn alle Bürgerinnen und alle Bürger der betroffenen Städte jederzeit gemeinsam Projekte entwickeln könnten, und dabei Unterstützung bekämen?

Die einen erhoffen sich in erster Linie gute Geschäfte (also Business, möglichst mit finanziellen Vorteilen) - so wie die kürzliche Rigaer Konferenz mit 45 Unternehmern aus Chile. Andere nutzen gemeinsam vielleicht besseren Zugang zu den Fördertöpfen der Europäischen Union. Wieder andere, besonders ehrenamtlich Aktive in Sport- und Kulturvereinen, erhoffen sich Austauschmöglichkeiten, Gastauftritte und Teilnahmemöglichkeiten bei Wettbewerben. In Zeiten sozialer Not sind Hilfslieferungen und Spendenaktionen auch zwischen Partnerstädten geübte Praxis. Innerhalb der EU sind wenigstens die Studienmöglichkeiten heute ja bereits geregelt - und bedürfen keinen besonderen Städtebeziehungen mehr (bis auf Ausnahmen besonderer Forschungsprojekte). Und aus Rigaer Sicht muss bei manchen vielleicht immer noch daran erinnert werden, dass die Zeit sozialistisch-sowjetischer Parolen wirklich vorbei ist, und auch Städtepartnerschaften heute eine Sache aktiver Bürgerinitiativen sein kann - und nicht nur für "Funktionäre" da ist.

Zur Zukunft und zu Perspektiven von Rigas vielen Städtepartnerschaften sagt das stadteigene Internetportal übrigens nichts -  entweder man hält wohl den Nutzen für selbstverständlich, vielleicht hat man auch längst interne Prioritäten innerhalb der Partnerschaften entwickelt und sagt davon nichts. Solange sie existieren, kann aber wohl nur zu verstärkter Nutzung dieser "Beziehungsdrähte" aufgerufen werden.

Rigas Städtepartner:

in Deutschland: Rostock (seit 1974, 1991 erneuert), Bremen (seit 1985, 1992 erneuert)
in Europa: Amsterdam (seit 2003, seit 2011 vertraglich), Bordeaux (seit 1993), Florenz (seit 2004), Norköping (seit 1988, erneuert 2014), Aalborg (seit 1990), Pori (seit 1946, 2011 erneuert), Stockholm (seit 1998), Tallinn (seit 2005), Tartu (seit 2005), Vilnius (seit 2005), Warschau (seit 2002).
im östlichen Europa und Asien: Almaty (seit 1998), Astana (seit 1998, bekräftigt 2006), Jerevan/Erivan (seit 2013), Kiew (seit 1998), Kobe (seit 1974, erneuert 1991), Moskau (seit 2001), Minsk (seit 1999), Peking (seit 2004), St.Petersburg (seit 1997, erneuert 2006), Suzhou (seit 1997, bekräftigt 2003), Taipeh (seit 2001), Taschkent (seit 2004), Tblissi (seit 2007)
in Nord- und Südamerika: Dallas (seit 1990), Santiago de Chile (seit 1997)
in Australien: Cairns (seit 1990, bekräftigt 2013)

7. November 2016

Dann kannste über Skanste zum Friedhof

Mit Planungen zum Öffentlichen Nahverkehr in Riga müssen Bürgermeister vorsichtig sein - davon konnte schon Alfreds Rubiks erzählen, Rigas Bürgermeister von 1984 bis 1990. Rubiks plante Riga mit einem Netz von U-Bahnen auszustatten - was eine riesige Protestbewegung dagegen auf den Plan rief, trotz Schikanen und Einschränkungen des damaligen Sowjetsystems. Denkmalschützer sahen schon die Mauern Alt-Rigas einstürzen, falls eine Untergrundbahn gebaut werde, die lettische Umweltschutzbewegung feierte damals Höhepunkt auf Höhepunkt: die Sowjetfunktionäre mussten aufgeben oder wurden abgesetzt, Lettland erkämpfte seine Unabhängigkeit.

Solche Zeiten möchten einige der wenigen heute noch verbliebenen Umweltaktivisten gerne wieder aufleben lassen. Und auch heute ist wieder ein Thema des öffentlichen Nahverkehrs gefunden: die Planungen der Stadt zu einer neuen Straßenbahnlinie. Das Projekt wiederspreche "den ethischen Normen, so wie sie die Letten verstehen", meint Elita Kalniņa, Vizepräsidentin des "Vides Aizsardzības kluba VAK" (Umweltschutzklub), eine Aktivistin auch noch aus Rubiks Tagen.

Am 11.Oktober beschloss eine Mehrheit im Rigaer Stadtrat mit einer Mehrheit von 34 gegen 15 Stimmen ein Projektvorhaben zur Schaffung einer neuen Straßenbahnlinie, nach dem zu durchquerenden Ortsteil "Skanstes Linie" genannt (lsm) - dem ersten Erweiterungsvorhaben für die Straßenbahn seit 1984. Durchführen soll das Projekt "Rīgas satiksme”, das städtische Verkehrsunternehmen. Für die 3,6km langen Strecke, die zu bauen etwa 100 Millionen Euro kosten soll, sollen auch 12 neue Niederflurstraßenbahnen angeschafft werden. Einziges Manko: es fehlt bisher die detaillierte Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, also der Öffentlichkeit. Und: notwendig wird auch eine Verbreiterung der Senču iela um etwa 10 Meter. Symbolischer könnte der Name dieser Straße kaum sein: die "Straße der Vorfahren" führt nämlich durch das Areal des "Großen Friedhofs", der Hauptumstand, der Gegner auf den Plan ruft.

Schnell hatten sich im Internet die "Lielo-Kapi-draugi" (Freunde des Großen Friedhofs) zusammengeschlossen (Facebook), ein Protestschreiben an Regierung und Präsident wurden aufgesetzt, auf dem Abstimmungsportal "Mana Balss" (Meine Stimme) fand dieser Brief über 1600 Unterstützer gegen die "Friedhofs-Straßenbahn". Die Gegner zweifeln dabei die Behauptung der Planer an, die Totenruhe keines einzigen Grabes stören zu wollen, und bezeichnen das Gebiet als Ort an dem "viele Helden und große Geister Lettlands" beerdigt seien - also richte sich das Projekt gegen "Lettlands Identität und Geschichte". Am beeindruckendsten aber ist die Unterstützerliste der Gegner: Dainis Īvāns, Ex-Volksfront-Aktivist und Leitfigur der Unabhängigkeitsbewegung, Valters Nollendorfs, Leiter des Lettischen Okkupationsmuseums, weiterhin zahlreiche Schriftsteller, Journalisten, und Denkmalschützer; stolz wird auch die Unterschrift von Werner von Sengbusch vermeldet, als "Ur-Ur-Ur-Enkel eines Rigaer Bürgermeisters" gefeiert. Ja, neue "Atmoda-Identität", danach sehnen sich offenbar viele.

Allerdings muss wohl gesagt werden, dass 1600 Protestunterschriften noch nicht besonders viel sind: auf "Mana balss" bekamen andere Initiativen, wie etwa für kostenloses Mittagessen in Kindergärten, für steuerfreie Renten, die Direktwahl des Präsidenten, oder häufigere technische Überprüfungen bei PKWs jeweils mehr als das sechsfache davon.

Und auch die Straßenbahn-Ausbaufans machen mobil. Der Ortsteil Skanste bekam gleich so etwas wie eine neue "korporative Identität" verpasst: neues Logo, schicke neue Webseite.
Mit eigenen Karten und Zeichnungen versucht man aufzuzeigen, wie wenig die Straßenbahn die lettischen Helden stören wird: George Armitstead, auch ein früherer Bürgermeister, "liegt" noch am nächsten dran: 36,5 Meter. Zu den Gedenkstätten von Krišjānis Valdemārs und Krišjānis Barons seien es aber mehr als 400 Meter Entfernung (siehe Riga.lv). Die Proteste bezeichnen die Befürworter als "lettischen Halloween-Spuk". Bereits 2012 seien die Planungen für das Projekt angelaufen, mit öffentlichen Anhörungen 2013, im Rahmen der Entwicklung der nachhaltigen Strategie "Riga2030". 574 Eingaben habe es damals gegeben, 277 davon seien in die endgültige Planversion aufgenommen worden. 

Rigas "Lieli Kapi" heute: fast wie ein Wald, mit
Spuren und Resten von Gräbern hier und dort
Doch die Diskussion ist noch nicht zu Ende, ob es nun einer weiteren umfangreichen Beteiligung der Öffentlichkeit bedarf oder nicht. Politiker/innen wie Europa-Parlamentarierin Sandra Kalniete versuchen sich inzwischen an die Sache dranzuhängen, um sich auf jeden Fall als "auf der richtigen Seite stehend" vorzuzeigen. Rigas Ratsmehrheit möchte sich 70 Millionen Euro finanzielle Unterstützung aus EU-Fördertöpfen sichern, und die gäbe es angeblich nur, wenn es zügig umgesetzt wird. Nationalkonservative Politiker, wie der Staatssekretär im Umweltministerium Jānis Eglīts fordern ein öffentliches Anhörungsverfahren in dieser Sache. Dem wiederspricht Emīls Jakrins, Vorsitzender des Verkehrsdezernats der Stadt: ein Planungsverfahren für den Stadtteil habe es ja bereits gegeben, und nur für die folgenden Einzelmaßnahmen sei das nicht erneut nötig (lsm). Und inzwischen hat Rigas Bürgermeister Nils Užakovs, ermutlich auch aufgrund der für manche überraschend plötzlich erhöhten Aufmerksamkeit für das Straßenbahnprojekt, einen Ideenwettbewerb zur Entwicklung des "Großen Friedhofs" als denkmalgeschützes Kulturareal ausgerufen; an einem ersten Gespräch zu diesem Thema nahmen teil Kulturminsterin Dace Melbārde, der Sekretär der lettischen ev.-luth. Kirche Romāns Ganiņš, und Juris Dambis, Leiter der staatlichen Inspektion zum Schutz der Kulturdenkmäler.

Weht nun auch in Riga - neben dem heftigen Schneefall, der inzwischen niederging - auch der leichte Hauch des postfaktischen Zeitalters? Manche mögen es so sehen. Es gibt auch kritische Bürgergruppen, die sich um einen Vergleich der Argumente beider Seiten bemühen (siehe "pilsēta cilvēkiem"). Für andere ist es nur einer von vielen Versuchen, dem russischstämmigen Bürgermeister und den ihn stützende Parteien - die im lettischen Parlament Teil der Opposition sind - endlich und endgültig eine schlechte Amtsführung nachweisen zu können: für den 3.Juni 2017 sind die nächsten Stadtratswahlen angesagt.